Jüdische Ärzte in den Niederlanden

Wir haben im letzten Abschnitt von einem Arzte gehört, der aus Flandern nach Konstantinopel kam und haben von einem anderen vernommen, dass er im Beginne des siebenzehnten Jahrhunderts sich in Amsterdam einige Jahre aufhielt. Es ist unser Augenmerk durch diese beiden, Leo Siaa und Josef von Oandia, auf die Niederlande gelenkt worden. Dieses Land war ehemals ein Teil des deutschen Reiches und war durch Kaiser Karl V. zu einem „habsburgischen Kronlande“ gemacht worden. 1555 übergab er es seinem Sohne Philipp II. von Spanien, und, während Karl V. die Inquisition mit milder Nachsicht hatte walten lassen, wurde sie in Phihpps Händen zur grausamsten Waffe eines unumschränkten Herrschers. Es ist klar, dass der spanische Einfluss und die fanatische Ketzerverfolgung Philipps in erster Linie jüdische Gemeinden und jüdische Ärzte nicht aufkommen ließen. Des berüchtigten Alba Schreckensherrschaft hat wohl überhaupt keine Wissenschaft in den Niederlanden gedeihen lassen, und die nachfolgenden Kämpfe zwischen dem freiheitliebenden Volke und dem ergrimmten Despoten erstickten gewiss ebenfalls jede geistige Regung im Keime. Erst, als sich 1581 die vereinigten Generalstaaten von der spanischen Krone losgesagt und unter Führung des edlen Wilhelm von Oranien gestellt hatten, begann sich das schwergeschädigte Land aufs neue zu entwickeln. Jetzt begannen auch spanische und portugiesische Juden einzuwandern, und bald hatten sich blühende jüdische Gemeinden im Lande, besonders in Amsterdam, gebildet, wo sie ohne Bedrückung und Beschränkung die Gastfreundschaft der eingesessenen Einwohner gemessen durften, und es wird verständlich, dass wir hervorragende Ärzte erst damals, als sich Josef von Candia nach Amsterdam begab, also im siebenzehnten Jahrhunderte, in den Niederlanden antreffen. In diesem Jahrhunderte begann ja überhaupt die glänzendste Epoche der niederländischen Medizin. 1597 hatte Pieter Paaw das erste anatomische Theater errichtet, der unsterbliche Reinier de Graaf, Friedrich Ruysch, Leuwenhök und Swammerdam lebten damals, und Sylvius stand in Leyden der Medizinischen Klinik vor.

Damals lebte und wirkte auch einer der bedeutendsten Ärzte, die sich unter den jüdischen finden und die der Geschichte der Medizin dauernd angehören, in den Niederlanden. Abraham Sacchuth, bekannt unter dem Namen Zacutus Lusitanus, war, wie sein Beiname besagt, Portugiese von Geburt; zu Lissabon war er 1575 als Spross einer altangesehenen jüdischen Familie, die, wie viele andere, unter der Maske des angenommenen Christentums nach dem Verbannungsdekret Emanuels dort wohnen geblieben war, geboren. Sorgfältig erzogen und früh in der lateinischen Sprache unterrichtet, bezog er die Universitäten von Salamanka und von Coimbra, um Medizin und Philosophie mit Begeisterung zu studieren. Als Student verlor er seine Eltern durch den Tod, und Mangel an Existenzmitteln ließ ihn nur mit Entbehrungen das Studium fortsetzen; aber zähe Ausdauer führte Sacchuth zum Ziele, und er war kaum zwanzig Jahre alt, als erden Doktorhut errungen hatte. Er kehrte nach Lissabon zuzurück und lebte dort dreißig Jahre lang als praktischer Arzt, von Arm und Reich gleich begehrt und gleich geliebt; nie hatte er aufgehört, im geheimen als Jude zu leben, und den reifgewordenen Mann bedrückte diese Heuchelei, so dass er all sein Glück in Portugal preisgab, um 1625 in Amsterdam zu erscheinen und öffentlich sich als Jude zu bekennen. „Seine Geschicklichkeit,“ sagt Paquot von ihm 35), „brachte ihm in Holland nicht weniger Ehre ein, als in Portugal; er wurde nicht weniger von niedrigstehenden, als von hochgestellten Personen gesucht. Seine Freundlichkeit gegen Arme, die er freigebigst unterstützte, und denen er niemals seine Hilfe versagte, seine gewinnende und verbindliche Art, endlich seine tadellose Lebensführung verschaffte ihm allgemeine Liebe und Achtung,“ Sein Zartgefühl ging so weit, dass er sich zu geschlechtskranken Frauen von einer ehrenwerten Holländerin, die der portugiesischen Sprache mächtig war, begleiten ließ; sie trug die portugiesischen Fragen des Zakutus in holländischer Sprache den Kranken vor und gab deren Antworten dem Arzte portugiesisch. Auf solche Art erfuhr er mancherlei, was damals weibliche Scheu dem männlichen Frager verheimlicht hätte. Wir besitzen noch ein Lobgedicht auf diesen Arzt, das von einem Spanier, Johannes Pintus Delgado, in seiner Muttersprache verfasst ist; nach Finkensteins 36) Übertragung lautet es:


Krank ist der Mensch vom Sündenfalle her;
Und jeder muss, er weiß es, einmal sterben;
Barmherzigkeit erlöst ihn vom Verderben
Und bietet ihm des alten Glücks Gewähr.
Und so erlangt verlorne Seligkeit
Die Seele wieder mit dem Blick nach oben.
Geheime Pflanzenkräfte muss er proben,
Und auch der Leib genest von schwerem Leid.
Du zeigst für beides uns den rechten Pfad
Und wirst deshalb endlosen Lohn empfangen!
Dein Beispiel lehrt das ew'ge Heil empfangen;
Das Zeitliche besorgt Dein Wort und Rat.
So hilft vom Tode Deine Weisheit allen,
Und Deine Werke müssen Gott gefallen.

Ich weiß nicht, aus welchen Ursachen Häser 37), sagt, dass Zakutus „seines Charakters wegen nicht eben großes Ansehen genossen

35) zitiert von Carmoly.

36) R. Finkenstein, Dichter und Ärzte ; Breslau 1864, pag. 134/135.

37) Geschichte der Medizin, II, Band, pag. 139.


zu haben scheint“. Gestorben ist dieser Arzt im Jahre 1642. Von seinen Werken wurden gedruckt: De inedicorum principum historia, Amsterdam 1629 — 1642, 12 Bände, nicht eine Geschichte der Ärzte, wie der Titel sagt, sondern eine Geschichte der Medizin, eine Zusammenstellung der Beobachtungen und der Lehren der bedeutendsten Ärzte, vor allem Galens und der arabischen Ärzte, wobei Zakutus sich selbst als Anhänger Galens erweist; ferner de praxi medica admiranda, Amsterdam 1634, eine Sammlung von Curiosa aus der Medizin ; drittens epistola de calculo qui gignitur in cavitatibus renum, non in substantia, Amsterdam 1638, gerichtet an Johann van Beverwijck, der in Dordreckt damals Arzt und Lehrer der Anatomie war und eine Schrift de calculo renum et vesicae verfasste; endlich introitus ad praxim et pharmacopoeam, Amsterdam 1641, eine Anleitung für den jungen Arzt zu geschicktem Benehmen am Krankenbett und eine Uebersicht über den Heilmittelschatz. Nach dem Tode des Autors erschien de praxi medica admiranda noch einmal zu Lyon (1643). Gleichfalls portugiesischer Abstammung war Samuel de Silva in Amsterdam. Er war Doktor der Medizin und machte sich durch seine portugiesisch geschriebene Schrift „Tractado da immortalidade da alma composto polo Doutor Semuel da Silva“ (1623), welche sich gegen die Lehren Uriels Akosta wandten, einen Namen. Der Angegriffene antwortete in heftigstem Zorn. Bekanntlich hat Gutzkow diesem Arzte in seinem „Uriel Akosta“ ein schönes literarisches Denkmal gesetzt. Ferner war der Vater des edlen Philosophen Baruch Spinoza Arzt in Amsterdam. Auch er war Portugiese, der das Scheinchristentum abwarf und sich nach Holland flüchtete; anfangs hatte er einige Zeit zu Auvers in Belgien praktiziert, war aber dann weiter nach Amsterdam gezogen und wirkte hier als Arzt bis zu seinem Tode. Baruch Spinoza selbst (1632 — 1677) war zwar kein Arzt, übte aber durch sein philosophisches System des Pantheismus insofern einen Einfluss auf die Heilkunde, als es wesentlich dazu beitrug, die Lehre vom Sensualismus und vom Cartesianismus zu stürzen. Der Sensualismus (Bacon) erklärte als einzigen Weg zur Erkenntnis die induktive Methode und erklärte als Quell der Erkenntnis die sinnliche Wahrnehmung, deren Untrüglichkeit als Axiom galt; der Cartesianismus (Descartes) Ließ das analytische und das synthetische Verfahren zur Erkennung der Wahrheit gelten und stellte in den Mittelpunkt seiner Betrachtung die Wahrnehmung der denkenden Substanz (cogito, ergo sum). Dadurch, dass Descartes als Grundlage der körperlichen Verrichtungen Bewegungen der festen und der flüssigen Gebilde bezeichnete, gab er den Anstoß zur Iatrophysik und Iatrochemie, welche die Medizin des siebzehnten Jahrhunderts beherrschten. Spinoza setzte einen einheitlichen Quell aller Dinge voraus, Gott, und fasste Seele und Körper als ein und dasselbe Individuum auf; in Bacon bekämpfte er den Sensualismus, in Descartes den Materiaiismus. (Vgl. S. E. Löwenhardt, Benedikt Spinoza in seinem Verhältnis zur Philosophie und Naturforschung der neueren Zeit, Berlin 1872).

Dass Orobio de Castro inAmsterdam seine letzten Lebensjahre verbrachte und hier 1687 starb, haben wir bereits erwähnt, als wir von Frankreich sprachen, (cfr. pag. 81).

Um die Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts war noch Samuel Jeschurun zu Amsterdam ein gesuchter Arzt; er ist auch als Dichter bekannt. Gerühmt wird ferner in der niederländischen Hauptstadt in jener Zeit der Arzt Samuel de Mercado.

Im achtzehnten Jahrhunderte erfuhr die Medizin unter den holländischen Juden merkwürdiger „Weise eine geringere Pflege, als unter den Juden anderer Länder. Das ist um so auffälliger als in dieser Zeit Hermann Boerhaave durch Wort und Schrift von seinem Lehrstuhle zu Leyden aus für die exakte Bearbeitung der Heilkunde eintrat und zahlreiche und unsterblich gewordene Koryphäen unserer Wissenschaft (van Swieten, de Haen u. a.) zu Schülern hatte; die anatomischen Studien aber förderten Albinus und Camper ebenfalls von Leyden aus.

Genannt zu werden verdient Salomon de Misa, der, ein Abkömmling portugiesischer Juden, zu Amsterdam geboren wurde. Nach einer sorgfältigen Erziehung studierte er Medizin und erwarb sich den Doktorhut. Er wurde Arzt der portugiesisch-jüdischen Gemeinde zu Amsterdam und genoss einen guten Ruf als Praktiker. Mit ihm war Arzt dieser Gemeinde Abraham de Fonseca, welcher zu Leyden Medizin studiert hatte und von der dortigen Fakultät als Doktor aufgenommen war. Seine Doktordissertation ist 1712 zu Leyden gedruckt worden und behandelte die Pest (cfr. pag. 83). Der deutsch-jüdischen Gemeinde von Amsterdam gehörte Jochanan van Embden an, der nicht nur ein beliebter Arzt war, sondern auch ein gründlicher Kenner der hebräischen Sprache: aus Vorliebe für diese begründete er auch eine hebräische Buchdruckerei zu Amsterdam. Zu derselben Gemeinde zählte Naphtali Herz, der etwa 1735 zu Amsterdam geboren wurde. Er studierte in Holland Medizin, ließ sich aber, nachdem er eine Studienreise durch einen großen Teil Deutschlands unternommen hatte, in Frankfurt an der Oder nieder und lebte hier bis zu seinem Tode als gesuchter Arzt. Wie wir noch erfahren werden, waren die Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und Holland sehr häufige.

Im Jahre 1806 hatte der korsische Eroberer die batavische Republik aufgehoben und als Königreich Holland seinem jüngeren Bruder Ludwig übergeben; da aber dieser nach Napoleons Auffassung die Kontinentalsperre nicht straff genug handhabte, wurden 1810 Holland und Frankreich förmlich vereinigt. In dieser letzten Zeit der Selbstständigkeit Hollands war ein jüdischer Arzt, Doktor Meyer, Arzt am königlichen Krankenhause zu Amsterdam. Doktor Heilbronn erhielt sechs Mal den Preis der Akademie der Wissenschaften; neben ihm glänzte Doktor Stern. Ein Doktor David machte sich um die Einführung der Kuhpockenimpfung verdient, und viele andere hervorragende jüdische Ärzte lebten im Anfange unseres Jahrhunderts in den Niederlanden. Es war für die niederländischen Juden die Übergangsperiode von den geduldeten Fremdlingen zu den gleichberechtigten Bürgern des Staates: denn unter Napoleons Einfluss fand diese menschenfreundliche Tat statt, und schon in der Mitte unseres Jahrhunderts lebten in Holland unter glücklichen Verhältnissen etwa hunderttausend Juden, die Abkömmlinge der spanisch-portugiesischen und der deutschen Einwanderer. Unter ihnen findet sich mancher trefflicher Arzt; aber er gilt nicht mehr als jüdischer, sondern als holländischer Arzt, und darum liegt eine Nennung außerhalb unserer gestellten Aufgabe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte