Hungernde Schulkinder in Berlin

Hungernde Schulkinder in Berlin. Wie die Tagesblätter meldeten, hat unlängst der Schularzt Dr. Bernhard in einer Sitzung des Berliner Vereins für Schulgesundheitspflege seine Erfahrungen mitgeteilt über die Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindeschüler. Seine Beobachtungen erstreckten sich auf 8.451 Schulkinder. Von diesen waren in der Woche insgesamt ohne häusliches Frühstück 578. Appetitlosigkeit der Kinder, die einer gewissen Nervosität entspricht, bildete eine Hauptursache, in einer sehr erheblichen Anzahl von Fällen auch Nachlässigkeit. Fernere tief bedauerliche Gründe sind aber:

gewerbliche Arbeit vor der Schule, Krankheit der Mutter und Armut. Ein erheblicher Prozentsatz der Gemeindeschulkinder muss sich, wie weiter festgestellt ist, mit einem überaus spärlichen Ersatz für das Mittagbrot begnügen. Stullen, Brötchen und Kaffee müssen den Magen über das fehlende Mittagessen hinwegtäuschen. Recht groß ist die Zahl der Kinder, die erst abends ihre Hauptmahlzeit einnehmen. Von vieren weiß diese Statistik sogar zu melden, dass sie überhaupt kein eigentliches Mittagbrot erhalten.


Dieselbe Materie hat dann vor kurzem der Berliner Verein für Kindervolksküchen in einer besonderen Denkschrift, betitelt: „Zur Frage der Speisung notleidender Schulkinder“, der breiten Öffentlichkeit vor Augen gestellt. Man ersieht daraus, dass bis Ende November seitens der Berliner Lehrerschaft dem Vereine rund 9.000 Kinder angemeldet wurden, die zu Hause kein Mittagbrot erhalten und von denen der Verein nun rund 5.000 in seinen, in der Peripherie der Stadt gelegenen 14 Küchen täglich speist. Es bleiben also wenigstens 4.000 Kinder unberücksichtigt, weil es dem Verein, der in 14 Jahren seines Bestehens nicht weniger als 565.000 Mark aufgebracht und diese Summe zum Unterhalt seiner Kindervolksküchen verwendet hat, an genügenden Mitteln fehlt.

Diese traurigen Verhältnisse mögen wohl die Veranlassung dazu gegeben haben, dass im Beginn des Dezember von den Stadtverordneten Dr. Arons und Genossen der Berliner Stadtverordneten-Versammlung zwei Anträge eingebracht wurden, deren erster die Speisung der Schulkinder vom nächsten Jahre ab in städtische Regie übergehen lassen will, und deren zweiter verlangt, dass schon für diesen Winter dem Vereine für Kindervolksküchen ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen, um dem Bedürfnis — das sich in diesem Jahre übrigens weit stärker als bisher geltend macht — im vollen Umfange gerecht werden zu können. Bisher hat die Stadt den „Verein für Kindervolksküchen“ im Höchstfalle mit einer Jahresbeihilfe von 3.000 Mark unterstützt, hat aber diese Beihilfe nicht alle Jahre gewährt, so dass der Verein von der Stadt an reiner Beihilfe in den 14 Jahren im ganzen nur 17.500 Mark, d. h. pro Jahr durchschnittlich 1.210 Mark erhalten hat, während er selbst, wie bereits bemerkt, in diesen 14 Jahren rund 565.000 Mark aufgebracht und verbraucht hat.

Die Denkschrift erwähnt, dass von den zur Befriedigung der Bedürfnisse der gegenwärtig von ihm zur Speisung angenommenen Kinder nötigen Mitteln 33.000 — 34.000 Mark durch Mitgliederbeiträgen Spenden usw. aufgebracht werden können, während für die Durchführung der Speisung auch nur jener Kinder beinahe das Doppelte erforderlich ist. Diese Summe müsste die Stadt, wenn sie wirklich helfend eingreifen will, für diesen Winter von vornherein zur Verfügung stellen. Sollten auch noch die bisher unberücksichtigt gebliebenen 4.000 — 5.000 Kinder zur Speisung herangezogen werden, so wären noch rund weitere 63.000 Mark notwendig.

