Jüdische Ärzte in England, Polen und Russland

Es bleibt noch übrig, einen kurzen Blick auf die übrigen Staaten Europas zu werfen, welche zwar ein geringeres Interesse bei einer geschichtlichen Wanderung zu den jüdischen Ärzten, als es Spanien, Frankreich, Italien u. s. w. erweckt haben, beanspruchen, aber doch noch einige beachtenswerte Momente darbieten.

In England war wohl im ganzen Mittelalter die Zahl der Juden sehr gering, und die wenigen hatten meist eine drückende Lage und eine untergeordnete Stellung. Erst, als Karl I., der 1625 das Reich von seinem charakterschwachen Vater Jakob I. in jungen Jahren ererbt hatte, den Bürgerkrieg durch seine Regierungshandlungen heraufbeschworen hatte und als Opfer desselben unter dem Beile des Henkers verblutet war (1649), und als das Inselreich unter dem talentvollen Oliver Cromwell eine Republik geworden war, erst damals wurde den englischen Juden Kultusfreiheit gewährt, und unter den nun einwandernden Juden, namentlich unter den spanisch -portugiesischen Emigranten, befanden sich die ersten jüdische Ärzte Englands. So war der Spanier Isaak Abendana nach langen Irrfahrten durch die Länder des Festlands nach England gekommen und wurde Arzt und Lehrer der hebräischen Sprache zu Oxford. Hier veröffentlichte er 1695 und 1696 hebräische Kalender und eine lateinische Übersetzung der Mischnah, deren sechs Bände starkes Manuscript die Bibliothek von Cambridge noch besitzt. In diese Stadt war Abendana in späteren Jahren übergesiedelt und widmete sich hier ganz dem ärztlichen Berufe bis zu seinem Tode; er stand in regem Briefwechsel mit jüdischen und christlichen geistig hochstehenden Zeitgenossen. Noch zu seiner Zeit war der 1654 zu Venedig geborene David Nieto aus Livorno nach London gekommen (1701), von der portugiesisch -jüdischen Gemeinde berufen; während er aber auf italienischem Boden die Medizin neben den Rabbinatsgeschäften ausgeübt hatte, widmete er sich in London wohl ganz der Verwaltung des Rabbinats, und seine hinterlassenen zahlreichen Werke sind alle theologischen Inhalts.


Wissenschaftlich der bedeutendste war unter den jüdischen Ärzten Englands der von portugiesischen Eltern in London selbst etwa 1692 geborne Jakob de Castro Sarmento. Er studierte Medizin auf besonderen Wunsch seiner Eltern und promovierte im Jahre 1717. Dann begann er in London seine Praxis und übte sie bis zu seinem Tode 1762 ohne Unterbrechung oder Ortwechsel in der Hauptstadt aus. Jakob de Castro beteiligte sich an dem wissenschaftlichen Streite für und gegen die Chinarinde, die im Jahre 1640 aus Peru zuerst nach Europa gebracht worden war, durch seine Schrift De uso et obuso das minhas agoas de Inglaterre, London 1755. Später (1758) erschien von ihm ebenfalls in London „Materia medica physico-historica;“ es sind zwei Abteilungen, von denen eine die botanische, die andere die zoologische Seite der Materia medica behandelt. Dieser Arzt war, wie mancher anderer, auch ein sehr tief empfindender Dichter; schon 1724 erschien in London eine Romanze von ihm, in welcher er die Rettung seines Volkes aus den Händen Hamans besingt 95). Castro überlebte Israel Lyons, der auf englischem Boden, zu Cambridge, 1739 geboren und von seinem gelehrten Vater sorgfältigst erzogen war. Nach Beendigung seiner Studien, die sich auf Medizin, Botanik und Mathematik erstreckten, begleitete er im Jahre 1773 erst den Kapitän Philips, dann Lord Mulgrave auf deren Polarfahrten. Es waren wohl die aufreibenden Strapazen jener denkwürdigen Fahrten, welche die Gesundheit des hochgebildeten Naturforschers untergruben; denn schon 1775 starb er. Er hinterließ ein botanisches Werk, das sich Fasciculus plantarum circa Cantabrigium nascentium nennt, und eine Abhandlung über Differenzialrechnung.

95) E. Finkenstein, Dichter und Ärzte, Breslau 1864, pag. 21.

Dass sich Levison von Berlin nach London als Hospitalarzt begab, wissen wir schon. Aus Deutschland kam außerdem Doktor Elias Eriedberg nach der englischen Hauptstadt und aus Böhmen, als Maria Theresia von dort die Juden auswies, Doktor Jeremias, zwei tüchtige Praktiker, die als Armenärzte der deutsch-israelitischen Gemeinde fest besoldet waren.

