07. Die Wirtshäuser, Trinkstuben und Kneipen

Die Wirtshäuser, Trinkstuben und Kneipen.



Das Entstehen der Wirtshäuser reicht bis in die älteste Zeit der Feudalherrschaft hinauf; wie wir oben gesehen, wurden unter Karl dem Großen die Schenken oder Reifwirtschaften eingerichtet und gehörte damals der Weinschank in Deutschland der Herrschaft, wie noch jetzt der Branntweinschank in Rußland. Als aber die Städte größer und mächtiger wurden und ihre Einwohner wegen Gemeinsamkeit der von außen kommenden Gefahr und der innern Interessen sich mehr und mehr zu einem festen Organismus vereinigten, als mithin zu dem adeligen und geistlichen Stande das Bürgertum als ein dritter Stand hinzutrat, da wurde auch der Weinschank zu einem bürgerlichen Gewerbe gemacht und der sog. Weinbann aufgehoben. Die ehrenwertesten Bürger der Stadt saßen im Wirtshaus und überlegten bei einer Maß Wein ernst und reiflich der gemeinen Stadt Nutzen und Geschäfte, ratschlagten auch über das Wohl und Wehe der Familien, der Gewerbe, der Gemeinde oder gar des heiligen römischen Reichs deutscher Nation. Die Patrizier schickten selbst ihre Söhne in die Trinkstuben, um sie von andern Lastern abzuhalten. Im Lauf der Zeit wurden die Wirtshäuser unter die Aufsicht der Polizei gestellt, welche den Preis der Speisen und Getränke festsetzte und die sog. Polizeistunde einführte, eine Stunde, die den alten Deutschen niemals geschlagen hatte; sie lief dem Charakter der Nation schnurstracks zuwider und wurde auch nur geschaffen, um nicht beobachtet zu werden.




In den Reichsstädten hatte jede Zunft ihr eignes Tanzlokal und Zunfthaus, in welchem die Handwerker fast täglich zusammenkamen und Gevatter Schneider und Handschuhmacher einen Klatsch über ihre Nachbarn machten, dessen sich eine Versammlung von alten Weibern und Kaffeeschwestern nicht zu schämen gebraucht hätte. Durch Gewohnheit bildete sich in diesen Häusern allmählich ein förmliches Trinkrecht aus, ursprünglich aus der harmlosen Sitte entstanden, einen Gast durch Darreichung eines Bechers zu ehren. Trinklieder, Trinksprüche, Trinkwitze, alles hatte seine Gesetze, auf welche mit Strenge gehalten ward. Dazu gesellte sich das Zu- und Vortrinken, das Gesundheit- und Wetttrinken, welches zu allen Zeiten und bei allen Völkern naturgemäß in Saufgelage ausartete; denn die Grenze zwischen Wetttrinken und Saufen ist sehr schwach, jenes geht unmerklich in dieses über. Das Zechen ward zu einer Kunst, in der es zahllose und furchtbare Virtuosen gab. Ist es doch kaum glaublich, daß zum Beispiel in Zürich, bei dem althergebrachten Frühlingsfest, genannt das Sechseläuten, auf den Trinkstuben der Zünfte für jeden Mann 16 Maß Wein gerechnet wurden. In manchen Städten war das ganze niedre Volk sehr dem Trunk ergeben und verprasste am Sonntag, was es die Woche über verdient hatte. In Wien hielten sogar eine Menge Bürger im 15. Jahrhundert Weinhäuser und Tavernen, in welche sie Zechgesellen und „lichte Fröwlein“, wie damals die deutschen Hetären genannt wurden, hineinriefen. So war es grade der städtische Wohlstand im Mittelalter, welcher, wie erfreulich er auch einerseits er! scheinen muß, andrerseits leider zu einem Lebensgenuss reizte, der nicht selten in die gröbste Schlemmerei und Trunksucht ausartete. Der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam zeichnet in seinen „colloquia“ mit drastischen Farben das Bild eines deutschen Gasthauses in des 16. Jahrhunderts erster Hälfte. Eine Stelle aus jener Schrift lautet: „Die besser trinken, sind den Wirten angenehmer, obgleich sie um nichts mehr zahlen, als jene, die sehr wenig trinken; denn es sind nicht selten welche, die mehr als das Doppelte im Wein verzehren, was sie für das Gastmahl zahlen. Es ist zum Verwundern, welches Lärmen und Schreien sich erhebt, wenn die Köpfe vom Trinken warm werden. Keiner hört und versteht den Andern. Häufig mischen sich Possenreißer und Schalksnarren in diesen Tumult; und es ist kaum glaublich, welche Freude die Deutschen an solchen Leuten finden, die durch ihren Gesang, ihr Geschwätz und Geschrei, ihre Sprünge und Prügeleien solch ein Getöse machen, daß die Stube dem Einsturze nahe ist. Und doch glauben sie so recht angenehm zu leben; und man ist gezwungen, mit ihnen bis in die tiefe Nacht hinein sitzen zu bleiben u.“

