10. Der Lübecker Martensmann

Der Lübecker Martensmann.



Wir können nicht umhin, die Geschichte des Lübecker Martensmanns hier genauer zu beschreiben, zumal sie für die Trinklust der Deutschen und die Sitten früherer Zeiten charakteristisch ist und aufs Deutlichste zeigt, in wie hohen Ehren grade in Norddeutschland der Wein gehalten ward. Es war nämlich der Ehrenfeste und Hochweise Rat der kaiserlichen freien Reichsstadt Lübeck seit undenklichen Zeiten verpflichtet, jedes Jahr am 10. November ein Ohm alten Rheinweinmostes an das herzogliche Hoflager zu Schwerin zu schicken und sich der Gnade des regierenden Herrn Herzogs und seiner nachbarlichen Freundschaft bestens empfehlen zu lassen. Der eigentliche Ursprung und Zweck dieser Weinsendung wird von verschiednen Schriftstellern verschieden angegeben. Leser, die sich hierfür interessieren, verweisen wir auf:


Mark, Gesch. v. Martini-Ab. und Martensm. Hamburg und Güstrow 1772.

Ausführl. Gesch. des Lüb. Mart.; Verfasser, Druckort und Jahr anonym.

v. Lützow, Meckl. Gesch. II. p. 463.

Lisch. Jahrb. des Ver. für Meckl. Gesch. und Altert. Schwerin 1858 p. 81 ff.

Wehrmann. Zeitsch. des Ver. für Lüb. Gesch. u. Alt. Bd. II., Heft I. Lübeck 1863 p. 88.)

Im Jahr 1817 bedurfte es eigner Verhandlungen zwischen Lübeck und Mecklenburg, jene alte Sitte für immer abzuschaffen, nachdem sie, von folgenden komischen Zeremonien begleitet, fast drei Jahrhunderte hindurch bestanden hatte. Der Magistrat zu Lübeck wählte jährlich unter seinen Ratsdienern einen handfesten Mann als Gesandten aus, der fortan Martensmann hieß, und ordnete diesem 2 Zeugen bei. Alle drei Personen mußten von unbescholtnem Ruf sein; allein weit mehr Rücksicht nahm man darauf, daß sie tapfre Trinker waren nach dem Muster der alten Teutonen und niemals an den leisesten Anwandlungen von Schwindel litten; denn es galt, auch in diesem Punkt das mächtige Lübeck würdig im Nachbarland zu vertreten. Der Martensmann fuhr am 8. November mit seinen beiden Zeugen in einem offnen Kaleschwagen, der mit vier mutigen Rossen bespannt war, aus den Toren Lübecks. Der Weg nach Schwerin beträgt nur acht Meilen; allein da die Gesandten einer so reichen Republik unterwegs nicht karg leben durften, sondern sich bei jeder Gelegenheit splendid zeigen mußten, so wurden außer dem Ohm Rheinwein Geld, Reisegerät und Lebensmittel in solcher Masse mitgenommen, als stände eine Reise durch eine zwanzig Meilen lange Wüste bevor. Am zweiten Tag langte man Abends in der Dunkelheit heimlich zu Schwerin an und logierte über Nacht verstohlen in einem Gasthof der Vorstadt. Wagen und Pferde wurden hier auf das Genauste besichtigt und alles Schadhafte ausgebessert. Am 10. November in der Frühe fuhr dann die Gesandtschaft abermals eine kurze Strecke vor die Stadt hinaus, um mit dem Schlag 12 Uhr öffentlich und feierlich in dieselbe einzuziehen. Der Kutscher jagt in vollem Trab an das Tor; die Wache tritt heraus und präsentiert das Gewehr. Für diese Ehre zieht der Martensmann seinen Hut ab und verehrt der Wache einen Gulden als Trinkgeld. Ein Unteroffizier und zwei Soldaten bringen dann den hohen Gesandten ins Quartier und bleiben zu seiner Sicherheit bei ihm, welche Maßregel durchaus notwendig ist. Denn noch eine andre Ehrenwache begleitet den Wagen, vor welcher der Martensmann kaum sein nacktes Leben retten kann; sie besteht nämlich aus einem ungeheuren Schwarm von Straßenjungen, welche beständig „Mus-Marten, Schön-Marten, Pennings-Marten“ rufen und entsetzlich lärmen. Ist der Martensmann in seiner Wohnung angelangt, so stellt sich die ganze Bande dieser gegenüber in zwei Linien auf, maskiert sich, bewaffnet sich mit Kuhschwänzen, taucht dieselben in Kot und Unflat und balsamiert sich gegenseitig auf das Abscheulichste damit ein. Nach diesen dem Martensmann zu feinem vermeintlichen Vergnügen erwiesenen Ehrenbezeigungen dringt der ganze besudelte Haufen unter Vortritt eines unter sich gewählten Königs in das Zimmer des Gesandten und grunzt hier so lange, bis dieser zum Dank dafür Semmeln, Kringeln, Äpfel, Nüsse und kleine Münze in Masse austeilt. Nachdem das ganze Haus hinreichend beschmutzt ist, tummelt sich die ehrenwerte Gesellschaft frohlockend wieder hinaus und durchtobt noch einige Zeit die Stadt. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ward jedoch dieser Unfug streng verboten, und der Martensmann lief keine Gefahr mehr, mißhandelt zu werden.