In Polen hatte schon Casimir der Große (1333 — 1370), der Stifter der Universität Krakau, die Juden außerordentlich begünstigt. Doch scheint sich Wissenschaft und höhere geistige Bildung nur sehr langsam entwickelt zu haben. Die Blüte jüdischer Gelehrsamkeit in Polen fällt erst in das sechszehnte Jahrhundert; doch war es wesentlich das Studium des Talmuds, welches damals die polnischen Juden auf jene hohe Bildungsstufe erhob. Immerhin gab es zu jener Zeit dort einige verdienstvolle jüdische Ärzte, und der päpstliche Nuntius Commendoni, der in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts Polen durchreiste, berichtete ausdrücklich, dass sich die dortigen Juden vielfach mit der Heilkunde befassten. Schon 1503 erfreute sich in Krakau der Arzt Ezechiel eines großen Zulaufs und hohen Ansehens. Etwa gleichzeitig war Arzt des Erzbischofs Isaak, dem König Alexander aus Hochschätzung die Steuer an den Kronschatz erließ; später wurde Isaak Arzt Königs Sigismund I., der 1506 zur Herrschaft kam. Als Isaak 1510 starb, erfreute sich noch die hinterlassene Familie des Leibarzts der besonderen Gunst des dankbaren Fürsten. Arztrabbiner war sodann in Krakau Moses Fischel: seine Mutter und seine Frau genossen den Vorzug des Verkehrs mit der Gemahlin Sigismunds, einer italienischen Fürstin, und ihn selbt befreite der König von allen Abgaben. Im Dienste Sigismunds II. stand Salomon Aschkenasi und wurde vom ganzen polnischen Adel so hoch verehrt, dass er auf denselben bei der Königswahl nach Sigismunds II. Tode im Jahre 1573 einen außerordentlichen Einfluss ausübte. Das ist um so merkwürdiger, als damals Aschkenasi nicht mehr in Polen weilte, sondern in der Türkei. Hier war er nicht nur Arzt des Sultans Sehms II. und seiner Würdenträger, sondern bewährte sich auch als geschickter Diplomat, der als Gesandter der Hohen Pforte 1576 die Friedensverhandlungen mit Venedig führte und am 6. Juli dieses Jahres den Friedensschluss zustande brachte. Auch Aschkenasis Frau scheint in der Heilkunde unterrichtet gewesen zu sein; man berichtet, sie sei nach dem Tode ihres Gatten an das Krankenlager Mehemeds II. gerufen worden, und von ihren Kräutern sei der Großherr von den Pocken genesen. Dass dann später Nachkommen des Wiener Arztes Herz Günzburg nach Polen kamen, erwähnte ich bereits. Doch gab es zu ihrer Zeit noch andere jüdische Ärzte in Polen Aus Palästina war in das Königreich Elieser Cohen (Elieser Vielschim) in jüngeren Jahren gekommen; er ließ sich zu Cremnitz als Arzt nieder. Dieser Arzt ist der Großvater des berühmten Tobias Cohen, den wir als letzten bedeutenden Arzt unter den türkischen Juden kennen lernten. In Lublin lebten die Ärzte Salomon Loria und Samuel, Mathatias Sohn. Die Vermehrung der jüdischen Ärzte erregte auch hier, wie in den anderen Ländern, den Neid der ungebildeten Berufsgenossen nichtjüdischen Glaubens; an der Spitze dieser Kämpen gegen die jüdischen Ärzte standen Szleszkowski, welcher eine zwei Auflagen (1623 und 1649) erlebende Brochüre gegen sie schrieb, und Schultz, der 1680 in einer Abhandlung den Nachweis zu führen bemüht war, dass es geradezu gefährlich sei, einem jüdischen Arzte einen Patienten anzuvertrauen. „Wie überall, verhallten diese verleumderischen Stimmen, und es gab nach wie vor in Polen gesuchte und gelehrte jüdische Ärzte, die selbst im Königsschlosse Eingang fanden. So hatte der unsterbliche Johann Sobieski, der tapfere Befreier Wiens aus der schwersten Türkennot, einen jüdischen Leibarzt, Doktor Jonas Casal, einen Italiener von Geburt, den er liebte und mit Auszeichnungen beehrte.