Inzwischen hat sich aber die Zahl der einer Mittagsspeisung bedürftigen Kinder auf etwa 12.000 erhöht. Will man eine allumfassende Speisung der notleidenden Kinder einführen, so würden sich die Kosten auf rund 150.000 Mark belaufen.

In der Stadtverordneten-Versammlung vom 12. Dezember 1908 wurde von keinem der Diskussionsredner bestritten, dass dem tatsächlich bestehenden schweren Notstand abgeholfen werden müsse, dass die Stadt die Pflicht habe, hier einzuspringen, und dass der Entscheid in dieser Frage soviel wie möglich beschleunigt werden müsse. Immerhin hielt man es für nötig, die Angelegenheit einer näheren Prüfung zu unterziehen, um so mehr, als nach einer Mitteilung von Stadtschulrat Dr. Fischer die Schul-Verwaltung bereits eine Enquete in allen Berliner Gemeindeschulen darüber veranlasst hatte, wie viele Kinder in den verschiedenen Klassen ohne erstes Frühstück in die Schule kommen und wie viele zu Hause kein Mittagbrot erhalten. Unter diesen Umständen wurde der Antrag Dr. Arons einem Ausschuss überwiesen.

In der Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung vom 19. Dezember 1908 stellte der Ausschuss folgenden Antrag:

„1. Die Versammlung ersucht den Magistrat, noch für diesen Winter Einrichtungen zu schaffen, welche es ermöglichen, dass diejenigen Schulkinder, welche nach erfolgter Feststellung im elterlichen Hause warmes Mittagessen, nicht bekommen können, ein solches gegen Zahlung der Selbstkosten in der Schule erhalten. Kindern bedürftiger Eltern kann das Essen kostenlos gegeben werden, wenn die Rektoren oder die Schulkommission solches für notwendig erachten. Die Gewährung freien Essens soll nicht als Armenunterstützung gelten.

2. Für den Fall, dass der Magistrat dem Beschlusse zu 1. nicht beitreten sollte, ersucht die Versammlung den Magistrat, dem Verein für Kindervolksküchen neben den in diesem Jahre bereits zugewendeten 3.000 Mark weitere 12.000 Mark Unterstützung zu gewähren.“

Der zweite Eventualantrag des Ausschusses wurde noch durch einen sozialdemokratischen Antrag erweitert, dem Verein für Kindervolksküchen nicht 12.000 Mark, sondern 65.000 Mark Unterstützung zu gewähren.

Im Laufe der Debatte gab der mit der Leitung der obengenannten Enquete der Schulverwaltung betraute Stadtrat Dr. Münsterberg die Erklärung ab, die in die Welt geschleuderte Behauptung, dass in Berlin in bezug auf die hungernden Schulkinder ein besonderer Notstand bestehe, sei unrichtig. Die Armendirektion müsse den Grundsatz festhalten, nur dort Unterstützungen zu geben, wo das Bedürfnis sicher festgestellt sei.

Die Versammlung folgte in ihrer überwältigenden Mehrheit den Ausführungen des Stadtrats Münsterberg insofern, als sie den Antrag 2 des Ausschusses, dem Verein für Kindervolksküchen neben den in diesem Jahre bereits zugewendeten 8.000 Mark noch weitere 12.000 Mark zu gewähren, ablehnte und sich für den Antrag 1 aussprach. Nach diesem sollen also von seiten der Stadt Einrichtungen getroffen werden, die es ermöglichen, den Kindern bedürftiger Eltern warmes Essen kostenlos, eventuell gegen Zahlung der Selbstkosten in der Schule geben zu können.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908