Über den körperlichen Zustand von Proletarierschulkindern

Über den körperlichen Zustand von Proletarierschulkindern wurde nach einer Mitteilung der „Dtsch. med. Wochenschr.“ auf der Tagung der Vereinigung niederrheinisch-westfälischer und südwestdeutscher Kinderärzte in Wiesbaden (April 1907) referiert. Der Vortragende hat 242 schulpflichtige Insassen des Düsseldorfer Städtischen Pflegehauses hinsichtlich ihres körperlichen Zustandes genau untersucht. Das vorliegende Material weicht von dem Typus des normalen Schulkindes wesentlich ab, insofern, als es den tiefsten Schichten des großstädtischen Proletariats entstammt. Es handelt sich teils um Waisen, teils um solche Kinder, welche von ihren Eltern verlassen wurden, teils um die Abkömmlinge solcher Eltern, welchen das Erziehungsrecht entzogen wurde. In etwa 180 Fällen ließ sich feststellen, dass Vater oder Mutter oder auch beide dem Trunk ergeben waren, vagabundierten, gewerbsmäßige Unzucht trieben oder sich in einer Straf- oder Irrenanstalt befanden. Immerhin waren die Kinder trotz dieser schweren hereditären Einflüsse imstande, eine normale Volksschule zu besuchen. Charakteristisch an dem körperlichen Zustande war, dass die mannigfachsten Merkmale körperlicher Minderwertigkeit und der Vernachlässigung sichtbar waren. Fast alle hatten rachitische Knochenveränderungen, multiple Drüsenschwellungen; ein großer Prozentsatz hatte mehr oder minder ausgesprochene Anzeichen von Tuberkulose. Besonders kennzeichnend für den vorliegenden Kindertypus war aber, dass der konstitutionelle Gesamteindruck bei Knaben und Mädchen durchaus verschieden war, und zwar zu Ungunsten der ersteren. Die Knaben waren fast durchweg in einem elenden Ernährungszustand mit missfarbener, schlaffer, trockener Haut, während der überwiegende Teil der Mädchen befriedigend ernährt war und eine frische, elastische Hautbedeckung aufwies. Auch bei längerer Anstaltspflege war das Befinden der Knaben nur schwer im günstigen Sinne zu beeinflussen. Die Ursachen dieses verschiedenartigen Verhaltens bei Knaben und Mädchen sind nicht ohne weiteres klar.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908