Später machte sich Sektengeist unter den polnischen Juden geltend. Schon im siebenzehnten Jahrhunderte verbreiteten sich die Karaiten auch in Polen, und einzelne Ärzte zählten zu ihren Anhängern. Aber im achtzehnten Jahrhunderte überwucherten Kabalisten und Mystiker die wissenschaftlich und frei Denkenden, und Aberglauben und Afterweisheit ließen die geistige Blüte der polnischen Juden rasch verwelken. Die wirksamsten Heilmittel suchten sie in Amuletten und in supernaturalistischem Verkehr, so dass die Zahl der würdigen Jünger Aeskulaps eine kleine wurde. Einer der fähigsten war Elias Pinschow, der zu Pinschow in Polen geboren war, als Arzt wirkte und starb; unendlichen Ruhm erwarben ihm seine mathematischen Studien, deren Früchte eine arithmetische Abhandlung — Malechat Machschebat — und eine geometrische — Berure Middoth — waren, erschienen bei Isaak Speier, Berlin 1765. Etwas später lebte Isachar Behr Falkensohn; er war 1746 geboren und hatte in Deutschland Medizin studiert. Als Arzt wirkte er zu Hasenpoth in Kurland, nachdem er zu Halle 1772 mit einer Dissertation „Animadversiones quaedam ad illustrandam phrenitidis causam“ promoviert worden war. Dieser Arzt ist auch Verfasser der zu Mitau 1777 erschienenen „Gedichte eines polnischen Juden“. Hasenpoth hatte zu seiner Zeit einen zweiten jüdischen Arzt in dem Doktor Josef Lachmann. Hatte Falkensohn deutsche Bildung genossen, so erfreute sich italienischer Schule Je huda Halevy Hurwicz, der Sohn des Rabbiners von Wilna, der sich in seiner Vaterstadt niederließ. Auch er war poetisch hochbegabt und unternahm 1765 eine Reise durch Deutschland und Holland, um seine poetischen Werke in Druck zu geben; sie erschienen in hebräischen Ausgaben teils in Königsberg, teils in Amsterdam. Als Hurwicz starb, übernahm Doktor Jakob Lobschütz seine ausgedehnte Praxis. Zu dessen Lebzeiten gab es auch, wie ich hier nachholen will, in zwei Städten, die jetzt deutsch sind, damals polnisch waren, jüdische Ärzte, nämlich in Breslau Doktor Zadok und in Lissa Doktor Mordechai Eofe.

Nur sehr wenig ist von Russland zu sagen. Iwan Wasiljewitsch, der am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts zu Moskau als Großfürst residierte, versuchte das rohe Volk, das er zu leiten berufen war, auf eine höhere Bildungsstufe emporzuheben. Zu diesem Zwecke berief er aus dem Westen Colonisten in sein Land, und mit diesen siedelten sich wohl zuerst Juden in Moskau an. Aus Venedig kam Meister Levin in das russische Land und wurde Leibarzt am Hofe des Großfürsten; sein Missgeschick wollte, dass des Großfürsten Sohn tötlich erkrankte und nicht mehr genaß. Der Arzt zahlte den Tod des jungen Fürsten mit dem eigenen Leben. Ähnliche Gewalttaten mögen wohl die übrigen Kolonisten bald veranlasst haben, dies ungastliche, asiatische Land zu verlassen. Im sechszehnten Jahrhunderte versuchte Czar Iwan abermals sein Reich zu kultivieren. Er hatte als Leibarzt einen spanischen Juden, Salomon Calvaire; doch auch dieser Arzt musste den Despotismus seines Herrn fühlen, so dass er ihn verließ und in Polen sich ansässig machte. Später soll noch einmal ein Doktor Salomon aus Italien auf seinen Kreuz- und Querzügen, die ihn nach Frankreich, Deutschland und Polen geführt hatten, auch nach Russland gekommen sein und dort einige Zeit als Arzt tätig gewesen sein. Nun, wir alle wissen, wie unendlich noch heute Fesseln und Ketten die Juden Russlands bedrücken und an freier Geistesentfaltung hindern, wie tief wohl als Folge dieser Knechtschaft die Bildung der russischen Juden zumeist gesunken ist, und wir alle wissen, wie schwer und wie spät Wissenschaft überhaupt in Russland ein Asyl und eine Heimat gefunden haben. Die Geschichte der Medizin insbesondere ist hier Jahrhunderte lang ein unbeschriebenes Blatt geblieben; ,,noch im achtzehnten Jahrhunderte waren die meisten in Russland ansässigen Ärzte unwissende Abenteurer“ 96). Also wird es aus diesem doppelten Grunde eine fruchtlose Aufgabe sein, nach jüdischen Ärzten in Russland weiter zu forschen.

96) Häser, Geschichte der Medizin. n. Band, pag. 338.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte