Abschnitt 1

Die Zeit der Reorganisation 1803-1850.

Schulzustände seit 1803.


Daß die Schule auf dem Grunde des Reglements von 1803 hätte gedeihen mögen, dafür waren in mancher Beziehung die günstigsten Bedingungen gegeben. Der die Oberaufsicht führende Superintendent war am Orte; bis 1818 war es noch Passow, der Reorganisator der Schule, welcher treu bemüht war, über sein Werk zu wachen; ihm folgte Kleiminger (gest. 1854), welcher es gleichfalls an Fürsorge nicht fehlen ließ. Die Inspektoren, die zweiten Prediger, haben es, soweit ich sehe, an Eifer nicht mangeln lassen. Der erste war der spätere Parchimer Superintendent, Präpositus Francke (s. Walter, S. 204 f.) bis 1809, dessen Ernennung zum Superintendenten für seine Tüchtigkeit auch in Schulsachen bürgt. Ihm folgte Präpositus Blandow (s. Walter, S. 303) bis 1825, von welchem ein oberschulräthlicher Visitationsbericht von 1820 sagt, daß er „sich mehr als andere um die seiner Inspection untergebene Schule kümmere“. Dessen Nachfolger Dietz (s. Walter, S. 303 f.), bis 1847, hat nach Ausweis der Akten namentlich in der ersten Zeit mit nicht gewöhnlicher Energie an der Erhaltung und Besserung der Schule gearbeitet. Endlich Gaedt, seit 1847, (s. Walter, S. 302 f.) unter welchem die abschließende Reorganisation von 1850 zu Stande kam, hat sich mit Eifer den Vorarbeiten für dieselbe gewidmet. Die Lehrer waren zum Theil von vorzüglicher Tüchtigkeit, fast durchweg so, daß ihre Amtsführung zu begründeten Klagen keinen Anlaß bot.


Es darf daher auf diesen ganzen Zeitraum das Urtheil des Oberschulraths erstreckt werden, welches sich in dem erwähnten Bericht von 1820 findet: „Uebrigens fand ich diese Schule beßer als irgend eine der zeither besuchten eingerichtet und beachtet“; nicht minder das Urtheil von Dietz aus dem Jahre 1839: „Zustand der Schule im Allgemeinen gut; die Lehrer tüchtig; die Kinder, wenn sie wollen, können etwas lernen und lernen auch wirklich etwas.“

Bezüglich der Lehrgegenstände ist in zwiefacher Beziehung eine allmähliche Veränderung gegen die erste Zeit bemerkbar: die auffällige Vernachlässigung des Singens in der Schule wurde einigermaßen redressiert, und - ich weiß nicht seit wann - wieder je zwei Stunden Gesangunterricht in den oberen Klassen eingeführt, wogegen die vier Stunden Bibellesen auf die Hälfte herabgesetzt wurden; und ferner ist eine Verschiebung im Realienunterricht bemerkbar: der Geschichtsunterricht wird aus den Privatstunden in die öffentlichen Stunden verlegt, und der Geographieunterricht erweitert, dagegen Naturlehre und Deutschlesen gestrichen. An die Stelle der „Uebung in mündlichen Vorträgen“ tritt „Gesangbeten“.

Der Privatunterricht für die höher Strebenden ist mit der Zeit vom Lektionsplan abgesetzt und wirklicher Privatunterricht geworden. Immer mehr sahen sich die höheren Kreise der Bevölkerung von der öffentlichen Schule ausgeschlossen und auf Selbsthülfe durch Errichtung von Privatschulen angewiesen. Dietz erkannte den Uebelstand und plante eine Wiedereinfügung des höheren Unterrichts, zunächst der Knaben, in das öffentliche Schulwesen; in einem beachtenswerthen Promemoria von 1828 legte er dar: für den Volksschulunterricht seien nicht studierte, sondern nur seminaristisch gebildete Lehrer zu berufen; ein einziger studierter Lehrer, der Rektor, solle, außer einigen Religionsstunden in den oberen Klassen, ausschließlich die Selekta leiten, in welcher die Knaben bis Sekunda des Gymnasii vorbereitet würden. Aber zur Ausführung ist dies nicht gekommen, sondern immer mehr erstand das höhere Privatschulwesen mit allen seinen Gebrechen. Die Schulordnung von 1850 nimmt auf die zu höheren Berufen bestimmte Jugend überhaupt keine Rücksicht mehr.