Um drei Uhr Nachmittags hält derselbe darauf seinen feierlichen Einzug in das herzogliche Schloß. Auf allen Straßen, die er zu passieren hat, harren seit Stunden schwarze Menschenmassen sehnlichst des großen Kaleschwagens, welcher endlich, vom dicksten Pöbelhaufen umdrängt, erscheint. Der Kutscher feuert mit heroischen Peitschenhieben die Rosse an. Auf der mittelsten Bank thront allein der berühmte Martensmann mit offizieller Amtsmiene und in solchenem Amtsornat, das in einem schwarzen Unterkleid und einem scharlachroten ärmellosen Mantel besteht. Um den Hals trägt er den riesigen weißen Faltenkragen und auf dem Haupt die gewaltige Allongenperücke. Hinter ihm liegt das Faß, hinter diesem sitzen die beiden Zeugen und ganz hinten stehen zwei Lakaien.

Sobald der Wagen in den Schlosshof einfährt, entblößt der Gesandte zunächst das Haupt des Kutschers, dann sein eignes, desgleichen tun die Zeugen, während die ganze Schlosswache unter das Gewehr tritt und salutiert, wofür sie ebenso wie die Torwache einen Gulden Trinkgeld erhält. In Gegenwart des Herzogs muß dann der Wagen mit seiner vollen Ladung zweimal in rasender Eile auf dem Schlosshof herumfahren, während der Martensmann wieder Geld unter die Menschenhaufen wirft. Das Gerassel des Wagens, das Getön der Pferdehufen, das Gebrüll des Volks, das Gelachter der Galerien wirken zusammen in dem engen Hof besinnungsraubend, herzbethörend, markverzehrend. Plötzlich hält der Wagen vor der Haupttreppe still, auf welcher der Hausvogt und mehrere herzogliche Beamten stehen, um die Gäste zu empfangen. Nachdem alle formellen Begrüßungen und feststehenden Anreden beendet sind, läßt der Hausvogt Wagen und Pferde untersuchen, ob etwa am Eisenbeschlag, Riemenwerk, Geschirr, Hufeisen u. der geringste Fehler zu finden sei; in diesem Fall nämlich gehören nach altem Herkommen Pferde und Wagen dem Herzog und werden sofort von dessen Kutscher in den Marstall gebracht, Angesichts des verblüfft nachschauenden und vergeblich dagegen protestierenden Martensmanns. Wahrscheinlich mußte der Wagen deshalb zweimal rasch den Schlosshof umjagen, damit, falls noch kein Fehler an ihm vorhanden war, doch wenigstens bei dieser Gelegenheit etwas schadhaft würde und die Ursache seiner Beschlagnahme werden könnte.



