Jüdische Ärzte im deutschen Sprachgebiete

Über unsere deutsche Heimat habe ich bisher fast ganz geschwiegen. Die deutschen Juden haben einmal unter Ausnahmegesetzen, unter Beschimpfungen und Demütigungen mehr gelitten, als die Juden aller anderen Länder; wenigstens wechselten dort Perioden friedlich-freundlicher Duldung mit Epochen plötzlich, gleichsam explosiv ausbrechenden Hasses, während hier das Feuer der Missachtung und Verfolgung eigentlich niemals ganz verlosch, sondern entweder leise glimmte oder in heller Flamme ausbrach. Die freie Entfaltung des Geistes war den deutschen Juden verwehrt; während Salerno und Montpellier, die, wie wir sahen, das Mekka der Medizinbegierigen im Mittelalter waren, jüdischen Jünglingen die Teilnahme an der wissenschaftlichen Nahrung gestatteten, verschlossen die deutschen Hochschulen denselben die Pforten. So vertieften sich andererseits die deutschen Juden mehr, als die anderen, in das Studium des Talmuds, der Kabala und der anderen theologischen Schriften, und sie hatten geringen Anteil am friedlichen Wettbewerb um die Palme in den profanen Wissenschaften. Jüdische Ärzte mag es gewiss gegeben haben — denn Juden gab es in manchen Gegenden Deutschlands und Österreichs schon in den frühesten Zeiten, zuerst vielleicht als Handelsleute aus dem römischen Reiche dahin eingewandert (z. B. suchten die Regensburger Juden 1477 dem Kaiser Friedrich III. nachzuweisen, dass bereits in vorchristlicher Zeit Juden in Regensburg ansässig waren 38), und, wo wollten die Ausgestoßenen anders Rat und Hilfe in Krankheitsfällen finden, als in ihrer Mitte? Aber die Bildung dieser ersten jüdischen Ärzte mag eine geringe, kaum auf der Höhe ihrer Zeit stehende gewesen sein; denn ich bezweifle, dass ihnen eine andere Grundlage, als die talmudische Medizin, zu Gebote stand, halte es sogar für möglich, dass in den orthodoxesten Gemeinden nach alttestamentlicher Anschauung die Krankheiten als Strafe des zürnenden Gottes betrachtet und als bestes Heilmittel Gebete angesehen wurden. Zu berücksichtigen ist auch, dass die grausamen, oft wahnwitzigen Verfolgungen des Mittelalters innerhalb des deutschen Sprachgebietes eben alles von Grund aus vernichteten, was den Juden gehörte, dass also etwaige Aufzeichnungen über jüdisches Leben und jüdische Ärzte vom Feuer, etwaige Augenzeugen und Zeitgenossen verdienter Männer von Feuer und Schwert vertilgt wurden. Horovitz, der die Geschichte der jüdischen Ärzte in Frankfurt am Main geschrieben hat 39), bemerkt ausdrücklich: „Aus der ersten Blütezeit der Frankfurter Gemeinde, die im Jahre 1241 in der ersten „Judenschlacht“ ein so jähes und erschütterndes Ende fand, ist keine Nachricht für unseren Gegenstand erhalten. Auch die Jahre der zweiten Ansiedelung, die zu neuer Blüte, aber auch zu neuen Leiden führte, schweigen für uns.“ Dieses eine Beispiel zeugt für alle weiteren. Endlich ist darauf hinzuweisen, dass im frühen Mittelalter die Medizin im heutigen Deutschland und Österreich überhaupt eine sehr vernachlässigte, wenig gepflegte und noch weniger geförderte Wissenschaft war. Erst, als die arabischen und griechischen Schriften in die lateinische Sprache übersetzt wurden (wir haben gesehen, welchen Anteil an dieser Arbeit jüdische Ärzte hatten, z. B. Ferragius, Jakob Montino u. a,), begann das Wiedererwachen der Wissenschaften und, man kann sagen, die Geburt der wissenschaftlichen Medizin auf deutschem Boden. Regelmäßige anatomische Vorlesungen begannen z. B. erst 1433 in Wien und 1460 in Prag; im heutigen deutschen Reiche erhielt 1482 Tübingen wohl zuerst das Recht, Sektionen vorzunehmen. Weit länger dauerte es aber, bis die Chirurgie als „ehrlicher“ Beruf galt. Noch die deutschen Ärzte des sechzehnten Jahrhunderts schämten sich chirurgischer Operationen und geburtshilflicher Eingriffe und hielten beides für unwürdig ihres Standes. Selbst als Karl V. 1548 die Chirurgie als „ehrliches Handwerk“ erklärt hatte und Rudolf II. diese Erklärung im Jahre 1577 wiederholt hatte, machte sich keine tiefgreifende Änderung in dieser Auffassung des ärztlichen Standes geltend; sondern erst das achtzehnte Jahrhundert hat die Scheidung zwischen Ärzten und Wundärzten in Deutschland aufgehoben.

38) Wiener, Regesten zur Geschichte der Jaden in Dautschland während des Mittelalters, Hannover 1862. Nr. 668.


39) erschienen 1886 bei J. Kauffmann, Frankfurt a. M.


Alle diese Umstände machen es leicht begreiflich, wenn der jüdische Leibarzt Karls des Kahlen, Zedekias, von dem wir bereits sprachen, lange Zeit eine vereinzelte Ausnahme blieb und nach ihm Jahrhunderte vergingen, ehe es gelingen will, che Spuren jüdischer Ärzte im deutschen Sprachgebiete zu entdecken. Die ältesten Spuren, die ich in dem außerordentlich zerstreuten und teilweise schwer zu beschaffenden Material aufzufinden vermochte, führten mich auf das dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert zurück. In Wien gab es nämlich etwa seit dem Jahre 1000 Juden; denn in einem Gutachten der Hofkammer zu Wien 40) heißt es „ob nun die Juden in Österreich und zu Wien, nachdem Sie über Siebenhundert Jahr toleriert worden, u. s. w.“, und dieses war vom Jahre 1672. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass sich darunter auch Ärzte gefunden haben werden. Wahrscheinlich ist es aber, dass diese sogar zu christlichen Kranken gerufen worden sind; denn historisches Faktum ist es, dass 1267 auf einem Konzil zu Wien den jüdischen Ärzten verboten wurde, ihre Kunst an Christen auszuüben. Es ist wohl erlaubt anzunehmen, dass die Ursache eines solchen Beschlusses sich nicht allzuweit vom Konzilorte befunden haben wird und, da in Wien selbst Juden damals „toleriert“ wurden, werden wohl hier diese Ärzte, die bekämpft wurden, gewesen sein. Ferner müssen zur Pestzeit 1348 im Südwesten Deutschlands unter den Juden Ärzte gewesen sein; denn unter den unglücklichen Juden, welche damals in Mühlhausen, Worms, Ulm, Freiburg, Konstanz, Metz und anderen Orten unter der Anklage, durch Vergiftung der Brunnen die Pest wissentlich veranlasst zu haben, verhaftet, gefoltert und zum grausamsten Tode verurteilt wurden, befand sich, wie aus dem „Castellani Chillionis Antwortschreiben ahn die Statt Strassburg de anno 1348“ 41) hervorgeht, ein Wundarzt. „Erstlich Balavignus der Jud, Wundartzt, Inwohner zu Thonon“ heißt es, und an einer späteren Stelle „dieser Balavigny sagt auch, weil er ein Wundartzt ist“.

40 ) abgedruckt bei Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt im 17. Jahrhundert in Wien, Wien 1864 pag. 97.

41) abgedruckt in Hecker-Hirsch, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters, Berlin 1865, pag. 97/98.


Abgesehen von diesen dürftigen Notizen, gelingt wohl einer der ersten positiven Nachweise jüdischer Ärzte im deutschen Sprachgebiete in Frankfurt a. M. Dort gab es schon am Ende des vierzehnten Jahrhunderts einen anerkannten „Judenarzt“, Jakob von Straßburg; er wohnte 1373 in der Stadt außerhalb der Judengasse und übte die Heilkunde bis 1396 aus. Um dieselbe Zeit praktizierte in Speier Meister Lembelin als geschickter Arzt, und in Schweidnitz stand ein Augenarzt Abraham in hohem Ansehen. Ja, aus Regensburg wird berichtet, dass sich Leute schon damals beklagten, dass fast alle christliche Kranken von jüdischen Ärzten behandelt würden. Interessant ist es aber vor allem, dass in diesen frühesten Zeiten, bis zu welchen sich jüdische Ärzte in Deutschland und dem angrenzenden deutschen Sprachgebiete verfolgen lassen, einige bereits zu Ehrenämtern gelangten. Meister Simon stand im Dienste des Erzbischofs von Böhmen (1354) als Leibarzt. Pfalzgraf Ruprecht der Ältere erklärte unter dem Datum des 27. April 1362 von Neumarkt in der Oberpfalz aus, den Juden Godliep wegen der Dienste, die derselbe seinem Hofgesinde geleistet hat und auch ferner leisten wird, in seinen Schirm und zum Arzte anzunehmen. 42) Im Jahre 1376 ließ ein adliger Herr (von Hammerstein) einen jüdischen Arzt an sein Krankenbett rufen, und in Basel war zu gleicher Zeit ein Jude, Meister Jossel, als Stadtarzt gegen einen Jahrgehalt von 25 Pfund fest angestellt; auch sein Nachfolger, Gutleben, der nur 18 Pfund empfing, war Jude. Eine ganze Reihe besoldeter jüdischer Stadtärzte hat sodann Frankfurt a. M. gehabt. 1388 soll schon ein Meister Isaak angestellt worden sein. Sicher wurde 1394 aus Regensburg Salomon Pletsch berufen, um das Amt eines Stadtwundarztes in Frankfurt a. M. zu verwalten; er erhielt als Entgelt jährlich 36 Gulden und sechs Ellen Tuch von derselben Feinheit und Farbe, wie andere städtische „Diener“ sie trugen. Dafür war er verpflichtet, die Mitglieder und alle Diener des Rats, ebenso alle „sieche Juden“', soweit sie im Spital aufgenommen wurden, unentgeltlich zu behandeln und von den Bürgein nur mäßigen und bescheidenen Lohn zu fordern. 43) 1398 ward dann Meister Isaak Friedrich in den Dienst der Stadt genommen, erhielt aber nur 20 Gulden Jahresgehalt. Um dieselbe Zeit praktizierte in Frankfurts jüdischer Gemeinde der Arzt Baruch.