Der Volks- resp. Bürgerschulunterricht behielt nur einen, aber freilich folgenschweren Mangel: der Industrieunterricht für die Mädchen wollte nicht in Gang kommen. Nach dem Reglement sollten denselben womöglich die Lehrerfrauen ertheilen. Doch wollte sich dies niemals „so fügen“. Für diesen Fall sollte nach dem Reglement „Magistratus dafür sorgen, daß eine andre anständige Frau vom unbescholtenen christlichen Charakter diesen Unterricht ertheile“. Der Magistrat aber sorgte in der Weise dafür, daß er - Nebenschulen gewähren ließ, welche nach wie vor sich bildeten und aus dem Fehlen des Industrieunterrichts an der öffentlichen Schule einen Hauptberechtigungsgrund ihrer Existenz herleiteten.

Denn es ist bemerkenswerth, wie trotz aller Verbesserung des öffentlichen Schulwesens das Nebenschulwesen, auf dessen Unterdrückung das Reglement in erster Linie abzielte, nach wie vor fröhlich weiter blühte. Unablässig ertönen die Klagen der Lehrer über die Concurrenz. Der Stadtschulhalter, dessen Eingliederung in das Kirchenschulwesen recht eigentlich bestimmt war, den Nebenschulen ein Ende zu machen, hatte am meisten zu klagen; aber auch der Küster und die studierten Lehrer. Knaben wie Mädchen, größere wie kleinere Kinder liefen den Frauen und Männern aus dem Handwerkerstande zu, welche „Schule hielten“. Wenn der Magistrat einmal Ernst machte und mit Strafdrohungen einschritt, so half das immer nur auf kurze Zeit. Und die in der Bürgerschaft herrschende Stimmung nöthigte den Magistrat, Nachsicht zu üben.

Vorgeschützt wurde vielfach, wie gesagt, das Fehlen des Industrieunterrichts. Daß das aber mehr nur Vorwand war, zeigt sich darin, daß die Frauen, welche solchen Unterricht zu ertheilen sich erboten, sofort auch zu anderweitigem Unterricht die Kinder annahmen. Und für die Knaben bestand ja dieser Mangel nicht. Und die schulhaltenden Männer, welche Mädchen wie Knaben annahmen, boten ja hierfür auch keinen Ersatz. Eine Zeitlang mußte als Vorwand die angebliche Untüchtigkeit des alternden Küsters Biermann herhalten. Aber unter seinem Nachfolger wurde es nicht anders.

Der tiefer liegende Grund war eine in weiten Kreisen der Bevölkerung eingewurzelte Abneigung gegen das offizielle Schulwesen, welche anscheinend wenn nicht ausschließlich so doch vorwiegend aus religiösen Motiven entsprang.

In den Jahren 1781-83 warf sich in Sternberg ein Schuhmacher Friedrich Henning zum Führer einer vielleicht aus der Zeit Ehrenpforts herrührenden pietistisch-mystischen Richtung auf, welcher auch schriftstellerisch thätig gewesen ist und 1783 wegen Irrlehre und Sektirerei vor dem Consistorium sich zu verantworten gehabt hat. Aus dem Henningschen Kreise stammte der Schneidermeister Großkreuz, von welchem noch jetzt alte Leute der Gemeinde zu erzählen wissen, wie er in einem isoliert stehenden Häuschen still für sich gelebt und für einen „Heiligen“ gegolten habe. Eben dieser Großkreuz ist der hervorragendste Concurrent der öffentlichen Schule gewesen. Die ersten Klagen über sein Schulehalten finde ich aus dem Jahre 1807, aus welchen jedoch hervorgeht, daß er dasselbe schon länger getrieben hatte. Klagen und Verhandlungen über ihn füllen die folgenden Seiten. In den Akten wird er zuletzt 1820 erwähnt. Damals war er noch resp. wieder in voller Thätigkeit. Er starb erst 1835, 72 Jahre alt. Auf den tieferen Grund des Gegensatzes weist hin, daß Superintendent Passow 1811 dem Magistrate vorstellt, wie doch Großkreuz „wegen seiner früheren Verbindung mit Henning und wegen seiner neuerlichen skandalösen Aufführung“ zum Lehrer der Jugend durchaus ungeeignet sei. Ein anderes Mal wurde, als der Magistrat sich außer Stande erklärte, die Nebenschulen ganz zu beseitigen, von seiten der Geistlichkeit darauf gedrungen, daß, wenn denn weiteres nicht zu erreichen sei, auf jeden Fall das eine feststehen müsse, daß in den Nebenschulen kein Religionsunterricht ertheilt werden dürfe, sondern die Kinder mindestens die Religionsstunden der öffentlichen Schule besuchen müßten.

Hiernach vermuthe ich, daß das mit einer sonst unbegreiflichen Hartnäckigkeit sich erhaltende Nebenschulwesen im Zusammenhange stand mit einer tief und weit gehenden pietistisch-volksthümlichen Opposition gegen das offizielle Kirchenthum.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte des Sternberger Schulwesens