Grausamkeit in der Verwaltung.

Der Grausamkeit der Herrschenden entspricht die furchtbare Grausamkeit in der Verwaltung, die sinnlose Vergewaltigung und barbarische Züchtigung des Volkes seit tausend Jahren. Wo der von unvertilgbaren Vorurteilen befangene Souverän der alleinige Richter und so oft auch der Henker ist, da gibt es keine Gerechtigkeit, da herrscht nicht die Justiz, sondern die Polizei. Dies erklärt die traditionell gewordene Allmacht der Staatspolizei in Russland. Die modernen Russen, die sich der polizeilichen Aufsicht, unter der ihr Land seit jeher gestanden, zu schämen begannen, haben uns den Glauben beibringen wollen, daß im alten Russland eine solche Institution wie die der sogenannten dritten Abteilung der Kaiser des neunzehnten Jahrhunderts nicht existierte; daß damals, als die Zaren in patriarchalischer Weise dem Volke zugänglich blieben, kein Raum für geheime Kanzleien war.*) Wir aber haben die Haltlosigkeit solcher Behauptungen durch das traurige Kapitel von der Grausamkeit der Herrscher und Herrscherinnen in Russland von vornherein und wiederholt erwiesen.

Iwans des Schrecklichen Gesetze frappieren im ersten Augenblick durch einen Zug der Humanität; die Torturen und Körperstrafen werden auffallend stark eingeschränkt. Wenn jemand jemanden eines Kapitalverbrechens anklagen will, so muß er nach Moskau kommen und seine Anklage vor dem Richter erheben. Dann wird der Angeklagte herbeigeholt.


*) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren und die Russen. II 115.

Gesteht dieser nicht, so muß der Kläger Zeugen herbeischaffen. Der Angeklagte kann jedoch ein Duell verlangen; das Gottesgericht wird angerufen, und man ist von der Gerechtigkeit dieser Methode so überzeugt, daß Kläger und Angeklagter auch durch Stellvertreter die Entscheidung herbeiführen lassen können; nicht die Personen siegen, sondern die Wahrheit triumphiert. Bogen und Pfeile sind den Kämpfenden verboten. Ihre Angrilffswaffen sind: Wurfspieß, Lanze, Axt und Dolch; sie dürfen sich schützen durch Waffenrock, Schild und Küraß. Bleibt das Gottesgericht erfolglos, oder erweist sich der Verdacht als unbegründet, so braucht der Angeklagte zu seiner vollkommenen Freisprechung bloß ein Moralitätszeugnis seiner Mitbürger. *) Aber dieses schöne Gesetz Iwans ist nur auf dem Papier vorhanden. Der Schreckliche errichtet 1565 die Opritschina, und diese Leibgarde der Auserwählten, die ursprünglich nur für die Sicherheit des Zaren sorgen soll, wird bald zu einer Institution von willkürlichen Polizisten, Spionen und Denunzianten, die das Volk namenlos bedrücken.

Das Beispiel, das Iwan der Schreckliche, der vorletzte Herrscher aus dem Hause Rurik gegeben, befolgen die Romanows schon von Alexej Michajlowitsch angefangen. Dieser zweite Zar aus dem Hause Romanow hat für die den Hof betreffenden Angelegenheiten und für politische Prozesse „die geheime Kanzlei“, die schnell zum Schrecken aller wird. Peter der Große erweitert seines Vaters geheime Kanzlei zu einer wirklichen Staatsinquisition, zum berüchtigten Prikas von Preobraschensk. Auch nachdem die Residenz von Moskau nach Petersburg verlegt worden ist, dauert die Tätigkeit des Preobraschensker Prikas fort. 1718 ernennt Peter zum ersten Male einen Polizeimeister von Petersburg. Der erste Titular dieses Amtes ist ein zur Orthodoxie übergetretener portugiesischer Jude, namens Devier.**) Auf seiner Reise durch Holland im Jahre 1697 hat Peter diesen Devier an Bord eines Handelsschiffes aufgegabelt; er nimmt ihn nach Russland mit und steckt ihn unter die Soldaten.

*) Gerebtzoff, Essai. I 301. — St. Ednic, Dictionnaire de la pénalité. I 301.

**) Waliszewski, Pierre le Grand, p. 46.

1705 ist der Fremdling schon Gardeoffizier, 1709 gar General. 1711 ist er bereits ganz zum Russen geworden und möchte sich mit einer Stockrussin verheiraten, sich dabei auch gründlich für die Zukunft versorgen. Er hat seine Wahl getroffen. Die Erwählte ist alt und häßlich, aber die Schwester des Fürsten Mentschikow. Der allmächtige Günstling Peters faßt diese Werbung als schmachvolle Beleidigung auf und läßt den Unverschämten auf der Stelle von den Lakaien durchpeitschen. Und drei Tage später führt der kleine Jude Devier doch Mentschikows Schwester zum Altar. Von Mentschikows Palast weg war Devier zum Zaren geeilt, und Peter hatte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm als Ersatz für die erlittenen Peitschenhiebe die alte und häßliche Schwester des Beleidigers zugesprochen. Kurze Zeit darauf gerät Devier in Ungnade, aber 1718 ist er plötzlich wieder obenauf, ist er der erste Polizeimeister von Petersburg und in dieser Eigenschaft der ewige Begleiter des Zaren in den Straßen der Hauptstadt. Eines Tages muß Peters Wagen wegen einer beschädigten Brücke Halt machen. Man steigt ab, um den Schaden auszubessern. Der Zar legt ruhig selbst mit Hand an. Endlich ist die Arbeit vollbracht. Peter vertauscht die Werkzeuge wieder mit seiner Dubina, seinem Prügelstock, packt seinen Polizeimeister am Kragen und gibt ihm eine tüchtige Lektion für seine Nachlässigkeit. *) Hierauf steigt er ruhig wieder in den Wagen und lädt Devier ein, ebenfalls Platz zu nehmen: „Cadicj, bratj, setz dich, Bruder!“ und die durch die Fahrtstörung und die Prügelei unterbrochene Unterhaltung zwischen Zar und Polizeimeister wird fortgesetzt. Der Vorfall hat für Devier keine weiteren bösen Folgen. Erst nach Peters Tod ergeht es ihm schlimm. Mentschikow rächt sich für seine Niederlage und verbannt seinen Schwager ins Exil, wobei er nicht vergißt, dem Verbannungsdekret das zärtliche Postskriptum hinzuzufügen: man schlage ihn tüchtig mit dem Knut! —

*) Der geprügelte Polizeimeister blieb seither eine russische Spezialität. Der Polizeichef Nikolajs I., Gideonow, wurde vom Baron Löwenstern geohrfeigt (Löwenstern, Mémoires, II); der berühmte Polizeimeister Alexanders III., Wlassowskij, verdankte seine ganze Karriere den Ohrfeigen, die er sich mit stoischer Geduld applizieren ließ. (Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Russland: ,,Eine Ohrfeigenkarriere“.)

Gegen Spione im Kriege waren die Russen unbarmherzig; einen jungen Polen, der 1514 als Spion von den Russen erwischt wurde, band man an einen Spieß und röstete ihn langsam über einem Feuer wie ein Lamm.*) Die Spionage im eigenen Lande aber wurde gewaltsam großgezogen. Zuerst und in großem Maßstabe von Iwan dem Schrecklichen, der jedem Denunzianten willig Gehör schenkte und den Sklaven, die ihre Herren verklagten, die Freiheit gab. In dem Strafgesetzbuch des Zaren Alexej Michajlowitsch**) wird allerdings unbegründeten Denunziationen schwere Strafe angedroht: „Wenn Jemand vorgiebt, er wisse etwas, was S. M. Leben oder Staat angehe, und wenn er nachgehend leugnet, sagend, daß er solches nur that, um den Schlägen zu entgehen, oder in trunkenem Zustand, so soll er mit der Knute gestraft und seinem Herrn wiedergegeben werden.“ Von ganz anderem Geiste beseelt ist Alexejs Sohn. Der große Peter Alexejewitsch erläßt am 25. Januar 1715 folgenden Ukas: „Jeder, der ein wahrer Christ und treuer Diener seines Souveräns ist, darf ohne Zweifel alle notwendigen und wichtigen Angelegenheiten mündlich oder schriftlich denunzieren, sobald es sich um ein Komplott gegen den Kaiser, um Verrat, Revolte oder Insurrektion handelt.“ Dieser Ukas wird ergänzt durch die Drohung: „Wer ein politisches Komplott kennt und nicht denunziert, verfällt der gleichen Strafe wie der Verbrecher: dem Tode.“ Verwandtschaft entbindet nicht von der Pflicht der Denunziation; Kinder müssen die Väter denunzieren, die Priester ihre Beichtkinder. Sklaven, die ihre Herren wegen einer Konspiration denunzieren, erhalten sofort ihre Freiheit.***)

*) Dictionnairc de la pénalité. IV 12.

**) Struwens Russisches Landrecht. S. 5. § 14.

***) Ivan Golovine. I.a RUssie sous Nicolas I.“. Paris, Leipzig 1845. p. 374.

Der Zar-Reformator reformiert auch das Spionagewesen, vereinfacht kolossal das System, drängt die furchtbarsten Schrecken der Inquisitionsgreuel in zwei Worte zusammen. Er dekretiert: Jeder kann gegen Jeden die Anklage des Hochverrats erheben, indem er ausruft: Slowo i djelo! Wort und Tat. Der Ankläger, der diese Worte ausgerufen hat, stellt sich damit sofort unter den unmittelbaren Schutz des Monarchen. Der Angeklagte aber ist auf der Stelle aller seiner Rechte beraubt. Die Gewalt des Vaters über den Sohn, des Herrn über den Leibeigenen hört auf. Alle, die zugegen sind, wenn Jemand gegen Jemanden diese Worte spricht, haben die Pflicht, den Beschuldigten zu verhaften und ohne Verzug nach dem Prikas von Preobraschensk zu transportieren. Und lebt auch der Unglückliche am Ende des Reiches, so muß er doch mit seiner ganzen Familie, ja mit der ganzen Gesellschaft, die sich im Augenblick der Beschuldigung bei ihm befand, nach Moskau wandern. Im Prikas ist die Prozedur eine seltsame. Hat der Ankläger keine Zeugen, so wird er dreimal der Knutung unterzogen; hält er es aus, ohne seine Anzeige zu widerrufen, so gilt die Anklage als begründet, ja als halb bewiesen. Der Angeklagte kann den Gegenbeweis ebenfalls durch den Knut verlangen. Übersteht er die dreimalige Knutung und erklärt sich noch immer als nichtschuldig, so beginnt die neuerliche Erprobung des Anklägers durch den Knut. Und so fort, bis der Angeklagte gesteht oder der Ankläger widerruft.*) Wen das Unglück getroffen hat, der kann allem Valet sagen, was ihm lieb und teuer ist. Der, gegen den einmal „Slowo i djelo! Wort und Tat!“ gerufen wurde, kann auf Rettung kaum mehr hoffen. Alle Verteidigung ist umsonst, jahrelang schmachtet er im Kerker, bis die Untersuchung beginnt; und dann hat er längst keine Freunde mehr, die für ihn zu zeugen den Mut haben. Verbannung in Sibirien ist das Ende.

Der Ruf: Wort und Tat! wurde das Signal zu einer allgemeinen Demoralisation. Der niedrigste Leibeigene hatte das Schicksal seines Herrn in Händen. Die Rechtspflege wurde unmöglich. Der Verbrecher brauchte gegen den Richter bloß

*) Russische Anecdoten oder Briefe eines teutschen Offiziers an einen Liefländischen Edelmann. Wansbeck 1765. S. 52.

das Wort zu rufen, um seine Verurteilung zu hintertreiben; sofort mußte die Verhandlung über den Fall abgebrochen, der Richter unter der Beschuldigung des Hochverrats verhaftet werden. Der Soldat, der vom Offizier gezüchtigt wurde, rächte sich, indem er: Slowo i djelo! Wort und Tat! rief. Der Offizier verlor sofort seine Gewalt über den Untergebenen, mußte auf der Stelle zur Wache und sich ins Gefängnis werfen lassen. Es ereignete sich sogar der Fall, daß ein Patient, der sich im Spital nicht operieren lassen wollte, gegen den Arzt das verhängnisvolle Wort rief.*)

*) Geschichte Peters des Dritten, Kaisers von Russland. Aus der Handschrift eines geheimen Agenten Ludwigs XV. am Hofe zu Petersburg. Begleitet von der geheimen Geschichte der vornehmsten Liebschaften Katharinen II. durch den Verfasser der Lebensgeschichte Friedrichs II. (Montmorin). Nach der Pariser Originalausgabe, 1799. Bd. I, S. 171.

Ein unkluges Wort, eine harmlose Geste kann Veranlassung zu der verhängnisvollsten kriminellen Untersuchung werden. Ein Bauer wird von einem anderen beschuldigt, daß er in der Trunkenheit den Zaren „in ungewöhnlicher Weise“ gegrüßt habe; der Beschuldigte wird auf die Folter gespannt. Ein anderer Bauer bekommt die Tortur, weil er laut einer Denunziation nicht weiß, daß der Zar jetzt Kaiser genannt werden müsse. Ein Priester wird beschuldigt, daß er von der Krankheit des Zaren gesprochen und die Möglichkeit seines Todes in Betracht gezogen habe; auf die Galeere mit ihm! Eine Frau findet in ihrem Keller Briefe von unbekannter Hand in unbekannter Sprache; man denunziert ihren Fund; man foltert sie, damit sie den Inhalt der Briefe bekanntgebe; sie vermag es nicht; Urteil: sie sterbe unter dem Knut! Eine blinde und epileptische Frau schreit in der Kirche auf; man denunziert sie deswegen, foltert sie. Ein Student wird denunziert, daß er in der Trunkenheit „böse Worte“ gesprochen; Strafe: 30 Knutenhiebe, Ausschneiden der Nasenlöcher, ewige Zwangsarbeit. Der Praporschtschik Timofej Skobejew kommt in gleichem Falle besser davon; er wird von seinem Leibeigenen Akim Iwanow durch den Ruf: Wort und Tat! nach dem Prikas expediert. Der Kaiser selbst verhört Kläger und Angeklagten. Es handelt sich um einen ehelichen Streit. Skobejew war betrunken, verlangte noch mehr zu trinken, seine Frau verweigerte ihm den Wein; da schlug er sie und sagte: „Unser Gossudarj Pjotr Alexejewitsch macht es ebenso!“ Der Zar übt Gnade und befiehlt am 21. April 1721: „Den Praporschtschik Timofej Skobejew soll man für seine thörichten Worte unbarmherzig mit Batogen schlagen, dann freilassen. Der Denunziant Akim Iwanow bekommt einen Freibrief; er und seine Frau und seine Kinder sollen frei sein und leben dürfen, wo sie wollen.“

Welch lockender Lohn für solchen Dienst! Eine ganze Serie von Ukasen droht die schwerste Strafe allen denen an, die etwas, was dem Zaren verdächtig erscheinen könnte, wissen und es nicht anzeigen. Aber wirksamer noch als die Strafdrohungen sind die in Aussicht gestellten Belohnungen. Die gewöhnliche Prämie für eine Denunziation beträgt zehn Rubel. Spezielle Umstände veranlassen weit höhere Verlockungen. Im Jahre 1722 werden in Moskau unter einer Laterne 10 Säcke aufgehängt; jeder enthält 100 Rubel. Eine daneben angeschlagene Ankündigung verspricht dieses ganze berauschende Vermögen Jenem, der den Autor eines im Kremlj aufgefundenen Pamphlets gegen den Kaiser angibt; der Denunziant soll außer dem Gelde eine Anzahl Güter und ein Amt erhalten! Unbeschreibliche Verkommenheit, namenlose Entsittlichung sind die Resultate dieses Systems. Redlichkeit und Vertrauen existieren nicht mehr, in jedem Mitmenschen sieht man nur einen Verräter, Angeber, Verderber. Arretierung und Folterung eines Beschuldigten haben hundert und hundert neue Verhaftungen im Gefolge. Auf der Folterbank nennt man alle Namen, die einem durch Zufall, in der Angst und Verzweiflung in den Sinn kommen. Weiß man keinen Namen mehr, kann der Henker aus dem Gepeinigten nichts mehr herauspressen, dann wird der Delinquent losgebunden; man stülpt ihm eine Arrestantenmütze auf das Haupt und schleppt ihn durch alle Gassen, damit er unter den zufälligen Passanten seine Komplizen bezeichne. Würde die Pest leibhaftig in der Stadt herumwandern, so könnte sie kein größeres Entsetzen hervorrufen. Erblickt man einen von diesen Unglücklichen, so veröden die Gassen, Alles flüchtet, rettet sich. „Die Zunge! die Zunge!“ So bezeichnet das Volk diese durch Martern zu Verderbern ihrer Mitmenschen gepreßten willenlosen Agenten des Prikas von Preobraschensk.