Nach Untersuchung des Fuhrwerks, wobei die Straßenjugend emsig hilft, besteigt der Hofkellermeister ernst und feierlich den Wagen, das im Faß enthaltne Gemisch zu Prüfen; er öffnet das Spundloch, zieht mit seinem Heber ein Glas voll zur Probe heraus, besieht nach weltbekannter Weinkennerregel zuerst die Farbe der göttlichen Flüssigkeit, im zweiten Tempo riecht er an ihrer Blume und im dritten setzt er das Glas an und leert es in verschiednen Zügen. Dann reicht er dem Hausvogt einen Trunk, und so der Reihe nach allen Beamten, die unter einander die Güte des Weins nicht genug preisen können. Das Faß wird darauf wieder zugeschlagen und in den Hofweinkeller gewälzt. Die Gesandtschaft aber verabschiedet sich unter vielen Komplimenten und verlässt den Schlosshof, wiederholt Geld unter das jubelnde Volk säend. Nachdem sie an der abermals salutierenden Wache vorübergefahren, bedeckt sie zuerst wieder ihre ehrwürdigen Häupter. In seinem Quartier angelangt, legt der Martensmann die Amtskleidung ab und erholt sich von den Strapazen seiner Sendung. Der geschäftliche Teil derselben ist für ihn jetzt beendet; fortan hat der Arme nur noch Vergnügen auszustehen, und zwar besteht dies lediglich in Essen und Trinken. Zunächst übersendet er nach alter Sitte den Beamten, die ihn im Schlosshof empfangen haben, 12 Pfund Käse, 2 Pfund Bücklinge, 2 Brote und 4 Zitronen. Dann lässt Abends 7 Uhr der Hausvogt ihn sammt Zeugen und Kutscher unter vielen Komplimenten zu einem Abendessen auf dem Schloß einladen, was bereitwilligst angenommen wird. Der Gesandte macht sich mit seiner Gesellschaft sofort auf den Weg; voran geht mit gravitätischem Schritt der Pförtner, der die Einladung besorgt hat, und hält in der Rechten den gewaltigen Kommandostab, um sich und die Gesandtschaft damit zu schützen, in seiner Linken aber eine eigens zu diesem Zweck bestimmte 3 Fuß hohe, aus 100 Scheiben von Horn zusammengesetzte, mit Messing beschlagne Laterne, in der vier Lichter brennen. Durch diese will der Pförtner seine Aufmerksamkeit gegen die Gäste einleuchtend beweisen. Als im vorigen Jahrhundert der Herzog Karl Leopold sich in Dresden aufhielt, meinte Lübecks Hochweiser Rat einmal, die Weinsendung wäre unnötig, und schickte keinen Martensmann. Er ward aber an seine Pflicht erinnert, und es erschien der Gesandte nachträglich am Johannistag des folgenden Jahrs. Damit aber nichts an der pünktlichsten Beobachtung aller üblichen Zeremonien fehle, mußte der Pförtner auch diesmal um die bestimmte Stunde, trotzdem daß die Sonne klar und hell am Himmel schien, mit seiner großen brennenden Laterne der ehrwürdigen Gesellschaft voranleuchten, was sich freilich etwas tollhäuslerisch ausgenommen haben soll.

Außer dem Hausvogt, seinen Assistenten und der Gesandtschaft nehmen an der großartigen Abendmahlzeit Küchenmeister, Kellermeister, Kastellan, Schlossgärtner und viele gute Freunde Teil. Für den Pförtner ist ein eigner Tisch an der Tür des Zimmers gedeckt; in dem ernsten Moment, wo die Speisen aufgetragen werden, ruft er sein gebieterisches „Stille da!“ Er muß zugleich Ordnung unter dem Publikum halten, welches an der offnen Tür dem Gastmahl zuschaut, dabei entsetzlich tumultuiert und dem Cerberus nicht das mindeste Gehör giebt, so sehr dieser sich solches auch durch seinen Kommandostab zu verschaffen sucht, mit dem er vor Wut zuletzt taktmäßig auf den Boden klopft. Wahrend er so der Gesellschaft die Tafelmusik ersetzt, schluckt er selbst mit Ärger und Unmut eine reichliche Mahlzeit hinab. Neben der Tafel aber steht nach alter Sitte ein schönes, aufgemachtes Bett, darauf liegt eine Nachtmütze à la Michel, Waschwasser und Handtuch befinden sich daneben, und das Nachtgeschirr, mit Erlaubnis, steht darunter. Alle diese schönen Sachen sind aber — beruhige Dich, lieber Leser — dazu da, daß man sich ihrer nicht bediene, gleichsam ein „Noli me tangere“ für die stoische Gesellschaft, welcher sie nur zur geneigten Ansicht und zur Übung dienen, den Lockungen des Teufels zu widerstehen. Selbst die geehrteste Persönlichkeit, welche zugegen ist, der Martensmann, darf sich nicht in das bequeme Bett legen, noch von den andern nützlichen Gegenständen Gebrauch machen, befände er sich auch noch so sehr in einem Zustand, wo ihm eben jene Gegenstände von unendlichem Nutzen sein könnten. Eine harte Strafe trifft den Missetäter, welcher dieses Gesetz überschreitet.

Den Küchenzettel hat die urväterliche Weise genau vorgeschrieben und nur 36 Schüsseln für diese einfachen Spartaner bestimmt. Wenn nach der Suppe und etlichen Fleischspeisen die Fische vorgelegt werden, bringt der Hausvogt die Gesundheit seines Landesherrn aus; es folgen Toaste auf alle Glieder des herzoglichen Hauses, den Lübecker Senat u. Wer zum ersten Mal an der Tafel erscheint, dem wird zu Ehren nach uralter Sitte der große Willkomm zugetrunken. Falls der Geehrte allein diesen nicht zu bewältigen vermag, ist es ihm erlaubt, sich dazu zwei Gehilfen, die einen guten Schluck nehmen können, die sog. Gevattern, auszuwählen. Ist der Willkomm geleert, so fragt der Hausvogt den Gast, ob ihm nun Gnade widerfahren und Recht geschehen sei, was dieser dankend bejaht.



Um 11 Uhr wird die Tafel aufgehoben, aber Niemand begibt sich nach Hause, sondern man begleitet in corpore mit der nie fehlenden Laterne den Martensmann in sein Quartier; hier nimmt man — keinen Abschied, sondern wird von dem höflichen Gesandten eingeladen, bei ihm etwas Kasse, Tee, Punsch und guten alten Rheinwein, was alles längst bereit steht, einzunehmen, bloß um die Verdauung zu befördern. Nach etlichen Stunden endlich trennt man sich in ungeheurer Heiterkeit. Kaum aber sind die Herren am andern Morgen mit verschiednen unaussprechlichen Gefühlen erwacht, als man auch schon daran denkt, Mund und Magen der armen Gesandtschaft in fortgesetzter Tätigkeit zu erhalten. Hätte die Gesandtschaft Grund zu Misstrauen, sie könnte sich als das Opfer einer fürchterlichen Intrige wähnen, daß sie sich selbst zu Grunde essen und trinken solle. Allein sie folgt willig der Einladung des Hausvogts zu einem kleinen Frühstück, welches immerhin für eine anständige Mittagsmahlzeit passieren könnte. Sämtliche Gäste des vorhergehenden Abends verfehlen nicht, sich pünktlichst einzustellen. Abermals liefern 36 stattliche Schüsseln und der Inhalt unzähliger Fleuten den sämmtlichen Digestionsorganen allerseits eine hinlängliche Beschäftigung aus mehrere Stunden. Zum Schluß bringt der Martensmann einen Toast aus auf das gute Einvernehmen zwischen dem Haus Mecklenburg und der Stadt Lübeck. , Dann wird er ganz so, wie am vorhergehenden Abend, von der Gesellschaft nach Hause gebracht und diese von ihm zu Kasse, Punsch und Wein eingeladen. Endlich naht die trübe Abschiedsstunde, man scheidet mit tiefstem Kummer von einander und wünscht dem Martensmann glückliche Reise. Damit sich aber die herzoglichen Diener nicht ganz dem Schmerz des Abschieds hingeben, erhält jeder von ihnen noch eine Gans und eine Torte aus der Hofküche; ebendaher werden dem Martensmann, damit er unterwegs nicht ganz verschmachte, eine Wildpretpastete, eine Torte, ein Gänsebraten und ein Schweinebraten, außerdem zwei Scheffel Hafer für seine Pferde zugeschickt. Seinem Hochweisen Rat aber muss er das eine Jahr einen Rehbock, das andre ein wildes Schwein oder einen Frischling mitbringen. Das ist die Geschichte vom Lübecker Martensmann.






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte des Weins und der Trinkgelage