Im Jahre 1407 nahm der Bischof Johann I. von Würzburg den Juden Seligmann aus Mergentheim zu seinem Leibarzte und befreite ihn nebst seiner Frau, seinen Kindern und seinem Gesinde von jeder Abgabe 44); wir werden sehen, dass hundert Jahre später unduldsamere Männer dieses schöne Bistum verwalteten. Schon zu seiner Zeit bewies ein Amtsgenosse, Bischof Georius, einen hohen Grad von Verachtung gegen die jüdischen Ärzte. Er bestimmte in löblicher „Weise, dass nur geprüfte Ärzte in seinem Bistum praktizieren dürften; aber die Ursache dieser weisen Maßnahme war eine Beschwerde der Universität zu Wien „quomodo aliqui rudes et ydiote ymmo interclum mumulieres indoctae et quod despectabilius est, Judaei, qui nee morbos personarum nee causas eorundem sciunt cognoscere, se de Medizinae practica praesumptis ausibus intromittunt.“ 45) (datiert vom 5. Februar 1407 Wienne) — es stellte also dieser Kirchenfürst die jüdischen Ärzte noch hinter die Kräuterweiber! Um so interessanter ist es, von Johanns I. Nachfolger, dem

42) Wiener 1. c. 238a pag. 213.

43) Horovitz. 1. c. pag. 6.

44 ) Wiener, 1. c. 424 pag 164.

45) Wiener, 1. c. 423 pag. 164.


Bischof Johann II. von Würzburg, zu hören, dass er sogar einer jüdischen Frau erlaubte, in seinem Machtbereiche ärztliche Praxis auszuüben. Vom 2. Mai 1419 ist die Urkunde datiert, die der „Judenärztin Sarah“ die Erlaubnis gab , ihre Kunst im Bistume Würzburg frei auszuüben gegen eine jährliche Steuer von zehn Gulden und eine Zahlung von zwei Gulden statt des goldenen Opferpfennigs 46), und am 22. Mai desselben Jahres erklärte der Domherr zu Würzburg, Reinhart von Masspach, dass die genannte Judenärztin Sarah zu Würzburg in alle Güter Friedrichs von Biedern eingesetzt worden ist. 47 ) Es ist diese weitgehende Duldsamkeit wohl daraus zu erklären, dass damals in Würzburg ein Mangel an Ärzten herrschte; denn an die 1402 gegründete Hochschule von Würzburg scheinen zwar Lehrer aller Fächer, nicht aber Lehrer der Arzneikunst gerufen worden zu sein, und als ihr Gründer, Bischof Johann I. gestorben war (1411), da hörte die Existenz dieser Hochschule überhaupt auf, und Lehrer und Schüler zogen gen Erfurt. 48) In Hinblick auf die heute viel erörterte Frage, ob Frauen zum Studium der Heilkunde zuzulassen seien, ist zu erwähnen, dass damals diese Sarah nicht die einzige Judenärztin war, sondern zu Frankfurt am Main eine Jüdin Zerlin gleichfalls die ärztliche Praxis betrieb und besonders als Auoenärztin großen Ruf o-enoss. Dass diese Aerztinnen sich einer großen Klientel und besonderer Wertschätzung erfreuten, beweist die Geschichte Sarahs und Zerlins. Denn Sarah konnte sich von ihrem erworbenen Vermögen ein Rittergut kaufen (d. s. wohl die Güter des Friedrich von Riedern), und vor Gericht vertrat ein Ritter von Wissentann ihre Sache. Zerlin aber hatte das Privileg, ausserhalb der Judengasse wohnen zu dürfen; die gewünschte Steuerfreiheit erhielt sie zwar nicht, doch wurde nach ihr einer Judenärztin, die von auswärts zugezogen war, im Jahre 1494 wenigstens eine Abgabe erlassen, das sogenannte Schlafgeld, welches fremde Juden für jeden Tag ihres Aufenthalts in Frankfurt dem Rate zu zahlen hatten, damit „sie hier bleibe“, wie es heißt. 49) Jüdische Ärztinnen werden übrigens in Frankfurt a. Main im ganzen fünfzehnten Jahrhunderte genannt (1393, 1408, 1431, 1433, 1435, 1436. 1439, 1446, 1492—99).

46) Der goldene Opferpfennig war eine besondere Abgabe der Juden in Deutschland, die zu Weihnachten alljährlich zu entrichten war.

47) Wiener, 1. c. No. 517, 518, pag. 182.

48) vgl. J. B. Scharold, Geschichte des ges. Medizinalwesens im ehemaligen Fürstentum Würzburg, Würzburg 1824

49) Horovitz, 1. c. pag. 9.


Gehen wir in chronologischer Folge weiter, so begegnen wir im Anfang des Jahres 1432 einer Urkunde, laut welcher Herzog Friedrich zu Tirol den Juden-Meister Rubein, genannt der Arzt, samt seinem Hausgesinde aufnimmt und bewilligt, dass er Steuer- und zollfrei in Tirol sitzen soll, ,,wan Er sich seiner Arbait mit Arczney erneret und dhainen Gesuch nicht treibet.“ 50) Herzog Friedrich der Jüngere aber hatte vielleicht selbst einen jüdischen Leibwundarzt: denn unter dem 29. Januar 1439 verkauft er seinem Wundarzt Niklas Unger ein Haus in der Judenpasse zu Graz. König Ladislaus von Böhmen, der im übrigen sehr judenfeindlich gesinnt war und die Juden aus Olmütz, aus Brunn und aus Breslau vertrieb, hatte einem jüdischen Arzte einen Geleitsbrief ausgestellt. Er ließ sich, mit diesem ausgerüstet, in Wien als praktischer Arzt nieder, und die Medizinische Fakultät zu Wien erhob im Dezember 1454 aus diesem Grunde beim König Ladislaus Vorstellungen. 51)

Um dieselbe Zeit finden wir wieder im Bistume Würzburg einen jüdischen Arzt; im Mai 1456 nahm Bischof Johann HI. den Judenarzt Heylmann in seinen Schutz, erlaubte ihm, innerhalb der Grenzen seines Hochstifts die freie Praxis und schärfte den Amtleuten ein, Beleidigungen und Angriffe auf seine Person streng zu bestrafen. 52) Diese letzte Bestimmung gestattet den Rücksckluss, dass das Volk in Süddeutschland den Juden nichts weniger als pünstiggesinnt war; Beweis dafür ist, dass kurz vor diesem Beschlusse die Juden aus Mainz und Speier verjagt worden waren, kurz nachher aus Bamberg vertrieben wurden.

Der humanste Herrscher aus dem Hause Habsburg in jener Zeit war entschieden Kaiser Friedrich III., der im Jahre 1440 Albrecht II. gefolgt war und länger, als fünfzig Jahre in Deutschland herrschte; wennschon er als Regent den Vorwurf der Kraftlosigkeit und Ohnmacht auf sich lud, so ist ihm doch als Menschenfreund die Nachwelt Dank schuldig. Kaiser Friedrich III. selbst hatte einen jüdischen Leibarzt, Jakob Loans, den er so hoch schätzen lernte, dass er ihn in den Ritterstand erhob. Dieser war persönlich bekannt und befreundet mit dem unsterblichen Reuchlin (seit 1492), der sich von ihm in der hebräischen

50) Wiener, 1. c. 185, pag. 242.

51 ) Wiener, 1. c. No. 226, pag. 248.

52) Wiener, 1. c, Nr. 634, pag. 203.


Sprache, wie später von dem jüdischen Arzte Obadiah Sforno (vgl. Jüdische Ärzte in Italien), unterrichten ließ, Reuchhn sprach noch in späteren Jahren voll Dankbarkeit von Loans und bekundete ihm selbst diese Gesinnung in einem hebräischen Briefe, den er nach Jahren an ihn richtete. Besonders gerühmt wird die Treue und Ausdauer, mit welcher dieser Arzt seinen kaiserlichen Herrn zu Linz im Jahre 1493 bis zur Sterbestunde pflegte. Der dankbare Kaiser Friedrich empfahl noch auf dem Sterbelager seinem Sohn und Nachfolger, dem ritterlichen Maximilian, die Juden seines Reiches mit Wohlwollen zu behandeln; der Sohn erfüllte dies Vermächtnis seines Vaters. Sein Leibarzt, Peter Ricius, war ein getaufter Jude, und sein gerechtes Benehmen in der Pfefferkornschen Sache haben wir bereits kennen gelernt, als wir von Bonet de Lates, dem Leibarzte des Papstes Leo X., sprachen (cfr. pag. 69). Kaiser Friedrich III. hatte auch einem jüdischen Wundarzte, namens Michel, 1478 einen Gnadenbrief ausgestellt. In diesem heißt es: „Bekennen, daz wir angesehen haben den vleis, so Michel, Jude, Wundarczt, zu erledigung unsrer lanndlewt, so von den Turcken 53) gefangen und gen Konstantinopel gefurt worden sein, gehabt hat und haben im dadurch und von sundern Gnaden erlawbt und vergunt wissentlich mit dem brieff, daz er sich in unsern Landen Steir Kernden und Krain in unsrer Stet aine darin Juden wonhaff't und gesessen sein wo ihm daz fueg setzen und darin wonen mag 54)“. In Frankfurt am Main lebte zur Zeit Friedrichs III. Salomon von Zynonge und zur Zeit Maximilians Josef von Zynonge. In den letzten Regierungsjahren Maximilians, also am Ausgange des Mittelalters, war der jüdische Arzt Moses von Aschaffenburg hochberühmt, so dass ihn die Gräfin Wehrdenberg an ihr Krankenbett rief und die Königsteiner ihn dem Frankfurter Rate empfahlen, wie die Medizinalakten der Stadt Frankfurt vom Jahre 1511 erzählen 55).

53) Die Türken streiften von dem 1453 eroberten Konstantinopel aus unter Kaiser Friedrichs Regierung bis nach Kärnthen hinein.

54) Wiener, 1. c, Nr. 236, pag. 249.

55) Horovitz, 1. c, Anmerkung 4, pag. 7.