Eine Armee von Spionen und Spürhunden, Entdeckern und Erfindern ist über das ganze Reich verbreitet. Die geheimen Agenten, freiwillige und gedungene, horchen an allen Türen, lauschen an allen Wänden, mischen sich bei den Banketten unter die Gäste, kredenzen den Lcichtzüngigen die geheimnislösenden Weine. Entsendet der Zar einen Heerführer in die Provinz oder ins Feld, oder einen Botschafter ins Ausland, so mischt er unter die Begleiter sorgfältig ausgewählte Kontrollagenten, die mit dem Kaiser in direktem Briefwechsel stehen und über das Leben und Treiben ihres Vorgesetzten minutiösen Bericht zu erstatten haben. Als Peter den Feldmarschall Scheremetjew zur Unterdrückung einer Revolte nach Astrachanj beordert, muß sich der Fürst einen Gardesergeanten als Wächter gefallen lassen; Baron Schleinitz, Peters Gesandter in Paris, wird peinlich beobachtet von einem Expedienten seines Amtes, einem gewissen Schurin.

Nach dem Tode Peters wird der Prikas von Preobraschensk gesperrt. Aber nur der Name verschwindet, das System bleibt; die Rufe: „Slowo i djelo! Wort und That!“ hallen noch Jahrzehnte hindurch schauerlich durch ganz Russland, und die Gefängnisse leeren sich nicht.*) 1726 beschuldigt ein kleiner Bureauschreiber, Wassilij Feodorow, den Kapitän der Reserve Kobylin „aufrührerischer Rede“, und der Denunziation wird ohne Untersuchung Folge gegeben, der Denunzierte ins Gefängnis geworfen, zum Tode verurteilt; des Hingerichteten Güter konfisziert der Staat, aber der Denunziant findet diesmal nicht den erwarteten Lohn; „ich habe,“ klagt er in einem in den Archiven enthaltenen Aktenstück, „von der Beute nichts erhalten als eine Kuh und ein Kalb, ein paar Gänse und ein wenig Heu. Andere Donoßtschiki (Denunzianten) sind für ihren Eifer besser belohnt worden.“

*) Waliszewski, L’héritage de Pierre le Grand. 103.

Manche von diesen Donoßtschiki haben wirklich Karriere gemacht. Ein klassischer Fall: Der Leibeigene Wanka Kain bestiehlt seinen Herrn Filatjew und entflieht. Filatjew verfolgt den Flüchtling, erwischt ihn in einer Straße von Moskau, nimmt ihn gefangen und verurteilt ihn: zwei Tage lang mit einem Bären an einer Kette angebunden zu bleiben; am dritten Tag kommt Filatjew mit der Peitsche, um dem Gefesselten mit einer Tracht Hiebe die Freiheit zu schenken. Aber kaum beginnt die Bastonnade, da schreit der Leibeigene in seiner Angst: „Slowo i djelo, Wort und That!“ Und im Moment ist die Exekution eingestellt, der Herr wird verhaftet, eine Untersuchung beginnt. Zufälligerweise hat Filatjew tatsächlich ein Verbrechen auf dem Gewissen; er hat einen Polizisten umgebracht, und man findet die Leiche des Ermordeten in einem Versteck des Hauses. Wanka Kain, der Dieb steht nun als ein großer Mann da, er wird Detektiv. Das neue Geschäft macht ihm Spaß, es bereitet ihm wolllüstigen Genuß, sich für die Leiden seiner Vergangenheit an den Leiden seiner Nebenmenschen entschädigen zu können, er erfindet Komplotte und Verbrechen, um die Unschuldigsten zu verderben. So liefert er dem Henker eine junge Witwe aus, die sich ihm nicht ergeben wollte; aber da er sie nackt in den Händen des Furchtbaren sieht, erzittert er; er besticht den Henker, daß er sie sanft schlage, und nun heiratet die Gezüchtigte dankbar ihren Peiniger. Wanka Kains Name findet man zuletzt im Jahre 1749 erwähnt, wo er selbst in eine Grube fällt, die er anderen gegraben hat, und infolge einer Brandstiftung zum Tode verurteilt wird.

Die Zarin Anna Iwanowna, in deren Zeit Wanka Kain seine Laufbahn begann, machte übrigens den Versuch, die Furchtbarkeit des Ausrufs: „Slowo i djelo!“ zu lindern. Auf falsche Denunziation wurde die Todesstrafe gesetzt. Es wurde verboten, eine im Gange befindliche Exekution zu suspendieren, wenn der Verurteilte „Wort und Tat“ rief. Also lautete eine Verordnung vom 4. April 1730. Aber sechs Tage später setzte ein Ukas Todesstrafe fest: für denjenigen, „der eine wichtige Angelegenheit nicht denunziert!“ Anna beruft eine Kommission zur Reformierung der Justiz; das Resultat langer Arbeit ist: der Wiederabdruck des Gesetzbuches des Zaren Alexej. Die Trennung der Zivil Justiz von der Kriminaljustiz wird anbefohlen; aber die Wolikita, die traditionelle Verschleppungsmethode, paralysiert die schönsten Absichten. Die Justiz bleibt nach wie vor wild und grausam. Die Willkür herrscht und die Korruption unterstützt sie, ist ihre einzige Dienerin. Eine Regierung von Abenteuerern muß mißtrauisch sein. Der Priester Jossip Rjeschilow wird der Tortur unterzogen, obwohl er noch nicht einmal verdächtig ist; man foltert ihn, um erst zu erfahren, wessen man ihn verdächtigen könnte. Der zwanzigjährige Martin Karlowitsch Skawronskij, ein Verwandter der verstorbenen Zarin Katharina I., sagt scherzend seinen Freunden, was er täte, wenn er König wäre. Man peitscht ihn, um ihm Lust zu solchen Spaßen zu vertreiben. Man foltert auf bloße Denunziation hin, man verurteilt ohne Beweise und verschickt aufs Geratewohl. Der Vizekanzler Golowkin und seine Frau werden zur „Internierrung in Hernang“ verurteilt und nach Sibirien expediert. Berg, der Leiter des Verbannten-Transportes, kann den Ort auf keiner Karte finden, imd zieht wochenlang, monatelang in der Gegend von Irkutsk und Jakutsk umher, wie auf einer Forschungsreise. Hat er den Ort jemals entdeckt? Man weiß es nicht. Man weiß noch heute nicht, wo Golowkin und seine Frau ihre Strafe verbüßten.

Im achtzehnten Jahrhundert, wo jeder Thronwechsel durch eine Revolution bewerkstelligt wurde, jeder Herrscher gewaltsam entthront oder ermordet wurde, jeder neue Machthaber die Günstlinge früherer Monarchen schleunigst zu beseitigen und die möglichen Rivalen von vornherein unschädlich zu machen suchte, war das System der Denunziationen und der Geheimpolizei das unentbehrliche Rüstzeug aller Regierungen. Elisabeth schwor bei ihrer Thronbesteigung, keine Todesstrafe zu verhängen; sie schwor auch, die Tortur nicht mehr anwenden zu lassen. Aber schnell mußte sie ihren Schwur brechen, das Feld vollkommen der Polizeiwillkür überlassen, und weniger noch als zuvor gab es jetzt irgend eine Grenze, an der die Wirksamkeit der Polizei aufgehört hätte. Die Polizei mischte sich in alles, behauptete allwissend, alldurchdringend zu sein, riß die verborgensten Türen auf, drang in die Schlafgemächer ein, schonte nicht die Großen noch die Kleinen, nicht die Geheimnisse der Familie noch der Ehe. Mit dem Schlagwort: Ordnung und Sicherheit! fuhr sie durch das ganze Land, überall Unordnung, Unsicherheit, Verwirrung und Verzweiflung hervorrufend. Der Thron der Zaren imd Zarinnen ist immer schwankend und stets umschleicht ihn die Furcht vor Komplotten. Die Spione und Denunzianten machen sich dies zunutze. 1742 verbreitet jemand das Gerücht, daß im Schlafzimmer der Kaiserin Elisabeth eine Pulvertonne versteckt und entdeckt worden sei. Das Gerücht erweist sich als lügenhaft, aber die Furcht der Zarin ist erweckt und nicht zu bannen. Es erfolgt eine Reihe von Verhaftungen, eine massenhafte Austeilung von Knutenhieben. Elisabeth wagt kaum zu Bett zu gehen, und zu ihrer Sicherheit organisiert sie eine Geheimpolizei, die hinter der Opritschina Iwans des Schrecklichen nicht zurücksteht. Im ganzen Reiche beginnt eine Jagd nach Verdächtigen, das Verhaften von Zehntausenden, das Verschicken von Zahllosen, ohne Grund, ohne Prozeß, ohne Urteil. Und was ist das für eine Polizei! Ein und dasselbe Subjekt ist zumeist gleichzeitig Brigant und Polizist. Im Hause des Grafen Tschemyschow wird ein kleinrussischer Edelmann von dem Wächter erschlagen, der das Haus bewachen soll. Polizeisoldaten überfallen das Haus eines Kaufmannes, ermorden den Besitzer, vergewaltigen und töten seine Frau und seine Nichte und plündern, was nicht niet- und nagelfest ist. Die Edelleute auf dem Lande spotten der Polizei. Der Wojewode von Kolomna, Iwan Orlow, läßt das Polizeibureau von seinen Truppen umzingeln und zerstören. In den Ideen der Zeit ist Brigantentum kein schändliches Gewerbe. Die als Räuber durch die entlegenen Gouvernements ziehen, genießen Ansehen und Popularität. Edelleute vornehmsten Ranges stellen sich an die Spitze von Räuberbanden, belagern die Straßen, machen Gefangene, fordern Lösegelder. Der Räuberhauptmann Sinowjew, ein Vorfahre des Diplomaten unserer Tage, herrscht wie ein abendländischer Raubritter in seinem Gebiet und plündert namentlich Kaufleute. Mit den Behörden steht er auf vortrefflichem Fuße, und da er einmal doch vor Gericht kommt, wird er freigesprochen! 1740 beherrscht eine Räuberbande von 3000 Mann mit Kanonen unter Leitung eines Edelmannes die ganze Gegend an der Oka. Um 1750 erscheint an der Spitze einer Bande eine vornehme Dame, Katharina Dirin; ihre Gefolgschaft bilden ihre Verwandten und ihre Leibeigenen. Sie greift die Herrenhäuser an, raubt und mordet. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts treibt Baron von Ungern-Sternberg in den livländischen Gewässern sein Unwesen als Seeräuber, durch falsche Leuchtfeuer lockt er Schiffe auf Sandbänke und Klippen; er raubt und mordet; und 1802 errichtet er dankbar dem lieben Gott eine Kirche auf einer Insel.*) Alle diese Herren imd Damen erwecken nicht das Interesse der Polizei, die in der politischen Spionage ihren einzigen Daseinszweck sieht.