Das Wirtshausleben ist es, welches nicht nur im Mittelalter, sondern vornehmlich noch im vorigen Jahrhundert das Familienleben ruinierte und der Traulichkeit häuslichen Beisammenseins sowohl, wie der Entwicklung einer feinern Geselligkeit hindernd im Wege stand. Und dennoch ist uns Deutschen, wie Riehl im dritten Band seiner „Naturgeschichte des Volks“ sehr schön erörtert, der Familiengeist dermaßen eingeboren, daß wir selbst im Wirtshaus, wo wir dem Haus entronnen zu sein wähnen, nicht eher unser Behagen finden, als bis hier wieder ein eingebildetes Familienleben bestrickend vor unsern Sinnen gaukelt. Im Elsaß gab es einen Herrn von Utenheim, der stets im Wirtshaus des Dorfes Matzenheim saß und daselbst den größten Teil seines Guts verzehrte. Er war ein so vollendeter Stammgast zu Matzenheim, daß selbst sein Pferd nicht weiter zu bringen war, wenn es an die Wirtshaustür kam. Weil er nun weit mehr zu Hause war im Wirtshaus zu Matzenheim, als auf der Burg zu Utenheim, so nannte man ihn zuletzt nur den Matzenheimer. Der Name erbte sich fort, und das ganze Geschlecht der Herren von Utenheim hieß fortan Matzenheim. Kann es einen stärkern historischen Beweis für die germanische Auffassung des Hauses im Wirtshaus geben? In diesem innern Widerspruch liegt aber nicht nur ein komisches, sondern auch ein tragisches Element, und nicht alle Stammgäste behandelt die deutsche Volkssage so glimpflich, wie den alten Matzenheimer. Als alle Bauern beim Schall der Vesperglocke aus der Schenke gingen, blieb ein zäher Stammgast wie zum Trotz sitzen und rief höhnisch ins Geläut hinein: „Ich gang nit mit, ich will der Letzte sein; Wirt, noch so ein Schöpple!“ Da versank die Schenke mit einem furchtbaren Schlag in die Erde, und der Stammgast kann nun darin sitzen bis an den jüngsten Tag, Ein solcher sog. Stammgast, der an der Wirtstafel wie an seinem eignen Herd sitzt und allabendlich denselben Stuhl, dieselbe Ecke, dasselbe Glas, denselben Wein begehrt, ist eine spezifisch germanische Gestalt. Nur der Deutsche kennt die sog. gemütliche Kneiperei und sucht durch dieselbe sein Familienbedürfnis auch außerhalb des eignen Hauses zu befriedigen. Nur im deutschen Vaterland nehmen die Zechgelage der Wirtshäuser einen gewissen Charakter der Häuslichkeit an. Zechen und saufen können auch die romanischen und slavischen Völker, aber bloß die germanischen können kneipen, d. h. verstehen es, in der Zechstube gemütlich zu Hause zu sein. In der Kneipe befriedigt sich der erste Drang des Burschen nach eigner Häuslichkeit, darum nennt er seine eigne Wohnung auch wohl Kneipe. Der deutsche Student schafft sich gewissermaßen eine Familie in seinem Korps, ein Haus in seiner Kneipe und findet sich aus diesem Grund in der ganzen Welt nicht zum zweiten Mal wieder. Der Ausdruck „Kneipe“ selbst stammt von ihn, her und bezeichnet zunächst nur das Wirtshaus, worin er verkehrt. Nach dem Verfasser der „Naturgeschichte des deutsch. Stud.“, der sich Plinius den Jüngsten nennt, ist jenes Wort dadurch entstanden, daß so viele Leute durch das Kneipen gekneipt werden. Erstlich wird der Wirt gekneipt, wenn stud. das Kneipen nicht bezahlt; sodann wird der Vater des stud, gekneipt, wenn er für seinen Sohn das Kneipen bezahlen muß. Ferner wird der Professor gekneipt, wenn stud. die Kollegiengelder verkneipt und sich Stundung bis zum jüngsten Gericht ausbittet; sogar alle Philister werden gekneipt, deren Hoffnungen aus den Wechsel des stud. in der Kneipe wie Seifenblasen platzen; und endlich kneipt dem selbst die Erinnerung an die Kneipe oft noch in späten Jahren das Herz und den Geldbeutel zusammen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte des Weins und der Trinkgelage