Abschnitt 2

Uebergangszeit 1758-1803.

Das Amt.


Die Bürgerschaft war von einer unüberwindlichen Abneigung gegen die Küsterschule erfüllt. Sie konnte nicht verschmerzen, daß die Stadtschule durch die Aufhebung des Cantorates an Ansehnlichkeit verloren hatte. Ein wirklicher Mangel der Küsterschule war, daß sie keine Gelegenheit zu Handarbeitsunterricht für die Mädchen bot. Dazu kam, daß der erste Küsterschullehrer Rehm schon ziemlich bejahrt und stumpf war und erst 1772 einen Adjunkt erhielt, und daß sein Nachfolger Biermann, wie wenigstens der Magistrat ausführt, „nicht die gehörige Aussprache hatte, überhaupt nicht die Gabe, den Kindern etwas faßlich beizubringen“, während freilich der Superintendent ihm das Zeugniß eines „fähigen und treuen Schullehrers“ giebt. Im Allgemeinen mag mitgewirkt haben, daß die Küster von auswärts berufen, die Nebenschulhalterinnen aber einheimisch waren. Nicht zuletzt dürfte auch Oppositionslust gegen Zwangsversuche von oben obgewaltet haben, wie denn aus den Kreisen der Bürger die Rede erscholl: „wir sind keine Bauern und können unsre Kinder schicken, wohin wir wollen!“


Der alte Küster Rehm ließ sich die Nebenschulen als selbstverständlich gefallen; Biermann aber erhob Klage. Wenigstens die Knaben, welche den Mädchen nach in die Nebenschulen gezogen wurden, verlangte er für sich. Sah er seine Schule doch 1779 auf 10 Kinder reduciert! Der Magistrat wird angewiesen, die Nebenschulen ernstlich zu untersagen. Aber das Verbot des Magistrates bleibt unbeachtet: man wußte wohl, daß er es nur widerwillig erlassen. Neue Klage von Biermann, und neue Verordnung an den Magistrat, nunmehr bei Strafe zu verbieten. Der Magistrat verbietet bei Strafe, die Glashoff kehrt sich nicht daran, und die Strafe - bleibt unvollstreckt. Wieder Klage und Verordnung. Die repräsentierende Bürgerschaft legt sich wiederholt fürbittend für die Nebenschule in’s Mittel. Der Magistrat remonstriert und greift in der Verzweiflung zu der Ausrede: die Zahl der schulfähigen Kinder sei so groß, daß sie in der öffentlichen Schule nicht alle Platz hätten; während in Wirklichkeit in der Rektorschule nur 20, in der Küsterschule nur 16 Kinder sich fanden! Endlich Ende 1783 wird die Nebenschule soweit unterdrückt, daß der Küster „nothdürftig leben kann“. Aber im Geheimen bestand sie fort und erstarkte wieder von Jahr zu Jahr, und als 1792 der generelle Vergleich zwischen der Stadt und den piis corporibus geschlossen wurde, erreichte die Stadt, daß die Commissare versprachen, beim Herzog befürworten zu wollen, daß die Glashoff’sche Nebenschule bis dahin, daß die öffentliche Schule „seitens der Kirche würde verbessert worden sein“, fortbestehen dürfe. Noch einmal 1793 versuchte Biermann klagend sein Heil, erreichte aber nichts weiter, als daß der Herzog beim Magistrate anfragen ließ, „ob nicht für den Supplikanten eine Entschädigung für den Ausfall an Schulgeldeinnahme auszumitteln sei“; worauf aber der Magistrat entgegnete, daß der Küster gut situiert sei, wie kaum ein Bürger der Stadt. Damit war nun den Nebenschulen Thür und Thor geöffnet, so daß im Jahre 1803 Superintendent Passow zu berichten hatte, es hätten bisher „immer 4 bis 6 Nebenschulen“ bestanden.