Schon um diese Zeit regte sich im deutschen Reiche von neuem der Judenhass und warf seine Schatten auch auf die jüdischen Ärzte. Im Jahre 1505 erließ ein Nachfolger der edlen Johanns im Bistume Würzburg, Bischof Lorenz von Bibra eine Ärzte- und Apotheker-Verordnung, in der das Kurpfuschertum verboten, den Ärzten aber anheimgestellt wird, einen Eidschwur auf treue Pflichterfüllung zu leisten, unter sich in Eintracht zu leben und nicht durch ihre Zwietracht Kranke dem Tode zu überliefern, ihre Patienten fleißig zu besuchen und von den Apothekern sich für die verordneten Arzneien keinen Gewinnanteil auszahlen zu lassen. Dieses weise Gesetz, das wir Ärzte von heute uns heiß zurücksehnen könnten, enthält aber auch eine Bestimmung folgenden Wortlauts: „Exquo non raro, imo quam frequenter ad inficleles et präsertim nostris in regionibus ad spurcissimos religionis nostrae Christianae detrectatores Iudaeos ipsos, rustica fragilitas pro recipiendis Medizinis confluere solet, quod sacrorum canonum Konstitutiones vetunt, nostroque pastorali officio incumbit, patrurn sanctiones sanctorum manutenere, districtissime mandamus atque praecipimus, ne de caetero quisque ex nostris subditis a quoque infideli aut Judaeo aliquam recipiat Medizinam.“ 56) Diese Verordnung, deren Entwurf vom Arzte des Bischofs und des Domstifts, Burkard von Horneck, herrührt, sollte vierteljährlich von der Kanzel herab den Gläubigen in das Gedächtnis zurückgerufen werden, und im Jahre 1549 wurde sie vom Bischof Melchior von Zobel mit einigen Erweiterungen aufs neue erlassen und blieb wohl das ganze sechszehnte Jahrhundert bestehen. Ein zweiter Angriff auf die jüdischen Ärzte erfolgte von Köln aus, wo 1509 ein „Judenbüchlein“ erschien, dessen dritter Abschnitt sich mit den jüdischen Ärzten beschäftigte. Der Verfasser war ein getaufter Jude, Victor von Carben; es ist ja eine traurige, historische Wahrheit, dass die Verleumder einer Konfession oder einer Nation nicht gerade selten aus dem Schoße derselben selbst hervorgegangen sind! Endlich ist hier ein Umstand zu erwähnen, der zwar schon im ganzen vierzehnten Jahrhunderte gültig war, aber bis in die Zeit, von der wir eben sprechen, noch gültig blieb, und der verhinderte, dass in Wien jüdische Ärzte praktizieren konnten. Dort musste nämlich jeder, der als Arzt sich niederzulassen gedachte, einen Eid „de immaculata conceptione“ ablegen, und es ist verständlich, dass dieses Dogma ein jüdischer Arzt nur durch einen Meineid hätte bezeugen können. Erst Kaiser Maximilian hob im Herbste 1517 diese Vorschrift auf, und seitdem müssen in der Tat auch in Wien jüdische Ärzte praktiziert haben, weil in späteren Privilegien, die den Wiener Juden zugebilligt wurden, sich wiederholt der Passus vorfindet, den Juden sei gestattet, in der Hauptstadt zu wohnen „mit ihren Ärzten“.

56) I. B. Scharold, 1. c. Beilage IV.

Die Wirkung der Bekämpfung der jüdischen Ärzte kann keine nachhaltige gewesen sein. Am wirksamsten blieb wohl die Würzburger Ärzteordnung. Als sich am 3. Juni 1561 der Meister Ephraim an den Fürstbischof Friedrich von Würzburg wandte, um die Erlaubnis zur Praxis zu erhalten, wurde er mit Hinweis auf jenes Gesetz abgewiesen. Ephraim war Arzt in Wertheim und schrieb „er sei auf ein gnädigstes Vorschreiben Seiner königl. Durchlaucht zu Böhmen von dem Grafen Ludwig von Königstein berufen worden, um sich als Arzt in Wertheim niederzulassen. In dieser Stadt habe er wirklich schon sein häusliches Anwesen genommen und werde nicht allein von des besagten Grafen Untertanen, sondern auch von der rings umher liegenden Nachbarschaft um ärztlichen Rat und Beistand häufig angesprochen. Er könne seinen Dienst den Nachbarn nicht versagen, sondern leiste gern, was er mit Gottes Hilfe und mittels seiner Arzneikunst zu leisten im stande sei. Da nun in Wertheims Nähe zum Einkauf seiner Species und anderer Arzneistücke eine wohlgelegene Apotheke nicht bestehe, ausgenommen in Würzburg, so bitte er, es möchte ihm Seiner Kaiserlichen Majestät zu Ehren, der seinem Schwiegervater, dem Arzte Lazarus Sündt zu Günzburg, die Freiheit für sich, seine Angehörigen und sein Gesinde erteilt hätte, im heiligen römischen Reiche ungehindert ihren Geschäften nachzugehen, nicht minder dem Grafen von Königstein zu Gefallen eine ähnliche Freiheit gewährt werden.“ Wie gesagt, sein Gesuch wurde abgelehnt. Allein in der Folge machte sich ein Mangel an Ärzten in Würzburg fühlbar, und da dürfte doch wohl „der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe“ der eine oder andere jüdische Arzt zugelassen worden sein; freilich wirft auf ihre Stellung folgender Vorfall ein kennzeichnendes Licht. Anfang Oktober 1564 starben am fürstbischöflichen Hofe zwei Personen plötzlich und unter auffälligen Symptomen, und andere waren ähnlich erkrankt. Die Ärzte des Bischofs und der Stadt wurden beauftragt, durch die Sektion die Todesursache festzustellen ; sie kamen aber zu keinem Resultat, sondern fanden nur eine „Corrosion und acris materia“ (!), sprachen von der „Konstitutio aeris“ und anderen gelehrten Dingen, die einen Einblick in die damalige Medizin gewähren. Endlich am 2. Dezember, also nach zwei Monaten, hatten sie es herausgebracht, dass weder Küche noch Keller, noch Mühle, auch nicht die Konstitutio aeris Schuld an dieser „neuen Krankheit des Grimmens, des Freischlags und der Lähmung,“' sei, sondern einzig; und allein die Arznei, welche die Erkrankten und die Gestorbenen von einem zu Würzburg wohnenden israelitischen Arzte empfangen und gebraucht hatten! Folglich befahl der Regent Würzburgs, „weil dieser Jude nicht qualificiert sei, sollte ihm das Handwerk niedergelegt und verboten sein, Niemanden Anderen zu arzneien, als diejenigen Herren vom Adel, die ihn nach Würzburg gebracht hätten.“ 57) Da also die Juden nach wie vor im Bistume Würzburg Schwierigkeiten bei Ausübung der ärztlichen Praxis fanden, scheinen sich einige im Verborgenen als Kurpfuscher hier aufgehalten zu haben: wenigstens beschweren sich die vier Apotheker Würzburgs im Jahre 1573 über die jüdischen Kurpfuscher, und auch im Jahre 1580 berichtete eine vom Bischof Julius, dem berühmten Gründer des Juliusspitals und der Universität Würzburg, niedergesetzte Ärztekommission unter No. 4: „Zum Vierten scheuen sich die unverschämten idiotischen Juden gleichfalls nicht, obwohl aus dem Lande verwiesen, dennoch in Würzburg und den umliegenden Flecken noch herum zu gehen und zu reiten, ihre Urinalia zu tragen oder am Sattelbogen zu führen, des Ausgebens und Rühmens, wo jemand krank sei, dem wollten sie aus bloßer Besichtigung des Wassers die Krankheit und ihre Ursachen erkennen und angeben. Sie betrügen damit das gemeine arme Völklein, ja auch bisweilen die vom Adel und große Herren, dass sie ihnen nicht allein Glauben schenken, sondern auch um großes Geld Arzneien von ihnen nehmen, die man um gar Geringes in den Apotheken haben kann, oder die dermaßen unsauber in ihren Winkeln zugerichtet werden, dass sie keiner dem Vieh, geschweige den Menschen und Christen, zumuten und geben sollte. Welches dann ein Jammer und Schand ist, von dergleichen Christenfeinden überführt (betrogen) und geäfft zu werden.“ 58)

57) Vgl. J. B. Scharold, 1. c. pag. 82—84.

58) Scharold, 1. c. pag. 95.


Frankfurt am Main war auch in dieser Zeit meistens duldsam gegen die jüdischen Ärzte. Felix Plater, Professor zu Basel, einer der ersten, der den Wert Vesals anerkannte, und einer der besten Praktiker seiner Zeit (1536 — 1611), sagt in seiner Autobiographie, die einen interessanten Einblick in die Verhältnisse des sechszehnten Jahrhunderts gestattet 59), dass zu seiner Zeit in Frankfurt am Main nur ein christlicher Arzt lebte, während alle anderen Juden waren; deren Ruf war so groß, dass sich ihre Praxis weit ausdehnte, z. B. bis nach Gießen, das selbst damals gar keine höher gebildete Ärzte besass. 60) Namentlich bekannt ist uns Josef ben Ephraim Levi, der 1532 starb; sein Grabstein verkündet, dass dieser Hügel einen Charakterberg, der „reiner als Silber“ gewesen sei. Ein anderer Grabstein nennt den 1581 verstorbenen Abraham ben Josef Levi, vielleicht Sohn des vorigen, und sagt, „Es haben gesiegt die Engel und Platz eingeräumt dem Reinen und Lautern, der hier unten ruht; er war ein Arzt für Körper und Gemüt, seiner Kunst stand die Lehre Gottes zur Seite.“ 61) Im Jahre 1574 bewarben sich Jakob ben Samuel, der „Jud zum Lamb“, und Aron, „Jud zur gelben Rose“, gleichzeitig beim Frankfuter Rate um die Erlaubnis zur freien Ausübung der ärztlichen Praxis. Weil damals gerade die Stelle eines Stadtarztes unbesetzt, der Gesundheitszustand in der Stadt aber ungünstig war, wurden beide angenommen — doch unter der Bedingung, dass sie sich, sobald ein Stadtarzt wieder angestellt sei, einer Prüfung in ihrer Kunst unterwürfen, und dass vom Ausfall derselben ihr ferneres Verbleiben abhinge. Jakob starb in jungen Jahren schon 1585, und da erst später ein Stadtarzt angestellt ward, hatte sich nur Aron dieser Prüfung zu unterwerfen; er bestand sie, und noch als altem Arzte wurde ihm die Genugtuung, einen sicheren Wohnsitz zu haben (1602). Mit ihm empfing Samuel, „zum weißen Lamm“, wahrscheinlich Jakobs herangewachsener Sohn, die Approbation des Frankfurter Rats. Beiden war die Bedingung gestellt, keine Heilmittel selbst zu bereiten, sondern alles aus der Apotheke zu beziehen. Als Aron 1608 starb, bewarb sich sein Assistent Schlomo „zum Tannenbaum“ unter dem Hinweis darauf, dass „jederzeit zwei in der Judengasse gswesen sind,“ um die Zulassung als Arzt, und die Erlaubnis ward auch ihm erteilt. Seit 1579 mussten alle jüdischen Ärzte, ehe sie in Frankfurt praktizieren durften, auch, wenn sie Universitätsdiplome besaßen, vor einer Kommission, der drei Ratsherren und zwei Physici an gehörten, eine Prüfling ablegen ; das war die Folge von Anschuldigungen und Anklagen gegen die jüdischen Ärzte, die namentlich 1574 ein Physikus der Stadt erhoben hatte. Schon vorher hatte sich eine feindselige Stimmung gegen die Judenärzte geltend gemacht, als Doktor Lazarus 1563 um die Erlaubnis bat, sich in Frankfurt niederzulassen und ein Haus zu bauen; obgleich er einen Empfehlungsbrief Kaiser Ferdinands I. vorweisen konnte, verweigerte der Rat der freien Reichsstadt beides unter dem Vorwand, Lazarus sei kein Arzt, sondern ein Zauberer!

