Über die Speisung von Schulkindern

Über die Speisung von Schulkindern sprach sich unlängst in der „Voss. Ztg.“ Stadtrat Dr. Münsterberg-Berlin aus. Er verlangt u. a. die sorgfältigste Prüfung der Lebensverhältnisse der Familie in jedem einzelnen Fall. Und diese Prüfung — sagt er — führt vielleicht zu ganz anderen Ergebnissen als nur dem, die Schulspeisung der Kinder zu fördern. Man wird, wenn man diese Verhältnisse einmal genau und auf wirklich statistischer Grundlage prüft, wahrscheinlich die Wahrnehmung machen, dass die große öffentliche Gefahr gar nicht so sehr in dem Mangel eines warmen Mittagessens für eine im Verhältnis gar nicht so sehr große Zahl von Schulkindern beruht, sondern dass ganz allgemein die Ernährungsverhältnisse der unteren Volksklassen vieles zu wünschen übrig lassen. Man wird zu der Wahrnehmung geführt werden, dass zahlreiche Familien bei den steigenden Anforderungen, die die Wohnungsmiete stellt, dem normalen Ernährungsbedürfnis nicht mehr gewachsen sind, wenn gleichzeitig wie gegenwärtig die Preise der Lebensmittel eine außerordentliche Steigerung erfahren haben. Man wird die Wahrnehmung machen, dass die Arbeitszeit vielfach so ungünstig liegt, dass sie den arbeitenden Frauen die Sorge für die Mahlzeit sehr erschwert, und dass überhaupt eine verhältnismäßig viel zu große Zahl von Frauen durch die Notwendigkeit von Außenarbeit dem Haushalt und der Sorge für ihre Kinder entzogen wird. Damit geht Hand in Hand der Mangel häuslicher Unterweisung der Kinder weiblichen Geschlechts, die, wenn sie selbst Hausfrauen geworden sind, eine einfache und billige Kost nicht zu bereiten verstehen. Kurz, man wird, um nur einiges Wenige anzudeuten, immer nur auf die tieferen wirtschaftlichen und sozialen Gründe der Zustände der arbeitenden Klassen zurückgeführt werden, die weit über die Frage der Schulspeisung hinaus die öffentliche Aufmerksamkeit herausfordern müssen; man wird sich bewusst werden, dass die Beseitigung des größeren Übels die des kleineren von selbst zur Folge haben muss.

Da aber die Beseitigung dieses kleineren Übels selbstverständlich nicht warten kann, bis dem größeren abgeholfen ist, so wird man der Prüfung des Einzelfalles bis dahin nicht entraten können. Und gerade auch hier wird sich zeigen, wie sehr verschieden die Verhältnisse liegen und möglicherweise ganz andere Maßregeln in Frage kommen, als die der bloßen Schulspeisung. Es wird keineswegs immer nur der Mangel an Mitteln sein, der die Ernährung der Kinder hindert. Man wird auf Verhältnisse treffen, in denen die Verwahrlosung der Familie so weit fortgeschritten ist, dass die Übernahme der Kinder in Waisenpflege oder ihre Unterbringung in Fürsorgeerziehung geboten erscheint. Es wird sich zeigen, dass die Familie bereits aus öffentlichen Armenmitteln unterstützt wird und diese Unterstützung entweder nicht richtig angewendet wird, oder nicht ausreichend ist, so dass ihre Erhöhung ins Auge zu fassen ist. Man wird mannigfache Fälle ermitteln, in denen Liederlichkeit und Arbeitsscheu des Familienhauptes dazu geführt haben, dass den Kindern die Nahrung nicht beschafft wird, und dass hiergegen eingeschritten werden muss, wenn eine Besserung erzielt werden soll. In anderen Fällen wird man Krankheit der Mutter, nicht selten auch Krankheit der Kinder aufdecken, denen in erster Linie durch krankenpflegerische Versorgung zu helfen ist. Man wird aber nicht minder auf eine nicht geringe Zahl von Fällen stoßen, wo einfach Sorglosigkeit und der Verlass auf die Hilfe der Armenpflege oder der Privatwohltätigkeit dazu führen, die Pflichten gegen die Kinder zu vernachlässigen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908