Hygienische Bedenken gegen den gemeinsamen Abendmahlkelch

Man hat in den letzten Jahren Beweise genug dafür erhalten, dass die Gesundheitslehre ihre Forschung auf alle Gebiete erstreckt und vor nichts aus irgend welcher Scheu Halt macht. Der Nachweis von Bakterien im Weihwasserkessel (vgl. „Gesundheit“ Nr. 6, S. 58 und Nr. 8, S. 85) hat auch innerhalb der hohen katholischen Geistlichkeit seinen Eindruck nicht verfehlt. In England eifern die Ärzte lebhaft gegen die vom gesundheitlichen Standpunkt nicht kräftig genug zu verurteilende Sitte, bei der Ablegung eines Zeugeneides ein Gebetbuch zu küssen, und jetzt tritt nach der „Köln. Ztg.“ die Londoner „Lancet“ dafür ein, dass der Kelch, der beim Abendmahl unter den Gläubigen herumgeht, unter schärferer gesundheitlicher Aufsicht gehalten werden sollte. Es ist allerdings geeignet, jedem das Blut einen Augenblick in den Adern erstarren zu machen, wenn man die in dieser Wochenschrift besprochene Tatsache hört, dass in einer Londoner Kirche sich zu jedem Abendmahl ein mit Zungenkrebs behafteter Mann und ein anderer, der wahrscheinlich an Kehlkopfschwindsucht leidet, einfinden und mit den übrigen Anwesenden Brot und Wein teilen. Es wird die Frage aufgeworfen, warum nicht für jeden Kommunikanten, wie es übrigens in einigen wenigen Kirchen der Fall sein soll, kleine Gläser oder Tassen zur Verabreichung des Weines bereit gehalten werden. Nichts könnte verkehrter sein, als wenn man sich aus religiösen Gründen dagegen wehren wollte, die bisherige Sitte mit Rücksicht auf eine gesundheitliche Gefahr zu verbessern. Abgesehen von dem gemachten Vorschlag, wäre es wohl auch genügend, das Brot nur in den Wein zu tauchen und so beides dem Teilnehmer am Abendmahl zu reichen. Dieser Brauch, die sogenannte Intinktion, wird in der griechisch-katholischen Kirche hoch heute geübt und war bei der römisch-katholischen ebenfalls bis zum 12. Jahrhundert zu finden, ehe der Kelch überhaupt den Laien entzogen wurde. Wie nun auch die Ansicht der Geistlichkeit über diese Frage ausfallen möge, darüber kann eine Meinungsverschiedenheit nicht bestehen, dass die Gefahr der Übertragung ansteckender Krankheiten bei der Ausübung religiöser Gebräuche unter allen Umständen vermieden werden muss. — Jedenfalls sind, wie wir zu den Ausführungen der „Lancet“ bemerken möchten, mit ansteckenden Krankheiten oder Geschwüren Behaftete nicht zum gemeinsamen Abendmahl zuzulassen und es sollte in kurzen Zwischenräumen, womöglich nach jeder Benutzung, während der Abendmahlsverteilung der Trinkrand des Kelches mit einem reinen Tuche sorgfältig abgewischt werden. Letzteres Verfahren wird übrigens von vielen Geistlichen bereits geübt. Bei dieser Gelegenheit muss darauf hingewiesen werden, dass die Gefahr der Benutzung von Trinkbechern an öffentlichen Brunnen jedenfalls noch eine viel größere ist, als diejenige, welche unter Umständen in der gemeinsamen Benutzung des Abendmahlskelches liegen kann, weil der Gebrauch der öffentlichen Trinkbecher völlig unkontrolliert ist. Freilich kann jeder Benützende einen solchen Trinkbecher vor dem Gebrauche gut ausspülen und reinigen und sich somit selbst tunlichst vor Gefahr schützen. Viele trinken sogar aus fremden Bechern stets so, dass sie den Becherrand nicht berühren, sondern nächst dem Rand von der Flüssigkeitsoberfläche saugend abtrinken.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit 26. Jahrgang 1901