Abschnitt 4

Die nachreformatorische Zeit bis zur Aufhebung des Cantorats 1758

Das Amt.


Weiter ist hier noch der Gesangunterricht zu besprechen, welchem, gemäß der Vorschrift der Kirchenordnung, nicht weniger als 4 Stunden, nämlich an den 4 Nachmittagen immer die erste Stunde, gewidmet waren. Allerdings nahmen an demselben auch die Nichtlateiner Theil, und es wurden in denselben ohne Zweifel auch die von der Gemeinde zu singenden deutschen Lieder eingeübt. Ueberwiegend aber oder doch zum guten Theil wird der Gesangunterricht wenigstens in der früheren Zeit zur Einübung lateinischer Gesänge gedient haben. Es ist bekannt, wie in den lutherischen Kirchen noch lange die lateinische Sprache beim liturgischen Gesang nicht blos geduldet sondern sogar bevorzugt geblieben ist. Für die „Pfarrkirchen der Stedte und da Schulen sind“ macht die Kirchen-Ordnung den Gebrauch der lateinischen Sprache für etliche Stücke der Liturgie obligatorisch, für die andern wenigstens fakultativ; und solange die Schulen überhaupt ihre Ehre darein setzten, möglichst viel Latein zu treiben, werden auch die Cantoren bei Ausführung der Liturgie möglichst das Latein bevorzugt haben. Ebenfalls ist bekannt, daß die ältere lutherische Kirche auf kunstmäßige, mehrstimmige Ausführung der liturgischen Gesänge sehr großes Gewicht legte. Für Sternberg bezeugt die in Anm. 22 mitgetheilte Aeußerung aus dem Jahre 1621, daß hier wirklich diese musica figurata gepflegt worden ist, zu Zeiten mit großem Eifer. Außerdem hatte der Kunstgesang seine Stätte bei Brautmessen, bei Leichenbegängnissen und nicht zuletzt beim „Herumsingen“ der Schüler mit oder ohne Lehrer (vgl. S. 55). Es ist hier nicht der Ort, auch fehlen mir bis jetzt die Mittel, die Entwicklung des cultischen Gesanges in Sternberg, speziell den Uebergang vom lateinischen zum deutschen Singen nachzuweisen. Jedenfalls dürfte anzunehmen sein, daß der lateinische Gesang erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts seine Herrschaft verloren hat.


Fragen wir nun, in welchem Umfange die die Sternberger Schule besuchenden Knaben am Lateinunterricht theilnahmen, und in welchem Zahlenverhältniß die „Lateiner“ zu den „Deutschen“ standen, so giebt die erste bestimmte Antwort das V.-P. von 1653: unter 50 Schülern waren 10 Lateiner. Damals also machten diese nur den fünften Theil der gesammten Schülerzahl aus. Doch habe ich Grund zu glauben, daß das Verhältniß in früherer Zeit ein erheblich anderes gewesen ist. Während das Schulziel des lateinischen Unterrichts früher im Allgemeinen ein niedrigeres gewesen zu sein scheint (vgl. S. 63), so dürfte doch die Zahl derjenigen, die überhaupt lateinisch lernten, verhältnißmäßig größer gewesen sein. Wenn ich recht sehe, so hat noch durch die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts wie schon im 16. Jahrhundert der Brauch bestanden, daß aus den angeseheneren und wohlhabenderen Bürgerfamilien die Söhne sämmtlich Latein lernten, auch wenn sie nicht zum höheren Studium, sondern zum bürgerlichen Erwerb bestimmt waren. So finde ich in einem Schriftstück aus dem Jahre 1612 die Bemerkung, der Bürgermeister Jordan habe seit dem Jahre 1582 das Schultzen-Lehn als Schüler-Stipendium für seine sämmtlichen Söhne zu erlangen gewußt, „von denen doch keiner excepto unico beim Studieren geblieben“; ohne Zweifel aber also haben sie sämmtlich den lateinischen Schulunterricht durchgemacht. Instruktiv ist auch die in Anm. 16 zu S. 15 mitgetheilte Liste der in Rostock immatrikulierten Sternberger: sie zeigt, daß aus einer Reihe von Bürgerfamilien (Dunker, Divack, Jordan, Dasenius, Rosenow, Reich) mehrere Glieder immatrikuliert gewesen sind, die doch schwerlich alle zum eigentlichen Universitätsstudium gelangt sind; wie denn von den meisten bemerkt ist, daß sie ohne Eidesleistung immatrikuliert wurden, also als noch nicht communionfähige Knaben, welche zunächst nur das Pädagogium besuchten; nur von etlichen ist bemerkt, daß sie später noch den Eid geleistet haben. Es wird die Regel gewesen sein, daß Bürgersöhne aus irgend bemittelter Familie wenigstens etliche Stufen der Lateinschule durchliefen und naturgemäß die ersten Jahre die Schule der Vaterstadt besuchten. Weiter ist zu erwägen, daß es damals üblich war, mehrere verschiedene Schulen zu „frequentiren“, also nur wahrscheinlich, daß die Sternberger Schule auch von „fremden“ Schülern aufgesucht wurde. Nach alledem dürfte anzunehmen sein, daß bis zu dem verhängnißvollen Jahre 1638 die Zahl der Lateiner erheblich größer war, und ihnen gegenüber die Deutschen vielleicht in der Minorität waren.