Von einzelnen Herrschern verurteilt und aufgehoben „für ewige Zeiten“, lebt die Institution der geheimen Kanzlei doch immer neu auf, wenn auch unter anderen Namen. Peter III. erklärte am 7. und 18. Februar 1762, daß er ohne eine geheime Kanzlei regieren wolle; der jähe gewaltsame Tod, den seine Gemahlin ihm schon nach kurzer Zeit bereitete, ermöglichte es ihm, sein Versprechen zu halten. Katharina II., die Peters des Großen Prikas von Preobraschensk „durch die Zeitverhältnisse und die ungebildeten Sitten der Nation“ zu entschuldigen suchte, bestätigte die von Peter III. verfügte Aufhebung der geheimen Kanzlei, doch nur, um eine eigene Institution, „die geheime Expedition“, zu schaffen.**) Paul I. hat seine „geheime Untersuchungskanzlei“; sie wird von Alexander I. wiederum feierlich „für alle Zeit“ aufgehoben, aber unter Nikolaj I. und Alexander II. ersteht sie von 1826 bis 1880 in der „III. Abteilung der kaiserlichen Kanzlei“ als eine furchtbare politische Inquisition neu und unter Alexander III. und Nikolaj II. dauert sie unter verschiedenen Formen und Namen fort.

*) Petri, Gemälde von Livland und Estland. Leipzig 1809. 79—1. Sugenheim, Russlands Einfluß auf Deutschland. I 12. —

**) Biographie Peters III. (von Helbig). Tübingen 1808. I 137 und II 12. — Reimers, St. Petersburg am Ende seines ersten Jahrhunderts. 1805. I 264. — Bredow, Chronik des 19. Jahrhunderts. I 213. — Sugenheim, Russlands Einfluß auf Deutschland. I 54.

„Als ein Instrument der Kontrolle, das selber ohne Kontrolle war, erzeugte diese politische Inquisition,“ so schreibt Leroy Beaulieu, „in den Händen der Machthaber und Tagesgünstlinge Haß, Ehrgeiz, Furcht. Als Werkzeug der Herrschaft diente sie der Verfolgung und der Vertilgung. Von Peter I. bis Alexander II. hat keine Maschine des Despotismus soviel Menschen zermalmt, so geräuschlos und heimlich gegearbeitet, wie diese. Die Zahl ihrer Opfer jeden Standes, jeden Alters und Geschlechtes ist umso schwerer zu bestimmen, als nicht öffentliche Autodafés sie verzehrten, sondern die schweigenden Schneefelder Sibiriens das Geheimnis begruben.“*) Die Chefs der dritten Abteilung unter Nikolaj I. und Alexander II. waren nacheinander: Graf Benckendorff, Graf Orlow, Fürst Wassilij Dolgoruckow, Graf Peter Schuwalow, General Potapow, General Mesenzew, General Drentelen. Man ersieht aus der Liste, daß der Posten nur angesehenen, vornehmen Männern gegeben wurde: Benckendorff war Bruder der Fürstin Lieven; Orlow, später zum Fürsten erhoben, Vertreter Russlands beim Pariser Kongreß; Graf Peter Schuwalow wurde Bevollmächtigter Russlands beim Berliner Kongreß. Es ist charakteristisch für die russischen Sittlichkeitsbegriffe, daß diese vornehmen, gebildeten Männer sich dazu hergaben, Chefs der Spionage zu sein. Reizte die beispiellose Macht den Ehrgeiz so sehr, daß alles Schamgefühl, alles Mitleid erstickt wurde? Der Chef der dritten Abteilung war immer der wahre Vize-Kaiser, ein unumschränkter Herr über Freiheit und Leben aller Untertanen des Selbstherrschers. Er hatte Rechte, die keine Grenzen kannten. Die Paläste der Großfürsten, selbst des Thronfolgers waren vor ihm ebenso wenig sicher wie die Dachkammer, die die ärmste Studentin, oder das Nachtasyl^ das den heimatlosen Studenten beherbergte.

*) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren und die Russen. II 116.

Vor ihm erzitterten die Minister und die Generalgouverneure; vor ihm sprangen die Tore der Festungen und der Gefängnisse auf. Bei Tag und bei Nacht durfte er eintreten, wo er wollte; durfte er verhaften, wen er verdächtig fand. Er führte den simplen Titel: Chef der Gendarmerie, war aber Mitglied des Ministerkomités, und just das wichtigste aller Mitglieder; er erstattete direkt dem Kaiser Bericht, und nur dem Kaiser, zu dem er jederzeit unangemeldet Zutritt hatte. Er bestimmte Verhaftungen, aber auch Ernennungen; sein Wort bezeichnete die unverläßlichen, bürgte für die verläßlichen Beamten. Er brauchte keine Rechenschaft abzulegen über seine Handlungen, er brauchte keine Beweise für seine Anklagen, keine Gründe für seine Verurteilungen. An den Folgen der Wirksamkeit der dritten Abteilung krankt Russland heute. Mißtrauen und Angst beherrschten die Gesellschaft, den engsten Familienkreis. Man wagte selbst vor den Eltern oder den Kindern nicht Worte zu sagen, die irgendwie politisch gedeutet werden konnten. Ssaltykow-Schtschedrin hat in den „Briefen an meine Tante“ mit bitterer Satire die Atmosphäre geschildert, in der man dahinlebte, und gezeigt, wie man frivol werden mußte in seinen Unterhaltungen, um Gefahren zu vermeiden. So lähmend war die Angst, daß selbst Russen im Auslande nur beklommen atmeten.

Diese dritte Abteilung war eine Institution, die niemals zuvor und nirgends in der Welt ihresgleichen hatte. Alexander II. hatte sich anfangs von ihr losgesagt, aber nach dem Attentat von 1866 doch wieder nach ihr gegriffen als nach dem einzig sicheren Rettungsanker für das bedrohte Selbstherrschertum. Da erfolgte die Ermordung der Polizeichefs durch die Nihilisten: General Mesenzew wurde in den Straßen Petersburgs erdolcht, General Drentelen vom 18jährigen Mirskij am hellen Tage vom Pferde geschossen. Jetzt erschrak Alexander vor dem Volksunwillen und opferte 1880 die Institution auf; er unterstellte die Staatspolizei dem Chef der Exekutivgewalt Loris-Melikow. Alexander III. und Nikolaj II. haben aber die dritte Abteilung, wenn auch nicht dem Namen nach, doch tatsächlich wiederhergestellt und ein Gendarmeriekorps aus den Söhnen der vornehmsten Familien organisiert; diese Gendarmen leisten das Gleiche, das die Opritschniki Iwans des Schrecklichen, die Denunzianten Peters des Großen und die Agenten der dritten Abteilung Nikolajs I. und Alexanders II. geleistet haben.*)