59) Von D. A. Fechter zu Basel 1840 herausgegeben; Platers Tagebücher benutzte Gustav Freytag in seinen „Bilder aus deutscher Vergangenheit.“

60) Zitiert von H. Baas.

61) Horovitz, 1. c. pag. 7.


Kaiser Ferdinand, der seinem Bruder Karl V. 1555 gefolgt und als Kaiser 1558 gekrönt worden war, war zwar ein eifriger Sohn der katholischen Kirche, aber doch ein gemäßigter und gegen die Juden duldsamer Fürst. Er war jenem Doktor Lazarus nicht nur günstig, sondern hatte ihn sogar seinen Töchtern zu Innsbruck als Leibarzt bestellt, und Lazarus wusste sich die Gunst der hohen Frauen im höchsten Maße zu erwerben und zu erhalten. Er soll auch von anderen Fürsten, als von seinem kaiserlichen Herrn, Freibriefe besessen haben, dass er, wo es ihm im deutschen Reich beliebe, die ärztliche Praxis betreiben dürfe. Eines sehr großen Rufes erfreute sich gegen die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ein jüdischer Arzt in der deutschen Schweiz, namens David. Er besass von neun Kantonen einen Schutzbrief, dass er im ganzen Lande als Arzt tätig sein dürfe. „Wir wissen, dass er sich 1535 in Schaffhausen niederließ. Dann aber berief ihn der Bürgermeister von Ulm zu sich als Leibarzt, und nach Ablauf dieses Verhältnisses erhielt er vom Markgrafen von Brandenburg die Erlaubnis, in seinem Lande Praxis auszuüben. Später aber muss er sich doch wieder nach der Schweiz zurückbegeben haben, um hier von neuem eine umfangreiche Tätigkeit zu entwickeln und hohes Ansehen bei der Bevölkerung zu gewinnen. 62)

Von Städten der heutigen Rheinprovinz weist Mühlheim in Kölns Nähe einen jüdischen Arzt auf, Schalom ben Joaz; wir wissen, dass 1583 sein Schwiegersohn ihm eine deutsche Abschrift des Buches „Spiegel der Arzeney“ fertigte 63) — wohl des Buches von Laurentius Phryesen, das 1518, 1529 und 1532 in Straßburg gedruckt worden war und sich großer Beliebtheit erfreute.

62) Löwenstein, Geschichte der Juden am Bodensee und Umgebung, zitiert von Münz.

63) Carmoly, 1. c. pag. 155.


Auch im Osten des deutschen Sprachgebiets machen sich im sechszehnten Jahrhunderte zuerst jüdische Ärzte bemerkbar. Herzog Albrecht von Preußen erteilte 1538 zum ersten Male einem solchen die Genehmigung, sich in Königsberg anzusiedeln, ob schon in dieser Stadt den Juden das Wohnen bisher untersagt war. Isaak May hatte einen Diener des Herzogs, der von einer gefährlichen Gesichtskrankheit befallen war, glücklich geheilt, nnd der Herzog hatte seitdem seine Gunst dem jüdischen Arzte zugewendet. Später gestattete er auch dem Arzte Michel Abraham die ärztliche Praxis in Königsberg und wies sogar den Rat der Stadt an, denselben als Bürger aufzunehmen, falls er sich in seinem Berufe ehrlich und redlich erweisen werde. 64)

In Thorn wählte der Rat trotz des heftigsten Widerspruchs des entsetzten Klerus im Jahre 1567 den Juden Morgenstern zum besoldeten Stadtarzt.

Endlich ist hier zum ersten Male Berlin zu nennen. Kurfürst Joachim II. Hector hatte in seiner Umgebung einen jüdischen Leibarzt Lippold. Juden gab es in Berlin nämlich seit langer Zeit: die ältesten Nachrichten reichen bis in das vierzehnte Jahrhundert zurück. In den Pestjahren 1348/50 wurden die Juden auch aus Berlin verjagt, aber bereits 1354 wieder aufgenommen; doch scheint ihre Anzahl klein gewesen zu sein, und von Ärzten unter ihnen wissen wir nichts bis zur Zeit Joachims, der 1535 zur Regierung kam. Lippold stand bei ihm in höchster Gunst und wurde sogar zum Finanzminister ernannt, als welcher er sich große Verdienste erwarb. Wie immer die Bevorzugung eines Juden in jenen Zeiten, so erregte auch diese Neid, und, als der Kurfürst im Jahre 1571 plötzlich verstarb, raunten sich die Neider alsbald zu, Lippold habe seinen Herrn vergiftet. Kurfürst Johann Georg, Joachims Nachfolger, ließ ihn verhaften; doch sollte er mangels Beweis schon entlassen werden, als in einem Zornausbruche Lippolds Frau den Gatten des Mords beschuldigte. Diese unüberlegte Äußerung einer bis zum Unverstand erregten Frau, aufgefundene Bücher, die Zauberbücher sein sollten, durch die unmenschlichsten Folterqualen erpresste Geständnisse — das waren der damaligen Justiz genügend Beweisstücke, um den gestürzten, unglücklichen Günstling Joachims des Mordes schuldig zu finden. Er wurde 1573 gevierteilt; seine Familie und seine Glaubensgenossen wurden auf „ewige“ Zeiten des Landes verjagt 60). Heute steht fest, dass Joachim II. eines natürlichen Todes starb.

64) Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg, zitiert von Münz.

Die Wende des sechzehnten Jahrhunderts und des siebenzehnten führt uns nach Hamburg, wo sich portugiesische Juden niedergelassen hatten, darunter namhafte Ärzte. Am berühmtesten ist die Familie de Castro. Noch in Lissabon als Sohn von Scheinchristen war Rodriguez (Roderich) de Castro 1546 geboren; er hatte in Salamanka studiert und sich sowohl von der Medizinischen als von der philosophischen Fakultät den Doktortitel erworben. Er begab sich dann über Holland, wo er einige Jahre als praktischer Arzt lebte, im Jahre 1598 nach Hamburg und übte hier die ärztliche Praxis bis zu seinem Tode im Jahre 1627 aus. Er war ein vorzüglicher Frauenarzt, und sein Werk De universa mulierum Medizina, das 1603 zuerst in Hamburg erschien und ebendort 1617. 1628 und 1662, außerdem 1668 in Frankfurt neu aufgelegt wurde, ist das umfangreichste gynäkologische Werk jener Zeit. 66) Neben dem Franzosen Francois Rousset und dem Niederländer Boudewijn Rons war Roderich von Castro einer der ersten Geburtshelfer, die sich zu Gunsten des Kaiserschnitts ausgesprochen haben. Außer diesem Buche verfasste er eine Beschreibung der Pest in Hamburg im Jahre 1596, betitelt „De natura et causis pestis quae anno 1596 Hamburgensem Civitatem affixit, Hamburg 1596“, und ein mehrmals aufgelegtes, zuerst 1611 in Hamburg und Köln gedrucktes Buch de officiis medicopoliticis, in welchem der Autor ein Bild des denkenden Arzts gegenüber dem Bilde des Charlatans zeichnet. Dass dieser gelehrte Mann auch ein tüchtiger Praktikus war, erhellt aus den Lobgedichten, die ihm gewidmet worden sind. Elias Putsch z. B. schrieb:

Femina divorumque hominumque äterna voluptas,
Quae terras partu sustinet alma suo,
Et facit ut laeti veniant ad aratra coloni.
Prodigaque omnigenas terra ministret opes,
Morborum variis assultibus ägra jacebat.
Pallida anhelantem jam vomitura animam,
Nemo salutiferas niorienti tradidit herbas,
Quique malurii posset pellere, nullus erat.
Tu tamen oecurris, Roderice, fovesque jacentem,
Propinasque aegrae, quod medicamen habes,
Macte, Machaonia doctor clarissime, laude
Grande quidem pretium posteritatis erit
Hoc quoque sed majus quod cui vitam prius ipse
Debueras, vitam debeat illa tibi.

In deutscher Übertragung:

Krank lag das Weib, die Mutter des Vergnügens,
Der diese Erde ihr Bestehen verdankt,
Von der der Bauer nimmt die Kraft des Pflügens,
Von der die Frucht sich auf zum Lichte rankt;
Ein Heer von Leiden peinigte die Arme,
Viel fehlte nicht, so gab den Geist sie auf.
Es gab kein Kraut zur Lindrung ihrem Harme,
Es hemmt kein Arzt der Krankheit raschen Lauf;
Doch Du kamst, Hoderich! Du sahst sie liegen
Und standest ihr in ihrem Schmerze bei;
Heil Dir, Dein Ruhm ist hochgestiegen,
Denn Hilfe brachte Deine Arzenei!
Und sie, die Dir das Leben einst gegeben,
Das Weib, verdanket Dir, nur Dir ihr Leben! 67)

65) Ludwig Geiger, Gesch. der Juden in Berlin, 1871 Berlin; Einleitung.

66) Häser, Geschichte der Medizin. II. Band, pag 208.

67) E. Finkenstein, Dichter und Ärzte, Breslau 1864:, pag. 103; übersetzt von Finkenstein.


