Gegen die Zensur im Aufsatzunterricht

Gegen die Zensur im Aufsatzunterricht wendet sich J. Paulsen in der „Pädag. Ref.“ (Nr. 50).

Man hat mir entgegengehalten — sagt P. u. a. — , die Zensur sei notwendig, um die Kinder anzuspornen. Ich meine aber, dass das Kind nicht der Zensur wegen arbeiten soll. Ich weiß wohl, dass es sehr viele in unseren Schulen tun, und häufig sind es die Ersten in der Klasse, die sogenannten Musterschüler. Aber ich bestreite, dass es die Aufgabe der Schule sei, durch ihre Maßnahmen diese kindliche Schwäche künstlich zu nähren und systematisch großzuziehen. Das Kind soll angeleitet werden, das Gute um des Guten willen zu tun, die Arbeit um ihrer selbst willen zu lieben, und wenn wir dieses Ideal auch in der Schule nicht erreichen, so sollen wir ihm wenigstens nachstreben.


Ferner ist es doch klar, dass die Zensur keineswegs unter allen Umständen und bei allen Schülern diese anfeuernde Wirkung ausüben kann. Werden nicht ebenso viele Kinder durch eine schlechte Zensur entmutigt, als durch eine gute angespornt? Ich habe in meiner Klasse Schüler, die es trotz der größten Mühe nie über eine Drei bringen würden, ja ich habe leider auch solche, die eine genügende Arbeit überhaupt nicht schreiben können. Muss die ewig schlechte Zensur ihnen nicht allen Mut rauben?

Seit ich bei den schwachen Schülern diese entmutigende Wirkung der Zensur erkannt und in jeder Klasse aufs neue bestätigt gefunden habe, habe ich die Zensur im Aufsatzunterricht und schließlich auch bei den übrigen schriftlichen Arbeiten verworfen und ein Verfahren eingeführt, das jeder Arbeit und jedem Schüler gerecht wird und keinem die Schaffensfreude trübt. Statt der Ziffer schreibe ich unter die Arbeiten mehr oder weniger ausführliche Bemerkungen, in denen Vorzüge und Mängel kurz bezeichnet werden. Ich habe also nicht nötig, die unendlich verschiedenen Arbeiten gegeneinander abzuwägen, sondern kann jede Leistung für sich beurteilen. Und darauf kommt es mir an. Ich brauche nicht an alle Arbeiten denselben Maßstab zu legen, sondern dieser ist je nach der Fertigkeit des Verfassers verschieden. Ich kann einer mäßigen Leistung so gut wie einer hervorragenden Anerkennung zollen, wenn sie das Produkt einer schwachen Begabung und eines ehrlichen Fleißes ist. Meine Bemerkungen sagen dem Kinde nicht nur, dass die Arbeit gut oder schlecht ist, sondern auch, was mir daran lobens- oder tadelnswert erscheint. Mein Verfahren wird auch den Fällen gerecht, wo mit einer Zahl überhaupt nichts zu machen ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908