Wenn nun dies Verhältniß nach dem Kriege so vollständig verschoben erscheint, daß die Lateiner, und zwar zu einer Zeit, wo der lateinische Unterricht besonders intensiv war, nur noch eine kleine Minorität bilden, so dürfte der Grund davon in erster Linie darin zu suchen sein, daß der Wohlstand infolge des Krieges gesunken war, und die Bürger nicht mehr die Mittel besaßen, ihren Kindern eine höhere Ausbildung zu verschaffen. Es ist bemerkenswerth, daß, während in den Jahren 1630-1638 noch 14 Sternberger in Rostock immatrikuliert worden sind, in der Zeit von 1638-1650 auch nicht ein einziger in der Matrikel verzeichnet ist. Damit ist nun die Entwicklung eingeleitet, welche allmählich den Charakter der Schule völlig umgestaltet hat.

So lange die Dinge so lagen, daß die Abtheilung der Nichtlateiner sich nur aus den geringeren Klassen der Bevölkerung rekrutierte, konnte es normal erscheinen, wenn dieselben nur zusammen mit den Anfängern lesen und höchstens noch schreiben lernten nebst den Elementen des Katechismus; sie werden denn auch nicht viele Jahre hindurch die Schule besucht haben. Wenn nun aber die Verhältnisse sich dahin änderten, daß die Nichtlateiner die große Majorität bildeten und auch die Söhne „vornehmerer“ Familien in ihren Reihen hatten, so mußte es dahin kommen, daß das bisher Normale als abnorm empfunden wurde. Ein Lektionsplan wie der von 1653, welcher fast ganz für die 10 Lateiner zugeschnitten ist und die 40 Deutschen nur nebenbei unter der Rubrik der „Kleinen“ berücksichtigt, war unhaltbar. Es mußte sich das Bedürfniß geltend machen, den Unterricht der „Deutschen“ auf eine höhere Stufe zu heben.

Diese Hebung vollzieht sich durch ein Zwiefaches: durch eine Erweiterung des Religionsunterrichtes und durch die Einfügung des Rechnenunterrichtes.

Nach der revidierten Kirchenordnung begann der Religionsunterricht auf der untersten Stufe damit, daß die Knaben aus den „gewöhnlichen Hand-Büchlein (Alphabet-Büchlein)“ das Vater Unser, den Glauben, den Dekalog und Gebete lernten, daneben „etliche Psalmen und Sprüche newen Testaments.“ Auf der nächsten Stufe kam der kl. Katechismus Luthers und „das Teutsche Corpus Doctrinae Judicis“ hinzu. Letzteres erwähnt auch das Sternberger V.-P. von 1653 und fügt hinzu: „die so Teutsch lernen, das corpus doctrinae, kommen in sacris nicht weiter.“ Es wurde also als auffällig bemerkt, daß die religiöse Unterweisung der Nichtlateiner damit abschloß. Fragt man, was denn die Visitatoren weiter erwarten konnten, so scheint nichts übrig zu bleiben als eine tiefere Einführung in die heilige Schrift. Es scheint so - wiewohl mir nichts davon bekannt ist - daß an andern Schulen damals schon die Bibel Gegenstand eingehenderer Unterweisung geworden. In der That ist es ja auch höchst befremdlich, wie wenig bis dahin die heilige Schrift in der Schule den Kindern zur Kenntniß gebracht worden war: außer den „etlichen Psalmen und Sprüchen“ wohl nur noch - wiewohl auch davon nichts gesagt ist - die evangelischen Perikopen. Es hat aber in Sternberg auch nach dieser Zeit anscheinend noch lange gedauert, bis Bibellesen und biblische Geschichte Aufnahme fanden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte des Sternberger Schulwesens