*) Ich will nicht übersehen, daß es auch einen Verteidiger der III. Abteilung gegeben hat, und zwar einen deutschen Schriftsteller. Man lese: Adolph Zando, Russische Zustände im Jahre 1850, Hamburg 185 1, S. 216: „Die russische Polizei ist klug, umsichtig und tätig. Ihr allein verdankt Russland die Ruhe und Sicherheit, deren sein ungeheueres Gebiet sich erfreut; sie wacht über alle Laster, steuert dem Bösen, und kein schändliches Treiben, kein unlauteres Vorhaben entgeht dem wachsamen Auge dieses mächtigen Instituts“. Ferner S. 223: ,,Teils böswillige, teils mutwillige Erdichtungen haben alle Welt zu überzeugen gesucht, man sei in Russland stets von Häschern umgeben; Blicke, Worte und Taten würden stets von Spähern überwacht. Wer sich keines Bösen bewußt ist, hat auch nichts zu befürchten. Eine gerechte, wachsame und strenge Polizei sichert die Ruhe und das Leben der friedlichen Untertanen. Ehre darum der russischen Regierung, die sich dieser Aufgabe vollkommen bewußt ist und sie, unbekümmert um böswillige oder hirnlose Verleumdungen standhaften Sinnes durchzuführen versteht!“ Und schließlich ein Erguß auf S. 183 zu Ehren der russischen Justiz und des Knut! ,, Europa übertreibt schamlos. In Russland scheut sich das niedrigste Volk die Strafwerkzeuge des Henkerknechts zu erwähnen. Eine jede russische Dame von Bildung würde erröten, wenn jemand es wagte, einer körperlichen Strafe oder peinlichen Sentenz in ihrer Gegenwart Erwähnung zu tun. Die Zartheit des weiblichen Gefühls würde sich dem widersetzen. In einer gebildeten Gesellschaft würde man es als den größten Verstoß ansehen, wenn irgend Jemand von Exekutionen oder Kriminalstrafen zu reden sich einfallen ließe. Jeder weiß, dies gehört vor die Schranken der unerbittlichen Gerechtigkeit und zu den Attributionen des Kriminalrichters, nicht aber in die Salons der guten Gesellschaft; sogar der Bauer bekreuziget sich, wenn er von entehrenden Strafen reden hört, aus Scheu, seine Gedanken damit zu besudeln. Im Auslande aber, wie ich leider bemerkt habe, ist dieses nicht allenthalben der Fall“.

Die Bedrückung des Volkes durch die Polizei nahm mitunter auch in neuester Zeit solche Dimensionen an, daß die russische Presse, sogar noch vor Begin der Revolutionsepoche, den Mut der Verzweiflung fand, laut um Abhilfe zu rufen. So wagte die Zeitschrift „Russkoje bogatstwo“ einmal einen Artikel über die Vergewaltigungen der Polizeiorgane zu bringen, worin es hieß: „Die Tätigkeit unserer Polizei steht in striktem Gegensatz zu den Forderungen des Gesetzes; dies trägt nicht wenig dazu bei, daß das Ansehen der Polizei in den Augen der Bevölkerung sinkt. Dieser Tätigkeit gegenüber kann der Bürger in den allerelementarsten seine Existenz betreffenden Fragen nicht auf sein Recht, sondern nur auf einen mehr oder weniger glücklichen Zufall rechnen. Hier haben wir es offenbar mit einem jener kleinen Mängel im Mechanismus zu tun, deren Korrektur nicht mit kleinen Maßregeln zu erreichen ist, angesichts der ganz außerordentlichen Machtvollkommenheiten, die der Polizei, wie überhaupt der Administration dem Bürger gegenüber zustehen.“ In der Praxis wird dem Bürger die Möglichkeit nicht gewährt, sich auf gesetzlicher Grundlage den Forderungen der Polizei zu widersetzen oder doch wenigstens auf einer Erläuterung dieser Forderungen zu bestehen. Somit hat denn die persönliche Unantastbarkeit des Bürgers, selbst in dem vom Gesetz geschaffenen Rahmen, einen äußerst problematischen Wert. Oft hat ein in noch so bescheidener Form zum Ausdruck gebrachter Zweifel an der Korrektheit dieser oder jener polizeilichen Verordnung einen Prozeß wegen Beleidigung der Polizeiorgane bei Ausübung ihrer dienstlichen Funktionen zur Folge. Die Möglichkeit, zu gerichtlicher Verantwortung gezogen zu werden, ist in den Augen der Meisten ein Moment, das sie veranlaßt, alle Forderungen der Polizei, ohne Unterschied, unweigerlich zu erfüllen. Privatpersonen dürfen Klagen gegen Polizeibeamte nur bei den diesen übergeordneten Instanzen anbringen, die dann zu bestimmen haben, ob die Angelegenheit auf gerichtlichem oder administrativem Wege behandelt werden soll. Eine so komplizierte Prozedur erschwert dem Bürger die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe. In seinen Beziehungen zur Polizei ist der Bürger ausschließlich auf eine passive Rolle beschränkt und der Möglichkeit beraubt, das Gesetz gegenüber dem ungeschriebenen Recht der Polizei zu behaupten. Die Polizei lebt in den Städten von den Bedrückungen der Gesellschaft. Geld ist der Talisman, der sie selbst gegen offenkundige Verbrecher nachsichtig macht. Der Polizeichef eines Quartiers in einer der Hauptstädte des Reiches hat wenigstens zwanzigtausend Rubel Nebeneinkommen. Ein Polizeibeamter in Odessa, der die Vergnügungslokale zu überwachen hatte, gewann jährlich über zwanzigtausend Rubel allein aus den Trinkgeldern, die ihm zuflossen, weil er die Sperrstunde nicht allzu streng einhielt.*)

Auf dem Lande kümmern sich die Polizisten am wenigsten um Sicherheit und Ordnung. Die russische Regierung gebraucht die Polizei nur zu politischen Zwecken; alles andere ist ihr gleichgültig. Für Spionage ist aber das flache Land kein ergiebiges Gebiet. Deshalb sind Polizeibeamte hier Seltenheiten. Ein einziger Stanowoj Pristaw, der Repräsentant der Polizeigewalt auf dem Lande, muß oft einen Bezirk von 50.000 Einwohnern, die auf einigen hundert von Quadratwersten leben, überwachen. Dieser Pristaw hat soviel mit dem Vertrieb der offiziellen Kundmachungen, der Eintreibung der Steuerrückstände und der Frequentierung der Branntweinschenken zu tun, daß ihm keine Zeit übrig bleibt, für den Schutz der Bewohner vor Räubern und Mördern zu sorgen. Die Gemütlichkeit der polizeilichen Zustände auf dem Lande charakterisiert folgender Vorfall, der sich im Gouvernement Orel ereignete.**) Der Landwächter Nikoritschew führte auf der großen Karatschewschen Landstraße zwei Bauern ins Gefängnis nach Bolchow. Der Wächter war so betrunken, daß die beiden Verbrecher ihn in einen Schlitten legen und dann selbst das Pferd lenken mußten. Die Arrestanten fürchteten, daß der betnmkene Landwächter unterwegs erfrieren könnte, und daß man sie dafür verantwortlich machen würde; sie beschlossen daher, in einer Herberge Halt zu machen. Gedacht, getan. In der nächsten Herberge legen die Arrestanten ihren Wächter auf eine warme Ofenbank und warten geduldig von 4 Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr, bis der Polizist endlich seinen Rausch ausgeschlafen hat. Lammfromm lassen sich die Verbrecher nun ins Gefängnis abführen. Die Obrigkeit aber wußte den zwei Menschenfreunden keinen Dank zu sagen, sondern bestrafte sie, weil sie es gewagt hatten, ohne obrigkeitliche Genehmigung unterwegs zu übernachten!

*) Geheimnisse von Russland. II 35.

**) Konrespondenz der „Lodzer Zeitung“ vom 1./14. März 1906.

Zu den Obliegenheiten der Landpolizei gehört das Eintreiben von Steuerrückständen. In solchen Dingen war man in Russland niemals sanft. Schon der milde Zar Alexej befahl in seinen Gesetzen vom Jahre 1649, von den Untertanen die Schulden ohne Erbarmen einzutreiben. Auch der Privatgläubiger hatte furchtbare Rechte über seinen Schuldner; der Gläubiger konnte dem Schuldner die Freiheit, sogar das Leben nehmen. In der Epoche Iwans des Schrecklichen wurden Äbte und Mönche, die mit den Steuern an den zarischen Schatz im Rückstande blieben, zu Tode gegeißelt. Ähnliche Beispiele gibt es auch aus der Zeit des Zaren Boriß Godunow und noch aus späteren Epochen. Die übliche Strafe für säumige Schuldner, die Abschreckung, praweschij, war folgendermaßen: Man band den Schuldner beim Gerichtshof oder Prikas, dem Gefängnis des Ortes, am Tore fest, und da mußte er bleiben, bis die entsprechende Zeit seiner Strafe um war; erlegte er aber die schuldige Summe, wurde er sofort frei. Nach einem Ukas aus dem Jahre 1558 mußte man für je 100 Rubel Schulden oder Steuerrückstände einen Monat lang die Abschreckungsstrafe erdulden. Bei jedem Schuldner, so berichtet Tatischtschew in seinen Erinnerungen, stand der Pristaw mit dem Knut „und schlug auf den nackten Fuß des Schuldners je nach dem, wie er vom Gläubiger für seine Mühe bezahlt worden war, kräftiger oder schwächer.“ Ein Augenzeuge dieser Strafmethode, Moskewitsch, sagt: die Schuldner wurden in Reih und Glied aufgestellt; darauf teilten die Prügel-Beamten die Verurteilten in Gruppen ein, jeder Pristaw nahm eine Gruppe für sich in Anspruch, und auf ein Zeichen begannen alle ihre Opfer der Reihe nach zu bearbeiten. Jeder Schuldige bekam drei Hiebe. So ging es Tag um Tag. Die Prügelstunden dauerten gewöhnlich von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr vormittags. 1689 verlängerte der Strjeljzen-Oberst die Prügelzeit bis 2 Uhr nachmittags. Selbstverständlich waren die Pristawe nicht unbestechlich, und wer sich mit ihnen auf guten Fuß zu stellen verstand, konnte die Schläge leicht ertragen. Auch durfte man sich bei der Strafe vertreten lassen, statt seiner seinen Diener oder Leibeigenen für die Schläge zur Verfügung stellen! Peter der Große, der für seine Reformen und seine kostspieligen Kriege Geld brauchte, erkannte, daß diese alte Methode wenig praktischen Nutzen brachte. Er gab daher 1711 einen Befehl heraus, den Schuldnern und Steuerrückständigen unbarmherzig ihre Häuser und Magazine verkaufen zu lassen, in keinem Falle aber eine Stellvertretung der Herren durch Arbeiter oder Leibeigene zu dulden. 1722 wurde den Schuldnern Verbannung und Zwangsarbeit auf den Galeeren angedroht; von diesen Strafen wurden auch Geistliche nicht ausgenommen. Zarin Anna Iwanowna kehrte zu der alten moskowitischen Ordnung zurück. 1732 befahl ein Ukas, die Schuldner auf der Wache festzuhalten und unbarmherzig zu schlagen. Der Gerichtshof für Rückstände arbeitete mit äußerster Strenge, so daß hunderttausende Bauern namentlich in den Grenzorten aus Russland flüchteten. Boltin erzählt: „Auf Befehl Birons hielt man die besten Leute bei der Wache und täglich stellte man sie in langen Reihen mit nackten Füßen im Schnee auf und schlug sie mit Stöcken und Beinknöpfen auf die Füße so fest, daß die Schläge hörbar waren.“ 1754 stellte Elisabeth die Petersche Ordnung her, und Stock und Peitsche als Eintreiber von Schulden und Steuerrückständen wanderten in die Rumpelkammer der russischen Sittengeschichte. Die jüngsten Herrscher haben die Prügel wieder herausholen lassen und die Tschinowniki Alexanders II, Alexanders III. und Nikolajs II. übertreffen an barbarischer Prügelwut ihre Vorgänger aus den finstersten Zeiten Russlands. Der russische Schriftsteller Nemirowitsch Danschenko klagte: „Selbst die Bären sind nicht ganz unempfänglich für Eindrücke und wohl fähig, Regungen des Mitleids zu empfinden, nur der Tschinownik kennt kein Erbarmen. Er wird dir, geradeso wie er es mit einem Hasen macht, fünfmal nacheinander das Fell abziehen.“ Im Gouvernement Rjäsan pflegte der Polizeibeamte Popow die Bauern, die ihre Steuerrückstände nicht bezahlen konnten, mit brennenden oder in Salzwasser getauchten Ruten zu peitschen. *) Das Herausprügeln von Steuern und Steuerrückständen ist so alltägliche moderne Methode, daß die russische Presse sich nur ganz krasser Fälle zu bemächtigen wagt. 1891 hatte der Dorfälteste Obydenkow im Orte Nikitin seine besondere Methode erfunden: Er pflegte die zahlungsunfähigen Bauern solange mit den Füßen an der Decke aufzuhängen, bis der Gequälte Rat schaffte. Hatte ein Bauer den Mut, gegen seinen Peiniger eine Klage bei Gericht einzureichen, so wurde er wegen Beleidigung des Dorfältesten mit dem Knut zur Ruhe verwiesen. Selbst in der Zeit der Hungersnot und des Elends bestehen die Steuereintreiber auf sofortige Zahlung. In einem armseligen Dorfe des Gouvernements Wjatka war 1891 das Elend so groß, daß die Bauern verhungerten; die Steuereintreiber aber gingen rücksichtslos zu Werke. In einem anderen Distrikt herrschten Hunger und Feuersbrünste. Die Bauern richteten an den Zaren die Bitte nicht um Hülfe oder Unterstützung, sondern bloß um Nachsicht und Erbarmen bei der Eintreibung der Steuern. Aber die Polizei forderte erbarmungslos die Rückstände bis auf den letzten Kopeken. Die armen Bauern verkauften ihr letztes; das genügte dem Tschinownik nicht, er packte also fünfzig Bauern, ließ sie peitschen und schleppte sie ins Gefängnis. Und von der Distriktsregierung wurde der Beamte zur Rechenschaft gezogen: wegen unangebrachter Nachgiebigkeit, wegen Mangels an Eifer.**)

Die Willkür der modernen russischen Polizei hat mehr als alles andere zu der trostlosen und endlosen Revolution beigetragen, die das heutige Russland zerstört. General Trepow Vater ließ einen politischen Sträfling, der ihn nicht ordentlich gegrüßt hatte, halbtot peitschen; dies war die Ursache zum Attentat der Wjera Sassulitsch und zum Beginn der nihilistischen Aktionen. General Trepow Sohn ließ in Moskau harmlos demonstrierende Studenten in die Gefängnisse schleppen und peitschen; dies war das Signal zur Ermordung des Großfürsten Ssergej und zum Ausbruch der allgemeinen Revolution. Wollte man alle Willkürakte der russischen Polizei sammeln, so würde man mehr Bände füllen müssen, als jemals die Druckerpressen der gesamten Erde verlassen haben.

*) Leroy-Beaulicu, Das Reich der Zaren und die Russen. II 343.

**) E. B. Lanin. Russische Zustände. I 6 — 9.

Aber schließlich würde man immer dasselbe zu sagen haben, denn ein russischer Gouverneur, ein russischer Polizeimeister gleicht stets dem anderen. Jeder Gouverneur handelt so wie jener, den Nemirowitsch-Danschenko einmal als Typus hingestellt hat *): Ein Mann stahl einen mit Heu beladenen Wagen und verschwand. Sein Bruder, ein Knabe, kam in die Gouvernementsstadt, um den Vermißten zu suchen. Der Gouverneur ließ den Knaben festnehmen und fragen: „Wo ist Dein Bruder?“ — „Ich weiß es nicht, ich komme selbst herein, ihn zu suchen.“ — „Man peitsche und foltere ihn!“ befiehlt der Gouverneur. Man peitscht und foltert den Knaben drei Tage lang; am vierten Tage findet man den Jungen erhängt.

*) In - Lanin, Russische Zustände. I 11.

Wer, der sie einmal gelesen hat, wird die Tragödie von Tichoretzkaja vergessen, die im März 1903 die russische wie die europäische Presse beschäftigt hat? Ein junges Mädchen, namens Solotowa, fuhr mit einem Zug der Wladikawkasbahn zu Verwandten. In demselben Kupee saßen der Untersuchungsrichter Pussepp und der Richter Alexandrow. Die schöne Tatjana Solotowa gefiel dem Untersuchungsrichter Pussepp außerordentlich und er machte ihr einen unsittlichen Antrag, der von dem Mädchen zurückgewiesen wurde. Nun verfiel Pussepp auf eine bestialische Idee. Er entnahm dem Reisegepäck des Richters Alexandrow den Säbel und verbarg ihn unter den Habseligkeiten der Solotowa. Als der Zug in der Station Tichoretzkaja Halt machte, befahl Pussepp dem diensthabenden Gendarm, das Mädchen wegen Diebstahls zu verhaften. Vergebens waren die Unschulds-Beteuerungen des Mädchens; sie wurde nach dem Ortsgefängnis gebracht. Als Untersuchungsrichter ließ Pussepp das beschuldigte Mädchen sich vorführen und vergewaltigte es. Um jedoch die Schuld von sich abzuwälzen, wurde die Solotowa den niederen Polizei-Organen, wilden Kosaken, einige Tage hindurch preisgegeben. Bald darauf fand man die Solotowa im Gefangenenhause als Leiche. Die Polizei-Organe verbreiteten das Gerücht, daß die Solotowa aus Kränkung über die Verhaftung sich mit Karbolsäure vergiftet hätte. Doch die Arbeiter der Wladikawkasbahn erfuhren die schreckliche Wahrheit über die Tragödie von Tichoretzkaja. Gleich, nach der Beerdigung der Unglücklichen überfielen sie das Gerichtsgebäude, demolierten es und wollten des Untersuchimgsrichters Pussepp habhaft werden, um ihn zu erschlagen. Das herbeigeeilte Militär stellte die Ruhe wieder her und nahm viele Verhaftungen vor. Pussepp flüchtete sich. Ein Vertreter der „Petersburgskija Wjedomosti“, Fürst Michael Andronikow, begab sich nach Tichoretzkaja, um die Sache an Ort und Stelle zu untersuchen. Er erfuhr schreckliche Einzelheiten. Er erfuhr nicht nur die Tatsache der Vergewaltigung des unglücklichen Mädchens, sondern auch, daß die Karbolsäure von den Polizei-Organen der Leiche der Solotowa in den Mund gegossen worden war, um den Tod des Mädchens als die Folge eines Selbstmordes hinzustellen.*)

Hat es in Russland jemals eine Gerechtigkeit, eine ehrliche Handhabung von Gesetzen gegeben? „Es giebt bey denen Russen,“ heißt es bei einem Reisenden des siebzehnten Jahrhunderts **), „in denen richterlichen Verfahren soviel Verwirung / daß es überaus schwer ist / davon gründlich zu reden. Eine jede Provintz hat ihre Precause oder Hof-Gerichte / worinnen ein Boyar oder Herr ist / der des Czaars Person repraesentiret / und ein Diack oder Cantzler / welcher viel Schreiber oder Secretarien unter sich hat . . . Die schlechte Parole eines Menschen / der einen Bart hat / gilt bey ihnen mehr als eines andern Eyd / oder Schwur / der keinen hat . . . Man erkaufft einen Todschlag durchs Geld: Wann einer ermordet worden / und niemand um seinen Tod bekümmert ist / so ziehet die Justitz deßhalber keine Erkundigung ein.“ Nach Aussage der Ausländer, die Russland zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts besuchten, wie des Engländers Fletcher, gab es in Russland damals „außer der blinden Willkür des Zaren gar keine bürgerlichen Gesetze.“***) Auf dem Papier existierten wohl

*) Neue Freie Presse, 24. Februar 1903.

**) Reise nach Norden. 189.

***) Karamsin IX 287.

bürgerliche Gesetze, aber die Richter urteilten nicht nach ihnen, sondern nach Vorteil und Bezahlung der Parteien. „Der Reiche,“ sagt der russische Historiker Karamsin, „wurde seltener als der Arme für schuldig erkannt. Die Richter schämten und fürchteten sich nicht, das Recht für Geld zu verdrehen.“ Einst berichtete man dem Großfürsten Wassilij, daß ein Richter zu Moskau sowohl von dem Kläger als dem Beklagten Geld genommen hatte und denjenigen verurteilen ließ, der ihm weniger gegeben. Der bestochene Richter, vom Großfürsten zur Rede gestellt, leugnete gar nicht, erklärte sein Vorgehen vielmehr als berechtigt: „Herr, ich traue dem Reichen immer eher als dem Armen, da der Reiche des Betruges und fremden Gutes weniger bedarf.“ Wassilij lächelte, und der Richter kam ohne harte Strafe davon. Aus der Zeit Iwans des Schrecklichen schreibt Barberini: „Was dem Zaren beliebt, das findet das Gericht für recht. So geschiehts, daß Einer einer Kleinigkeit wegen den Bären vorgeworfen, ein Anderer aber, der eine schwere Schuld auf sich geladen hat, entschuldigt wird.

Peter der Große publizierte einen Ukas: „Jeder, der Unrecht zu erleiden glaubt, kann sich direkt an den Zaren wenden, um sein Recht zu erlangen.“ Aber gleichzeitig bedrohte der Ukas denjenigen mit Todesstrafe, dessen Klage sich als unbegründet erweisen würde. Man schwieg lieber, und auch unter Peter dem Reformator hatten die Ausländer, die das russische Reich besuchten, nur die trostlose Überzeugung: „Es giebt hier keine Richter, die nach dem Gesetz, sondern nur Richter, die nach ihrem Willen urteilen.“ Einer der volltönenden historisch gewordenen Aussprüche Peters des Großen lautet: „Der Richter thut besser, zehn Schuldige zu befreien, statt einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen.“ Und doch ließ Peter den Fürsten Gagarin, Gouverneur von Sibirien, in grausamster Weise hinrichten, trotzdem kein Beweis für die dem Angeklagten zur Last gelegten Diebstähle und Dienstverbrechen beigebracht werden konnte. Der Fürst leugnete jede Schuld, gestand selbst unter dem Knut und in der Tortur nichts. Dennoch wurde er zum Tode verurteilt. Am Tage vor der Exekution kam der Zar zu ihm und sagte: „Gestehe Alles, und ich schenke dir das Leben.“ Aber Gagarin entgegnete: „Ich habe nichts verbrochen.“ Am anderen Tage ließ Peter ihn aufhängen. Nicht aus Fanatismus im Kampfe für Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern weil er ein Opfer brauchte, um andere abzuschrecken, und um zu zeigen, daß auch die höchsten Würdenträger vom Arm des Zaren zerschmettert werden. Deshalb wurde diese Hinrichtung auch zu einem pompösen Festschauspiel, zu einer Huldigung für Peters Genie in dem barbarischen Geschmack dieses Herrschers: Fürst Gagarin wird aufgehängt in Gegenwart aller seiner Verwandten und vor den Fenstern des Senats. Nach der Exekution findet ein Festdiner angesichts des Galgens und des Gehenkten statt. Ein paar Tage darauf bringt man die Leiche auf einen großen Platz, wo auf Pfählen noch aus früheren Zeiten Köpfe hingerichteter Würdenträger prangen. Dann erhält Gagarins Leiche einen dritten Ausstellungsplatz am Ufer der Newa. Endlich transportiert man sie nach Sibirien, um sie auch dort auszustellen, wo der Hingerichtete gewirkt hat.

Diese barbarische Methode sollte die Verwaltung kurieren, die Justiz verbessern, die Korruption vernichten? Sie nützte wahrlich nicht im geringsten. Peters Tochter, Kaiserin Elisabeth, mußte einige Jahrzehnte später in einem Befehl an den Senat klagen: „Die unersättliche Gewinnsucht hat bereits eine solche Höhe erreicht, daß aus einigen zur Handhabung der Gerechtigkeit verordneten Gerichtsstellen ordentliche Jahrmärkte geworden, woselbst Wucher und Partheylichkeit das Hauptaugenmerk der Richter sind, und wo die Bosheit durch eine äußerst strafwürdige Nachsicht kräftigst unterstützt wird.“ Und Katharina II. spricht in einem gegen die Richter gerichteten Ukas von ,,gewaltsamer und listiger Gewinnsucht oder deutlicher zu sagen: offenbarem Raub.“ — „La justice en Russie n’existe que de nom,“ schreibt Fürst Dolgoroukow in seinem berühmten Buche*) über Russland unter Nikolaj I. Um sich Gerechtigkeit zu verschaffen, fährt Dolgoroukow fort, muß man, wenn man ein anständiger Mensch ist, zahlen; um zu seinen Gunsten einen ungerechten Akt zu provozieren, muß man zahlen; immer und überall zahlen; oder man muß mächtige und tätige Protektoren haben, unter den Ministem, unter den Mitgliedern der Kamarilla; oder Personen kennen, die mit den Ministern oder der Kamarilla eng liiert sind. Die Richter und Tribunalsekretäre nennen unter sich nur jenen unanständig, der Geld erhält und den Bestecher betrügt; aber wer sich bestechen läßt und sein Wort hält, also nicht den Bestecher, sondern die Gerechtigkeit betrügt, der verdient keinen Tadel.

Und wenn die Richter gerecht und ehrlich sein wollten, wie könnten sie es angesichts dieser barbarischen Verwirrung in den Gesetzen? Seit Jaroslaw im elften Jahrhundert dem russischen Volke das erste geschriebene Gesetzbuch gab, blieben bis auf unsere Tage die russischen Gesetzessammlungen ein wahres Chaos von Verordnungen voller Widersprüche. Iwan III., Iwan IV. und Alexej Michajlowitsch nahmen in ihre Gesetzessammlungen wahllos und willkürlich römische und byzantinische Gesetze, tatarisches Gewohnheitsrecht und russische Überlieferungen auf. Die Kommissionen, die seit Peter dem Großen zur Ausarbeitung eines geordneten Gesetzbuches berufen wurden, haben die Konfusion stets nur vermehrt. Nikolaj I. ließ alle Gesetze und Verordnungen von 1649 bis 1825 in 45 Quartbänden drucken und herausgeben. Nicht weniger als 30.920 Gesetze enthalten diese 5.284 Druckbogen. **) Ein bloß chronologisches Verzeichnis, das dem Werke beigegeben wurde, konnte seinen praktischen Wert natürlich nicht bedeutend erhöhen.

Die meisten russischen Gesetze sind nichts anderes als Umschreibungen kaiserlicher Launen, die dem Augenblick dienten. Man braucht beispielsweise nur die kuriosen Gesetze Pauls durchzugehen.

*) La vérité sur la Russie par le prince Pierre Dolgoroukow. Deuxième édition. Leipzig 1861. (Biblioth. russe, nouv. série, vol. IV et V) I 53.

**) Geheimnisse von Russland. Regensburg 1844. II 57.

Was wird da alles für ewige Zeiten verboten oder anbefohlen! Verboten wird: hellgrüne Kleider und Halbstiefel zu tragen. Verboten werden: Gilets und runde Hüte. Ein feierlicher Ukas verordnet die Art des Haarputzes. Nikolaj I. publiziert einen feierlichen Ukas über die Länge des Schnurrbartes und ein anderes Gesetz über das Rauchen auf den Straßen.

Merkwürdig sind die Verordnungen in bezug auf Privilegien einzelner Stände und Gesellschaftsklassen. Großfürst Wassilij Iwanowitsch erklärt um 1500, daß auch Priester zu Knut und Galgen verurteilt werden dürfen; auf eine Beschwerde des Metropoliten antwortet das Gericht: „Wir strafen nicht den Priester, sondern den Verbrecher.“*) Erst am 9. Dezember 1796 verordnet Paul auf Vorschlag des Synods: „Die Priester sollen nicht mehr geknutet noch sonst körperlich gestraft werden; denn eine an ihnen vor den Augen eben der Pfarrkinder, die aus ihren Händen das Bundesmahl unseres Erlösers empfangen, zu vollziehende Strafe möchte die Denkart des Volkes leicht zur Verachtung des priesterlichen Standes verleiten.“ Für Freie gab es weder in den Gesetzen Jaroslaws noch in denen Monomachs Leibesstrafen. Letztere wurden anfangs nur an Sklaven vollzogen; und zwar unter einem Glockenturme, dessen Glocke das Volk zum Schauspiel herbeirief.**) Die Prügelstrafen wurden zuerst von den Gutsbesitzern gegen ihre Leibeigenen angewendet; später erst führte die Regierung sie ein und bedrohte alle Stände mit ihnen. Für adelige Kriegsleute milderte man jegliche Strafe. Wo man einen Bauer oder Bürger henkte, da setzte man einen Bojarensohn bloß ins Gefängnis oder gab ihm die Batogi. Der Mörder seines eigenen Knechts kam mit einer bloßen Geldbuße davon. Die Kriegsleute von Adel hatten noch sonderbarere Vorrechte in bürgerlichen Rechtshändeln. Sie konnten an ihrer Statt ihre Diener zum Schwure und, falls sie zahlungsunfähig waren, zur Strafe der körperlichen Züchtigung stellen. ***) Aber je näher der Zeit Peters des Großen, je geringer werden die Privilegierten geachtet.

*) Karamsin VII 163.

**) Konstantinopel und St. Petersburg, der Orient und der Norden, eine Zeitschrift. 1806. II S. 324.

***) Karamsin IX 289.

In den Folterkammern erscheinen unter den Händen der prügelnden Henker alle Klassen der Gesellschaft, die Nachkommen der apanagierten Fürsten, die höchsten Würdenträger und Geistlichen, Frauen vornehmsten Geschlechts. Peter der Große läßt im Jahre 1714 Senatoren und 1724 mehrere Priester knuten, die trotzdem ihrer Würden nicht verlustig gehen. Unter Elisabeth werden Frauen öffentlich geknutet. Peter III. befreit den Adel gänzlich von den Körperstrafen, Katharina II. dehnt das Privilegium aus auf alle Verbrecher unter 12 und über 66 Jahren. Paul I. aber vernichtet sämtliche Privilegien, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts peitscht man neuerdings öffentlich alle Welt, ohne Unterschied des Ranges, Alters oder Geschlechts. 1801 hebt Alexander I. die Körperstrafen auf: für Adlige. Bürgerliche und Geistliche, 1808: für Frauen von Priestern, 1811: für die einfachen Mönche. Nikolaj I. befiehlt: „Adlige sind auch dann Körperstrafen nicht unterworfen, wenn sie verurteilt werden, als gemeine Soldaten zu dienen; Adlige dürfen nicht ans Eisen gekettet werden, wozu immer sie verurteilt sein mögen.“ 1835 befreit Nikolaj die Kinder der Priester von Körperstrafen. Erst 1841 erscheint ein Ukas, der gleichzeitig mit den Hoflakaien und anderen niedrigen Beamten die Männer der Wissenschaft und ihre Frauen von Körperstrafen ausnimmt! 1855 sollen kränkliche Verbrecher befreit werden, der Erlaß gelangt nicht zur Veröffentlichung. 1863 werden alle Körperstrafen abgeschafft, ausgenommen für Deportierte.

Bizarr sind auch die Gesetze, welche die Familien Verhältnisse eines Verurteilten betreffen. Die Frau des Verurteilten bleibt in Freiheit, und ihr Mann verliert alle Rechte auf sie, die Frau ist geschieden und kann sich wiederverheiraten. Wenn der Verurteilte aber begnadigt wird und seine Frau mittlerweile noch nicht wieder geheiratet hat, so gewinnt er ohne weiteres alle seine Rechte auf sie zurück. Die vor der Verurteilung des Vaters geborenen Kinder behalten Titel und Rang, die der Vater vor der Verurteilung hatte; die Kinder aber, die nach der Verurteilung geboren werden, müssen die Konsequenzen der neuen Situation tragen. So kann es geschehen, daß ein Teil der Geschwister fürstlichen Standes ist, ein anderer Teil aber in Sibirien als Kolonisten lebt. Frau und Kinder dürfen dem Gatten und Vater in die Verbannung folgen; sie behalten ihre Eigentumsrechte, verlieren jedoch ihre Freiheit, denn sie dürfen nach Russland erst zurückkehren, wenn die Verbannungszeit des Familienhauptes abgelaufen oder der Verbannte gestorben ist. Ergebenheit und Treue werden also dem Verbrechen selbst gleichgestellt.*)

Katharina II. befahl die Aufhebung jedweder Körperstrafe für schwangere Frauen. Alexander I. ging noch weiter und verbot auch das Schlagen der Mutter, solange sie ein Kind säugt. Alexander II. befreite durch seinen Ukas vom April 1863 die Frauen vollständig von der Körperstrafe. Aber unglückseligerweise gestattet das Emanzipationsgesetz von 1861, das im besonderen die Rechte der Bauern regelt, den Wolostgerichten, Frauen unter fünfzig Jahren peitschen zu lassen; und just dieses Emanzipationsstatut ist der einzige Gesetzestext, der den Bauern-Richtern geläufig ist. **) Auch der gelehrte Jurist wüßte sich da schwerlich zurechtzufinden. Denn beide einander so widersprechenden Verordnungen sind in der Ausgabe der Reichsgesetze als rechtsgültig verzeichnet.***) Die Richter in Russland wählen bei solcher Ungewißheit das kleinere von zwei Übeln: es wird fortgepeitscht. Namentlich sind die Dorfrichter bereit, Frauen zu peitschen, wenn deren Ehemänner sich an das Wolostgericht wenden, um ihre Lebensgefährtinnen für eheliche Vergehen züchtigen zu lassen. Es gibt viele krasse Fälle. Im Dukowtschinsker Bezirk wurde ein Weib, das eben Mutter werden sollte, hart gepeitscht, weil es geäußert hatte, der Vater des erwarteten Kindes sollte zur Erhaltung des letzteren veranlaßt werden. Der gesamte Mir mit dem Starosta und die Polizei wohnten der Exekution bei.****) Gesetzgebung und gemeines Recht haben die Körperstrafen abgeschafft, aber das Wolostgericht darf Strafen bis zu zwanzig Rutenhieben verhängen. Und diese Wolostrichter sind größtenteils Analphabeten, die ihre Urteile im Kabak bei einem gemeinsamen Trunk mit den Schreibern und Parteien erwägen.

*) Golovine, La Russie sous Nicolas I. 379.

**) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. II 249.

***) Ausgabe der Reichsgesetze für 1876, II. Band, Artikel 2178; und IX. Band, Anhang, Artikel 102 der Bauernverordnung.

****) Lanin, Russische Zustände. I 11.