Was endlich den Schulbesuch überhaupt betrifft, so dürften auch die weitestgehenden Vorstellungen von Mangelhaftigkeit und Regellosigkeit desselben durch die Wirklichkeit dieser Periode weit übertroffen werden. Genauere Controlierung desselben ist freilich dadurch erschwert, daß die Schülerzahlen der Nebenschulen unbekannt sind. Wenn also die Küsterschule zu Zeiten - und nicht bloß im Sommer - 8 bis 16 Kinder zählte, so möchte vielleicht die Nebenschule bezw. die zwei oder mehreren Nebenschulen etwa 50 Schüler umfaßt haben. Immerhin alles in allem eine unglaublich geringe Zahl! Und auch die Rektorschule, die doch von der Concurrenz nicht oder nur wenig betroffen wurde, war schlecht besucht. Kam ein neuer, besonders tüchtiger Rektor, wie Kaysel, so mochte sich die Zahl seiner Schüler (Winter 1779) auf über 40 heben; aber sein Nachfolger hatte (Winter 1783) nur 20. Während die Zahl der schulfähigen Kinder sich auf gegen 250 bezifferte 41), so dürfte, hoch gerechnet, die Zahl der überhaupt die Schule besuchenden Kinder durchschnittlich auf kaum 100 zu berechnen sein. Und zwar dies im Winter - wie mag es dann im Sommer ausgesehen haben! Denn es ist kein Zweifel, daß die Hauptursache des schlechten Schulbesuches in der großen Armuth jener Jahrzehnte zu suchen ist, infolge deren die Eltern ihre Kinder vornehmlich im Sommer zur Arbeit und zum Geldverdienen benutzen zu müssen meinten. 42)

Im Allgemeinen stellt sich das Schulwesen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in tiefem Verfalle und großer Unordnung dar. Die Frage liegt nahe, wie denn die zur Aufsicht über die Schule Berufenen sich dem gegenüber verhalten haben. Dies führt uns zu dem letzten Punkt dieses Abschnittes.





41) Oben berechnete ich die Zahl derselben für den Anfang des 18. Jahrhunderts auf 250; ebenso hoch belief sie sich ums Jahr 1803. In der Zwischenzeit dürfte die Bevölkerung nach Ausweis der Geburtsregister etwas, aber nur unbedeutend schwächer gewesen sein.
42) Herr Oberschulrath Lorenz zu Schwerin hat die Güte gehabt, mir seine Notizen zur mecklenburgischen Schulgeschichte mitzutheilen, aus welchen zu ersehen ist, daß die Verhältnisse an anderen Orten ähnlich traurig lagen. In Marlow z. B. waren um 1776 115 schulfähige Kinder, von denen aber im Winter 45 und im Sommer 71 die Schule überhaupt nicht besuchten. - Schon 1756 hebt Superintendent Quistorp in einem Bericht an den Herzog hervor, die Hauptursachen des Verfalles des Schulwesens seien 1) die äußerst geringe Einnahme sämmlicher Schullehrer, 2) der schlechte Schulbesuch, hervorgehend aus der großen Armuth in Stadt und Land. - Bemerkenswerth ist, daß die Schulfähigkeit nach damaliger Anschauung früher begann als jetzt, nämlich schon mit dem vierten oder fünften Lebensjahr. Herzog Friedrich in einer etwa aus dem Jahre 1771 stammenden Aufzeichnung, nach welcher ein allgemein gültiges städtisches Schulreglement abgefaßt werden sollte, bezeichnet als schulpflichtig „alle Kinder von ihrem vierten jahre an, bis sie confirmiret sind“. Es hängt dies wohl ebenfalls mit der allgemeinen Bedürftigkeit zusammen, sofern die Eltern, um ungestört auf Arbeit gehen zu können, darauf bedacht sein mußten, die Kinder möglichst früh der Obhut der Schule zu übergeben. Die Schulen müssen damals in hohem Grade den Charakter von Kleinkinderwarteschulen getragen haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte des Sternberger Schulwesens