Ein anderes Lobgedicht auf Roderich von Castro dichtete ein Arzt Nonnius aus Antwerpen; es ist fast noch lobender, als das mitgeteilte 68). Roderichs Sohn, Benedikt (Baruch), in Hamburg 1597 geboren, übernahm die ausgedehnte Praxis seines Vaters und wurde Leibarzt der Königin Christine von Dänemark; er starb hochbetagt im Januar 1684 und hinterlies ein 1647 in Hamburg gedrucktes Werk, benannt Certamen medicanum de venaesectione in febri putrida et innammatoria. Auch Baruchs jüngerer Bruder Daniel de Castro, 1599 in Hamburg geboren, wurde Arzt am dänischen Königshofe bei Friedlich III. Neben den Castros zeichnete sich Jacques Rosales, ebenfalls Portugiese und ebenfalls über Holland nach Hamburg gekommen, als Arzt aus; er war 1593 geboren und praktizierte in der deutschen Hansastadt von 1637 — 1645, um dann nach Amsterdam zurückzukehren. 1668 starb er in Livorno. Er gewann in Hamburg so großes Ansehen, dass er den Titel eines Comes palatinus, also eines deutschen Reichsgrafen, trotz seines jüdischen Glaubens empfing; damit hatte er die Berechtigung, akademische Würden zu verteilen. Rosales war nicht nur Arzt, sondern auch ein eifriger Astronom und verstand, in lateinischen Hexametern zu dichten; so schrieb er ein poculum poeticum an Zakutus Lusitanus 69), ein Carmen intellectuale de vitae termino, ferner status astrologus sive anacephalaeosis monarchiae Lusitanicae und foetus astrologici ad heroem et virum admirantem. Der status astrologicus enthält neben den lateinischen Versen den Text in portugiesischer Sprache. Sein Hauptwerk ist das astronomische, betitelt Regnum astrorum reforinatum, zu Hamburg 1644 erschienen. Aus Spanien war nach Hamburg Benjamin Musaphia, etwa 1606 geboren, gekommen und lebte dort mehrere Jahre als Arzt. 1640 verzog er nach Glückstadt in Holstein, und die letzten Lebensjahre bis 1675 verbrachte er in Amsterdam. Auch Musaphia war vielseitig gebildet — Arzt, Sprachkenner, Talmudist, Dichter. Von naturwissenschaftlichen Schriften hinterließ er eine Epistola de maris recipocatisne, in der eine Theorie über Ebbe und Flut entwickelt ist, dem König von Dänemark gewidmet, erschienen 1642 in Amsterdam; ferner Sententiae sacromedicae, d. s. Aphorismen aus der Heiligen Schrift, Hamburg 1640. Seine Dichtung, in der er in sechs Gesängen die sechs Schöpfungstage besingt, (Sekher Eab, Amsterdam 1638) wurde noch in demselben Jahre in lateinischer Übersetzung in Hamburg gedruckt; 1677 erschien es in Berlin, 1804 in Selkow in deutscher Übersetzung, und noch Delitsch hat Musaphias Dichtung in das Deutsche übertragen.

68) B. Finkenstein, 1. c. pag. 102.

69) E. Finkenstein, mit Übersetzung abgedruckt 1. c. pag. 88 91.


Wissenschaftlich unbedeutender, als diese Hamburger Ärzte, sind andere jüdische Ärzte im deutschen Sprachgebiete während des siebenzehnten Jahrhunderts. Als glücklicher Praktiker ist Naphtali ben Josef Levi zu nennen, der die Würde eines Leibarztes beim Kurfürsten Erzbischof Ferdinand von Köln bekleidete. Er besaß großen Einfluss bei seinem Herrn und verwandte ihn zu Gunsten seiner Glaubensgenossen. Im Februar 1644 starb er in Deutz, wo Kurfürst Ferdinand residierte, und wurde in Mainz beerdigt.

Um im Westen Deutschlands zu bleiben, ist zu bemerken, dass es damals jüdische Ärzte namentlich auch in dem Gebiete gab, das heute das Reichsland Elsass-Lothringen geworden ist. Einen aus Metz gebürtigen Arzt — Tobias Cohen — haben wir bereits in der Türkei kennen gelernt; wir wissen auch schon dass er der erste jüdische Student der Medizinischen Fakultät von Frankfurt a. d. Oder gewesen ist. Arzt in Metz war bereits vorher Isaak, als Judendoktor allbekannt; ein Sohn von ihm, gleichfalls Arzt, war Christ geworden und bewährte sich als eben so charakterloser Mensch, wie fast alle Convertiten. Dann war als jüdischer Gemeindearzt nach Metz aus Lippes damaliger Hauptstadt Lippstadt Doktor Salomon ben Baruch berufen worden; da er nicht zum festgesetzten Termin eintraf, nahm Naphtali Herz aus Frankfurt a. M. seine Stelluno; ein. Doktor Salomon kam aber doch noch nach Metz, und es entstand zwischen den beiden Nebenbuhlern, von denen jeder auf seine Berufung pochte und keiner weichen mochte eine hässliche Spannung, die sich erst nach Jahren, 1695, durch Vermittlung des Rabbi Gabriel ausglich. In das Elsass kamen Juden wesentlich erst, nachdem dies Land im Vertrag von Münster 1648 Frankreich zugesprochen war; wir werden also jüdischen Ärzten erst im achtzehnten Jahrhunderte dort begegnen. Dagegen finden wir jetzt schon in Mainz einen jüdischen Gemeindearzt, Selkeles Grotwahl, der bis zu seinem Tode 1704 segensreich als Arzt dort wirkte.

Aus Frankfurt am Main waren am 23. August 1614 mit den Juden die jüdischen Ärzte vertrieben worden, nachdem schon zwei Jahre vorher die Bürger der Stadt Klage gegen die Juden beim Kaiser Matthias erhoben hatten; der Rat stand damals unter den rohen Fäusten des Lebküchlers Vincenz Fettmilch und anderer katilinarischer Existenzen. Als Fettmilch, als Aufrührer vom Kaiser geächtet, gefangen und zum Tode verurteilt war, — am selben Tage, da auf dem Rossmarkte zu Frankfurt des Verurteilten Haupt vom Henkerbeile fiel, durften die Juden nach Frankfurt zurückkehren (28. Februar 1616) und hielten auf Grund eines kaiserlichen Mandats feierlichen Einzug in die liebgewordene Heimat. Unter den Heimkehrenden befand sich der Arzt Judlin, Sohn des genannten Israel Jakob, und der alte Doktor Schlomo „zum Tannenbaum“. Der letztere gewann selbst in christlichen Kreisen so hohes Ansehen, dass, als später einmal (1630?) beim Rate eine Klage gegen einen jüdischen Arzt einlief, die begutachtenden Pastoren auf den angesehenen, alten Doktor Schlomo hinwiesen 70). Schlomos Todesjahr scheint 1631 zu sein. Seit 1623 praktizierte in Frankfurt Doktor Isaak (ben Abraham) Hein, der 1654 starb; ihm war aufgegeben, innerhalb der Judengasse zu wohnen. Mit ihm praktizierte gleichzeitig ein Verwandter, Doktor Abraham Hein. Im Jahre 1631 beschloss die jüdische Gemeinde zu Frankfurt, einen besoldeten Gemeindearzt anzustellen, der die Armen unentgeltlich zu behandeln hätte. Die Wahl fiel auf den berühmtesten jüdischen Arzt jener Zeit, den uns bereits bekannten Josef del Medigo von Candia, der damals im vierzigsten Lebensjahre stand und seit 1627, wie ebenfalls erwähnt, in Amsterdam sich auf hielt. Bezeichnend für die damalige Stellung der jüdischen Ärzte ist der erste Punkt der Vorschriften für diesen Geineindearzt, der ihm verbot, ohne Einwilligung des Gemeindevorstandes die Stadt zu verlassen, selbst wenn ein „Edler oder Fürst“ ihn riefe; denn in der Tat geschah es damals nicht selten, dass jüdische Ärzte weit über Land zu hohen und höchsten Patienten gefordert wurden. Josef von Candia, der wanderlustige Forscher, hielt mehr als zehn Jahre in der Mainstadt aus, obwohl auch er, der hochgebildete, vielgeehrte Mann, hier den gelben Ring tragen musste, der ihn erinnern und den Christen vor Augen halten sollte, dass er nur ein Jude sei. Erst gegen 1645 zog er weiter gen Prag, wo er, wie bereits gesagt, zehn Jahre später dorthin ging, wo kein Unterschied mehr waltet zwischen Juden und Christen. Es ist klar, dass der Aufenthalt dieses Arztes auf den Geist der jungen Israeliten befruchtend wirkte; in seinem Geiste wirkte als Arzt vor allem sein Eidam, Doktor Salomon Bing, Sohn des damals in Bingen praktizierenden Doktor Abraham. Salomon Bing hatte, wie er selbst erzählt, in Mainz und Prag die „Kollegien der Jesuiten“ besucht, um die lateinische und andere Sprachen zu erlernen, dürfte also einer der ersten jüdischen Gymnasiasten Deutschlands, um ein modernes Wort zu gebrauchen, gewesen sein. In Padua hatte er die Doktorwürde erworben, und 1645 verlangte er vom Rate zu Frankfurt die Erlaubnis, daselbst zu praktizieren; nach langen Verhandlungen (er weigerte sich als von der Fakultät zu Padua graduierter Doktor ein neues Examen abzulegen) ward sie ihm gewährt, und Salomon Bing behandelte christliche und jüdische Kranke. Gerade die hervorragenden Ärzte, welche damals die Frankfurter Gemeinde die ihrigen nannte, erregten aber wiederum Neid und Missgunst; so wurde von 1650 an dem Doktor Isaak Hein die Praxis auf die Judengasse beschränkt, und dem Doktor Bing wurde 1653 vorgeworfen, schädliche Arzneien verabreicht zu haben, bis schließlich 1657 das lutherische Ministerium der christlichen Bevölkerung einschärfte, sich von keinem jüdischen Arzt behandeln zu lassen, da sie sich ja doch „nur natürlicher Mittel“ bedienten! 71) Um diese kritische Zeit lebten noch zwei Ärzte in der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt, Jona ben Moses Bonn und vor allen Abraham ben Isaak Wallich, der, einer Metzer Ärztefamilie entsprossen, in Padua studiert und, wie die bei den Medizinalakten Frankfurts noch vorhandene Abschrift seines Diploms mitteilt, dort maxima cum laude promoviert hatte (1650). Wallich trat für Abraham Hein 1657 in Frankfurt die Praxis an; er ist Verfasser einer volkstümlichen hebräischen Schrift über Medizin für seine Gemeindemitglieder, „Harmonia Wallichia medica“, Frankfurt 1700, in welcher er auf den engen Zusammenhang von Leib und Seele hinweist, wie jener nur gesund sein und werden könne bei gesunder Seele. Herausgegeben wurde sie von Abrahams Sohn, dem Doktor Lob „Wallich, der den Wirkungskreis des Vaters übernahm, während ein anderer Sohn Abrahams der eben in Metz genannte Naphtali Herz ist. Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts waren noch andere jüdische Ärzte in Frankfurt tätig, z. B. seit 1669 Doktor Benjamin Wolf „zum Buchsbaum.“ Als Professor David Clodius in Gießen eine hebräische Bibel mit lateinischen Anmerkungen herausgeben und in Frankfurt drucken lassen wollte, unterstützte ihn ein anderer gelehrter jüdischer Arzt daselbst, Doktor Leo Simon; denn in der Vorrede dieser 1677 erschienenen Bibelausgabe heißtes: „missum est viro clarissimo atque experientissimo Leoni Hebraeo Medizinae doctori et linguarum variarum callentissimo, utique nomine supra gentis morem humano et doeto 72).“

72) citiert von Horovitz, 1. c. pag. 33, Anmerkung.

Dass in Bingen im siebenzehnten Jahrhunderte Abraham Bing als Arzt lebte, hörten wir soeben; außer ihm ist ein zweiter jüdischer Arzt zu nennen, ein Sohn des Frankfurter Arztes Schlomo, namens Moses Schlomo. Wie Abrahams Sohn, praktizierte auch dessen Sohn, Doktor Low Leo Schlomo, in Frankfurt a. Main.

Auch in Württemberg finden sich jetzt die ersten Spuren jüdischer Ärzte. 1657 wurde nämlich einem „Herrn Hirsch Judaeus promotus Medizinae doctor wegen seiner fürtrefflichen Experienz und Kunst“ gestattet, im ganzen Lande Württemberg zollfrei zu passieren. Wider dieses Privilegium lehnte sich vergebens die Geistlichkeit auf, welche erklärte, es wäre besser in Christo zu sterben, als mit Hilfe eines Judenarztes dem Teufel zu verfallen.

Jetzt müssen wir im Geiste Süddeutschland durcheilen, um einen Blick auf Wien zu werfen. In Österreich hatten noch 1604 partielle Judenverfolgungen stattgefunden, in Wien selbst noch 1600, so dass damals nur noch 71 jüdische Personen in der Hauptstadt, 1619 aber, also unmittelbar nach dem Ausbruch des furchtbarsten Krieges der „Weltgeschichte, 42 jüdische Familien daselbst gezählt wurden 73). Diese kleine Gemeinde scheint rasch einen Aufschwung genommen zu haben, und schon Ende des Jahres 1614 findet sich auf einem noch erhaltenen „Verzeichnis der Besteuerten“ ein Arzt, „Aron Doktor, Veit Munkhens Aidten;“ freilich scheint sein Einkommen kein hohes gewesen zu sein — denn, während andere 20, 24, 30, ja sogar 42 Reichsthaler beizusteuern hatten, betrug die Steuer des Arztes nur 1 Thaler 74)! Dann wissen wir, dass 1629 unter Ferdinand II. neben dem jüdischen Friedhofe in der Leopoldstadt zu Wien (damals unterer Werd geheißen) ein Spital errichtet war, d. h. nämlich ein Häuschen, in dem hin und wieder ein Kranker gepflegt wurde 75). Also nehme ich an, dass auch damals ein Arzt zur Gemeinde gehörte. Am bekanntesten ist aus jener Zeit Herz Günzburg, dessen Vater aus Oettingen nach Wien gekommen war und dort Hofjude wurde. Durch seinen bedeutenden Einfluss fand sein Sohn nach vollendetem Studium eine ausgedehnte ärztliche Praxis; in vorgerücktem Alter zog er sich nach Premislas zurück und starb dort. Seine drei Söhne waren sämtlich Ärzte, wie wir nun so oft diese Vererbung der Liebe zur Heilkunde von Vater auf Sohn erlebt haben. Der älteste wurde Gemeindearzt in Pinschow; der zweite, Selig Günzburg, wandte sich nach Litauen und errang zu Sluczk großen Ruf als tüchtiger Praktiker. Der dritte endlich, Lob Günzburg, übernahm die Praxis seines Vaters in Wien und machte sich einen seines Vaters würdigen Namen; besonders sein Wohltätigkeitssinn wurde hoch gepriesen. Das verhinderte aber nicht, dass auch er 1670 ein Opfer des Verbannungsdekrets wurde, durch welches Kaiser Leopold I. auf Drängen der Wiener Bürgerschaft, welche sich beklagte, dass die gottlosen Juden auf 3.000 angewachsen, sie aber von 5 — 6.000 auf 2.000 geschmolzen seien, sämtliche Juden der Stadt verwies, an Stelle ihrer Synagoge eine Kirche bauen ließ und die Namensänderung des bisherigen Judenviertels in Leopoldstadt genehmigte 76). Doktor Lob Günzburg ging nach Premislas, dem Asyl seines Vaters, und setzte dort seine ärztliche Praxis mit Erfolg fort. Seine Klientel übernahm nach seinem Tode sein Sohn Itzig Günzburg, während sein zweiter Sohn, Meier Günzburg, nach Lublin als Gemeindearzt zog.

73) G. Wolf, die Juden in der Leopoldstadt im siebenzehnten Jahrhundert in Wien, Wien 1864 pag. 3.

74) G. Wolf, 1. c. Beilage I, pag. 69.

75) G-. Wolf, 1. c. pag. 17.

76) G. Wolf, 1. c. pag. 50 u. folg.


Diese Judenvertreibung aus Wien vom Jahre 1670 führt uns unmittelbar nach Berlin: denn der Ursprung der heutigen israelitischen Gemeinde der deutschen Reichshauptstadt liegt im Einzuge von Wiener Emigranten. Der große Kurfürst, dieser weitblickende, ebenso deutsche, als menschenfreundliche Herrscher, gestattete den Juden, die, wie wir erfuhren, Kurfürst Johann Georg 1573 auf „ewige Zeiten“ aus seinem Lande gejagt hatte, die Niederlassung in Brandenburg; drei von den aus Wien vertriebenen jüdischen Familien wurde Berlin selbst als Wohnort erlaubt. 77) Schon 1693 gab es in Berlin wieder einen jüdischen Arzt, namens Löbel, und in einer Prozesssache vom April 1699 wird auch ein jüdischer Zahnarzt Veit Abraham erwähnt, während einem gleichzeitigen Barbier, Fischel Moses, ausdrücklich befohlen ward, „dass ihm concedirt sey, seine profession bey der Juden Synagoge zu treiben“, dass ihm aber „alles curiren ernstlich verboten“ sei. 78)

Das achtzehnte Jahrhundert beginnt für die jüdischen Ärzte Deutschlands mit einem jener unvernünftigen, gegen sie gerichteten Beschlüsse, welche die Tüchtigkeit und die wissenschaftliche Befähigung durch die Brille eines Glaubensfanatikers zu prüfen versuchen. Im Jahre 1700 verfassten nämlich die hochweisen theologischen Fakultäten der Universitäten Wittenberg und Rostock, beide lutherischen Bekenntnisses, eine Erklärung, dass ein christlicher Kranker keinen jüdischen Arzt berufen könne, weil der größte Teil derselben unwissend sei, ferner, dass die jüdischen Ärzte Zaubermittel anwendeten, dass sie gehalten seien, von zehn Getauften je einen sterben zu lassen und endlich, dass sie, die Sprossen eines verdammten Volkes, unmöglich Christen, die doch die Gottes Kinder seien, heilen könnten. 79) Natürlich machten diese verblendeten Eiferer Schule, und namentlich Johann Heinrich Mehl predigte zu Worms gegen die jüdischen Ärzte. Noch 1745 erschien zu Frankfurt ein Buch von Johann Helfrich Pfeil in deutscher Sprache, welches die Untauglichkeit der jüdischen Ärzte zu beweisen sich abmüht und sie unwürdig der Promotion

77) cfr. Ludwig Geiger, Geschichte der Juden in Berlin, Berlin 1871.

78) Geiger, 1. c. II. Band pag. 57.

79) Valentin, Pandectae medicolegales , Frankfurt 1701, Band I, pag. 4 und 20, zitiert von Carmoly.



an einer Medizinischen Fakultät erklärt. Auch in dem „allgemeinen und neugeschärfften Medizinaledikt vom 27. September 1725“ in Preußen unter König Friedrich Wilhelm I, demselben, der bei seinem Regierungsantritt den Juden als sichtbares Kennzeichen ihrer Konfession einen grünen Hut zu tragen anbefohlen hatte, heißt es: „Studenten der Medizin, Prediger, Chemiker, Laboranten, Destillateure, Stöhrer von allerhand Professionen, Juden, Schäfer, alte Weiber und Segenssprecher“ dürfen keine ärztliche Praxis treiben 80). Alle diese Angriffe auf die jüdischen Ärzte sind machtlos abgeprallt. Wir finden im achtzehnten Jahrhunderte ihre Zahl gerade im deutschen Sprachgebiete erheblich angewachsen, und als sich dieses Jahrhundert zu Ende neigte, waren die jüdischen Ärzte im allgemeinen vollberechtigte, ihren christlichen Kollegen gleichgestellte Männer und besonders als Praktiker in allen Kreisen wohlgelitten und hochgeschätzt. Aus ihrer Zahl können wir nur die bedeutendsten und aus ihrer Geschichte nur das Interessanteste anführen; hervorzuheben ist, dass sich jetzt die Zulassung junger Israeliten zu dem Studium der Medizin und zur Promotion an deutschen Universitäten (Duisburg, Halle, Giessen etc.) häuft.

80) Zitiert nach Baas, Grundriss der Geschichte der Medizin, Stuttgart 1876.

Gehen wir wieder vom Westen aus, so treffen wir in Metz am Beginne des Jahrhunderts Meyer Wallich aus der Frankfurter Ärztefamilie in regster, praktischer Tätigkeit; auch ein Arzt Isaak Wallich wird genannt, und endlich wissen wir aus einer noch vorhandenen Urkunde, dass im Jahre 1701 ein Doktor Aron Schwab zu Metz ein Haus kaufte. Etwas später übte hier die ärztliche Praxis Meyer Samburg mit großem Erfolge aus. Sein Zeitgenosse ist der polnische Jude, Doktor Jakob, der 1728 zu Metz lebte. In der Mitte des Jahrhunderts treffen wir wieder einen Wallich, Jakob Wallich, als Arzt; er ist wahrscheinlich der jüdische Arzt, welcher an das Krankenbett Königs Louis XV. von Frankreich als Consiliarius berufen wurde, als dieser im August 1741 auf einer Reise in Metz an typhösem Fieber erkrankte. 1746 empfing die Erlaubnis, in Metz zu praktizieren, ein jüdischer Arzt, der in Preußen promoviert war; das war Markus Cosmann Gompertz, Doktor der Medizinischen Fakultät zu Duisburg. Schon im folgenden Jahre zog in Lothringens Hauptstadt auch ein Hallenser Doktor jüdischen Glaubens ein, Doktor Wolf Enoch Levin. Es ist sehr beachtenswert, dass diese Ärzte in Preußen promoviert wurden und es doch vorzogen, in das Ausland zu gehen (Metz gehörte ja damals noch zu Frankreich); sie genossen eben hier weniger Einschränkungen, und in Metz durften sie damals schon ungehindert bei Christen praktizieren. Ihre Zahl wuchs, und Ausländer drängten sich zur Gemeindearztstelle, obschon sie nur mit 180 Franken Jahresgehalt ausgestattet war; schon 1770 gab es bestimmt drei jüdische Ärzte, der genannte Doktor Gompertz und zwei Brüder Willstadt, und diese wechselten jährlich ab in der Verwaltung des jüdischen Armen- und Spitaldienstes, was als erfreuliche Kollegialität erwähnt zu werden gewiss verdient.

1776 zog von Thann im Elsass Doktor Joel nach Metz. Dann lebten gleichzeitig hier die Ärzte Doktor Elkan Isaak Wolf, der die Promotion in Gießen und in Mannheim erlangt hatte, Doktor Benjamin aus Berlin und in besonders hoher Gunst des Publikums Doktor Feibeimann aus Trier, Doktor Medizinae der Hallenser Fakultät. Endlich ist am Ende des Jahrhunderts in Metz als Arzt Jakob Aronsohn tätig, der im November 1790 mit einer Dissertation de phrenitide in Gießen den Doktorhut erworben hatte.

Im Elsass war namentlich Colmar der Sitz jüdischer Ärzte. Dortselbst geboren (1700) war Jehuda Carnioly; Medizin studierte er in Straßburg und empfing auch hier das Doktordiplom. Um 1721 erhielt er die Erlaubnis, in seiner Vaterstadt dem ärztlichen Berufe obzuliegen ; 1731 siedelte er nach Rappoltweiler über und blieb hier bis zu seinem Tode 1785 als gesuchter und wohltätig gesinnter Arzt wohnen. Er hinterließ im Manuskript eine jüdische Chronik von Karl dem Großen an bis zu Ludwig XVI. Aus Pressburg war nach Colmar Anschel Mayer gekommen und übernahm Carinolys Praxis nach dessen Wegzug, die er mit Erfolg bis zu seinem Tode 1777 versah.

In der Rheinprovinz gab es damals merkwürdiger Weise noch Rabbiner, welche in ihrer Gemeinde den Posten eines Arztes ausfüllten. Solches wird vom Rabbiner Teble Harofe zu Trier und vom Rabbiner Emanuel Wallich zu Coblenz berichtet. Dagegen lebte in Bonn, das schon lange eine jüdische Gemeinde besaß, ein wirklicher Arzt, Benjamin Croneberg, der in Bonn Medizin studiert und von der dortigen Fakultät das Doktordiplom erhalten hatte. Er verfasste in deutscher Sprache ein Werk, betitelt „Kurioser Antiquarius, das ist allerhand auserlesene geographische und historische Merkwürdigkeiten so in dennen europäischen Ländern zu finden“ Neuwied 1752. Bis 1765 praktizierte in Bonn auch Doktor Wolff, der ebenfalls zu Bonn geboren war, hier studiert und seine Promotion empfangen hatte; im genannten Jahre siedelte er nach Köln über als Arzt des Kurfürsten-Erzbischof Maximilian Friedrich. Dieser hochgebildete Mann ist der Schöpfer einer prächtigen Bibliothek und eines Museums in seinem Palais zu Bonn und auch der Gründer einer Hochschule für Philosophie und Sprache; seinem Leibarzte übertrug er das Lehramt für die hebräische Sprache. Auf Empfehlung des Erzbischofs wurde Doktor Wolff auch einmal in den Vatikan zu Rom als Consiliarius berufen. Seine beiden Söhne waren gleichfalls tüchtige Ärzte, Heinrich Wolff in Bonn und Salonion Wolff in Düren in der Nähe von Aachen. Auch in Düsseldorf finden sich jüdische Ärzte. Dortselbst im Jahre 1726 geboren war Gottschalk Lazarus van Geldern, dessen Familie, wie der Name verrät, aus Holland in die Rheinstadt gekommen war. Er studierte in Duisburg, und, mit dem Doktordiplom der dortigen Fakultät geschmückt, besann er in seiner Vaterstadt die Medizinische Praxis. Mehr als fünfunddreißig Jahre entfaltete er ein außerordentlich segensreiches Wirken, bis er 1795 starb. Sein Sohn, Josef Gottschalk van Geldern, 1765 in Düsseldorf geboren, war Student in Heidelberg, Bonn und Mainz und promovierte schließlich, wie sein Vater, in Duisburg. Er ging nach München und unterwarf sich dort der Prüfung, die der bayrische Staat damals von jedem forderte, ehe er die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde gab. Das Ergebnis derselben war so vorzüglich, dass Kurfürst Karl Theodor dem jungen Arzte den Titel eines Leibarztes verlieh. Aber schließlich bestimmte die Liebe zur Heimat Josef Gottschalk van Geldern nach Düsseldorf zurückzukehren; er unterstützte seinen Vater in der großen Praxis, welche dieser damals noch hatte, und nach seinem Tode übernahm er sie selbst. Aber ein früher Tod ließ den hoffnungsvollen Arzt bereits 1796, nur ein halbes Jahr später, als den Vater, seine fruchtbare Tätigkeit beenden. Geborener Düsseldorfer war auch Meier Cohen, der nach vollendetem Studium und erlangtem Doktordiplom zur Ausübung der Praxis nach Hannover verzog. Dort praktizierte auch ein anderer jüdischer Arzt aus dem Rheinlande, Jakob Marx, 1743 zu Bonn geboren. 1765 promovierte er in Halle mit einer Dissertatio de spasmissi motibus convulsivis optimaque ejusdem medendi ratione und unternahm dann eine Studienreise nach Holland und England; hier trat er in freundschaftliche Beziehungen zu einem der hervorragendsten Praktiker jener Zeit, dem durch seine Untersuchungen über Diphtherie und über Trigeminusneuralgie allbekannten John Fothergill zu London (1712 — 1780). Er siedelte sich darnach, wie gesagt, in Hannover an und war hier bis zu seinem Tode 1789 praktisch und wissenschaftlich tätig. Marx trat lebhaft für die Anwendung der Eicheln als Adstringens und als Diäteticum ein, die zu seiner Zeit in Aufnahme kam; dafür zeugen seine Schriften „Bestätigte Kraft der Eicheln, Hannover 1776“, und „Geschichte der Eicheln nebst Erfahrungen über die Diät und den Medizinischen Gebrauch derselben, Dessau und Leipzig 1788“. Wie aus den Titeln hervorgeht, zählte Marx neben Croneberg zu den ersten jüdischen Ärzten, die in deutscher Sprache schrieben. Auch seine „Anweisung, wie man Blatternpatienten auf eine einfache und wenig kostbare Art behandeln soll, Hannover 1784“, seine „Abhandlung von der Schwind-Lungensucht und den Mitteln wider dieselbe, Hannover 1784“ und die gegen Herz und andere Bekämpfer einer raschen Leichenbestattung gerichtete polemische Abhandlung „Über die Beerdigung der Todten, Hannover 1787“ sind in deutscher Sprache verfasst. Lateinisch schrieb Marx außer seiner Inauguraldissertation „Observata quaedam medica, Berlin 1772“ und „Observationum medicarum pars prima, Hannover 1774“; B. Böhm hat diesen ersten Teil 1780 in das Deutsche übertragen, während den zweiten und dritten Teil Marx selbst zu Hannover 1787 deutsch veröffentlichte.

Doch wir müssen noch in Süddeutschland verweilen. In Mainz folgte auf Grotwahl im Amte eines Gemeindearztes Doktor Jakob, der achtzehn Jahre dasselbe verwaltete, bis er 1721 starb. Nun trat Grotwahls Sohn, Doktor Meier Grotwahl, ein und wirkte erfolgreich bis 1741. Schon ein Jahr früher war Lippmann Levi als Arzt nach Mainz gekommen, wurde aber seiner zahlreichen Klientel schon 1747 durch den Tod entrissen. Nach ihm siedelte sich der Sohn des Arztrabbiners von Coblentz, Salomon Wallich, in Mainz an und wirkte bis 1780. Aus Wetzlar zog nach Mainz Phöbus Cohen, Doktor der Medizinischen Fakultät zu Duisburg , der nicht nur ein tüchtiger Praktiker war, sondern sich auch viel mit Botanik und mit Chemie beschäftigte; er war bis 1793 tätig.

Auch, in Frankfurt am Main gab es jetzt Ärzte, die trotz ihrer jüdischen Konfession das Doktordiplom von deutschen Fakultäten erlangt hatten; so Doktor Isachar Bär Liebmann, der 1753 starb; so Doktor Anschel Gutmann Buchsbaum, der 1729 zu Gießen mit Theses medicae de febri miliari promovierte und 1743 starb; so Doktor Gutmann Wolf Buchsbaum, des Letztgenannten Sohn, der zu den behebtesten und geachtetsten Ärzten Frankfurts bis zu seinem Tode 1770 zählte und ebenfalls in Gießen den Doktorhut mit seinem Tentamen theoreticopracticum hämorrhagiae uteri erlangt hatte. In Göttingen empfing sein Doktordiplom Doktor Anselm Schooss Beifuß, der bis 1793 lebte, und wiederum in Gießen auf Grund seiner Arbeit „de causa immun ditiei spermatis humani apud Ebraeos, Gießen 1768“ Doktor Wolf Worms, der bis 1812 als Arzt tätig war. Das Ansehen dieser durch ihre Promotion mit den christlichen Kollegen auf gleiche Stufe gestellten jüdischen Ärzte war für hämische Neider Anlass, gegen die Zulassung jüdischer Ärzte von neuem zu agitieren, und sie hatten erreicht, dass 1745 schon der Rat von Frankfurt höchstens drei jüdischen Ärzten die Praxis gestattete. Als nun 1753 Doktor Elkan Mayer, dessen Vater schon Arzt in Frankfurt gewesen war, beim Rate um Zulassung zur Praxis einkam, verhielt er sich ablehnend, obgleich der Bittsteller ebenfalls von einer deutschen Universität promoviert war, obgleich er später, im Jahre 1760, zum Militärmedicus des Kaiserlichen Infanterieregiments General-Feldzeugmeister Graf von Macquard ernannt und von seinem Regimentskommandeur, Angelo de Pasquali, bestens empfohlen worden war, und es kam zu langjährigen Verhandlungen zwischen dem Rate und der jüdischen Gemeinde 8l).

Endlich ist in Süddeutschland noch Adalbert Friedrich Markus zu erwähnen, welcher 1753 zu Arolsen als Jude geboren war und 1816 in Bamberg als Christ starb. In Bamberg wirkte er seit 1778 als Arzt, wurde hier Leibarzt des Fürstbischofs, dann Lehrer und endlich Direktor der „Schule für Leibärzte“ und des Spitals, das z. B. im Jahre 1798 480 Kranke verpflegte. Markus, den Häser 82 ) einen vorzüglichen Kopf und einen höchst achtbaren Charakter nennt, war einer der bedeutendsten Anhänger und Förderer des Brownianismus. Brown (1735 — 1788) lehrte, dass sich die leblosen Körper von den lebenden durch den Mangel, erregbar zu sein, unterschieden; Sitz der Erregbarkeit sei Nerven- und Muskelsystem, und alle Einflüsse, die im Stande sind, die Erregbarkeit auszulösen, seien Reize, teils äußere, teils innere (Blut, Körpersäfte); das ganze Leben sei aber ein durch Reize erzwungener Zustand, und, da alles auf die Erregbarkeit, die Reize und die Erregung hinausliefe, sei Kenntnis des Baus des menschlichen Körpers und seiner Funktionen von untergeordnetem Wert. Krankheit sei die Folge von Vermehrung oder Verminderung von Reiz und Erregbarkeit; bei Feststellung der Diagnose komme es wesentlich darauf an, zu entscheiden, ob die Krankheit lokal oder allgemein sei, während in der Therapie mehr die Quantität, als die Qualität des Heilmittels den Ausschlag gäbe 83). Markus veröffentlichte zu diesen Anschauungen des schottischen Arztes „Prüfung des Brown'schen Systems der Heilkunde durch Erfahrungen am Krankenbette, Weimar 1797/99.“ Ich bemerke, dass dieser bedeutende Mann der Adoptivvater von Karl Friedrich Markus ist, der 1833 der Nachfolger des berühmten Schönlein an der Klinik zu Würzburg wurde und zu seinen Schülern unter anderen bedeutenden Männern Pettenkofer, den Vater der modernen Hygiene, zählte.

81) Vgl. Medizinalakten der Stadt Frankfurt, Folio 93—95, Bd. XXIII zitiert von Horovitz, 1, c, pag. 39.

82 ) Geschichte der Medizin, II. Band, pag. 763.


In Norddeutschland war der Hauptsitz jüdischer Ärzte im achtzehnten Jahrhunderte Berlin, die Hauptstadt des jungen Königreichs Preußen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte freilich das erwähnte Medizinaledikt von 1725 dafür gesorgt, dass von jüdischen Ärzten in Preußen nichts verlautet. So gab es z. B. im Jahre 1737 unter den Juden Berlins einen Optikus und eine Hebeamme (sie hatte im Theatrum anatomicum ein Jahr lang auf besondere Erlaubnis hin studiert), aber keinen Arzt 84). Aber dann machen sie sich um so bemerkbarer und lenken teils durch praktische Tüchtigkeit, teils durch den Nachweis einer hervorragenden wissenschaftlichen Befähigung die Augen der Mitwelt und der Nachwelt auf sich. Da ist zunächst der unsterbliche Markus Elieser Bloch, den wir an die Spitze stellen wollen, weil wir eben von Süddeutschland sprachen und Bloch ein Süddeutscher von Geburt war (geboren 1723 als Sohn sehr armer Leute in Ansbach in Bayern). Seine Hauptverdienste liegen freilich auf zoologischem. Gebiete, aber sein Beruf war doch der ärztliche. Bloch kam mit neunzehn Jahren nach Hamburg, weder der deutschen, noch der lateinischen Sprache mächtig; nur hebräische Schriften wusste er zu lesen. Ein Wundarzt nahm ihn als Lehrling an und unterrichtete den begabten Jüngling in seiner Kunst und in der deutschen Sprache, während ein böhmischer Student ihn in der lateinischen Sprache unterwies. Später nahmen ihn Verwandte in Berlin zu sich und Bloch warf sich hier mit Begeisterung auf das Studium der Medizin und der Naturwissenschaften. Die Universisät zu Frankfurt an der Oder verlieh ihm das Doktordiplom, und Bloch ließ sich als praktischer Arzt in Berlin nieder. Durch die Praxis und durch zweimalige Heirat erwarb er sich Vermögen und legte es zu wissenschaftlichen Forschungen an. Vor allem fesselte ihn jetzt die Ichthyologie. Auf eigene Kosten schuf er sich ein naturwissenschaftliches Museum, das bald eines der mächtigsten Anziehungspunkte der ganzen gelehrten Welt wurde; vor allem bildete seine Sammlung der Wasserbewohner den Mittelpunkt des Staunens. Die Frucht seiner vieljährigen Beobachtungen in seiner eigenen Schöpfung war das Monumentalwerk „Ichthyologie oder Naturgeschichte der Fische Deutschlands, Band I 1785; Band II 1786; Band III 1787; Band IV 1790; Band V 1791: Band VI 1792; Band VII 1793; Band VIII 1793 und Band IX 1795, zusammen mit 324 Abbildungen. Bloch ließ zwei deutsche Ausgaben und eine französische aus Begeisterung für die Wissenschaft auf seine eigenen Kosten herstellen und opferte dafür den Rest seines Vermögens; die französische Ausgabe, die Laveaux besorgt hatte, wurde wiederholt aufgelegt. In diesen Prachtbänden ist eine Fülle eigener und neuer Beobachtungen enthalten; auch dem Fange der Fische ist eingehende Berücksichtigung geschenkt. Als Bloch 1797 in Paris weilte, besucht er fleißig die wissenschaftlichen Sitzungen der Societe philomatique und der Societe d'historie naturelle und wurde von Gelehrten aller Fächer hochgeehrt. Alt und krank begab sich Bloch 1797 nach Karlsbad; er fand aber keine Genesung, sondern endete hier am 6. August sein tatenreiches Leben. In böhmischer Erde zu Lichtenstadt nahe Karlsbad ruht sein Leib auf dem israelitischen Friedhofe; sein ichthyologisches Werk ist sein monumentum aere perennius! Der fleissige Forscher hat auch Medizinische Abhandlungen geschrieben; in Berlin erschienen 1771 von ihm „Medizinische Bemerkungen mit einer Abhandlung über die Quellen von Pyrmont“, und 1782 ward ihm für seine „Abhandlung von der Erzeugung der Eingeweidewürmer und die Mitteln wider dieselben“ der Preis der königlichen wissenschaftlichen Gesellschaft zu Kopenhagen. In dieser gekrönten Arbeit führte Bloch den Nachweis, dass verschiedenen Thierspecies verschiedene Eingeweidewürmer eigen sind, ja, dass sogar selbst den einzelnen Geschlechtern der verschiedenen Thierspecies verschiedene Enthelminten zukommen, und er unterschied die Tänien zuerst als Täniae armatae und inarmatae, je nachdem sie mit oder ohne Haken an den Saugscheiben versehen sind. Dass er den noch zu seiner Zeit geglaubten Einfluss des Mondes auf den Abgang der Eingeweidewürmer für eine Fabel erklärte, versteht sich bei seinem strengwissenschaftlichen Denken von selbst. Beiträge lieferte Bloch auch für den „Naturhaushaltungs- und Geschichtekalender für Schlesien“ (1786) und für die Protokolle der naturwissenschaftlichen Gesellschaft von Berlin und der wissenschaftlichen Gesellschaft für Böhmen.

In Berlin selbst geboren als Sohn des Aeltesten der israelitischen Gemeinde, war Salomon Gumpertz, der nach vollendetem Studium Frankreich und England bereiste und die Sprachen dieser Länder sich aneignete. Nach Berlin zurückgekehrt, machte er sich als Arzt sehr beliebt und erwarb sich als Gelehrter die Achtung der besten seiner Zeitgenossen. Moses Mendelssohn, der Verfasser des Phädon, der Erwecker deutschen Nationalgefühls unter den deutschen Juden, pries seinen Charakter und seine Gelehrsamkeit in einem 1754 an Lessing gerichteten Briefe. Der vertraute Freund dieses Mannes war Aron Emmerich, der, wie Gumpertz, nicht allein ein tüchtiger, praktischer Arzt war, sondern auch sonst hochgebildet und sehr sprachenkundig war; er hatte die lateinische, griechische, französische und englische Sprache erlernt, ehe er sich dem Studium der Heilkunde widmete, und, als er bereits das Doktordiplom der Medizin empfangen hatte, ergab er sich philosophischen Studien. Emmerich bekleidete das Amt eines Arztes der israelitischen Gemeinde, welches 1750 geschaffen worden war.

83) Vegl. hierüber Bernhard Hirschel, Geschichte des Brown'schen Systems imd der Erregungstheorie, Dresden und Leipzig 1846.

84) Geiger, 1. c. I. pag. 43 und II. pag. 76.


Nicht allein praktisch tüchtig, sondern auch wissenschaftlich bewährte sich der 1741 ebenfalls zu Berlin geborene Leo Elias Hirschel, der anfangs zu Hardewyk, dann in seiner Vaterstadt studiert hatte und in Halle mit einer Dissertatio de morbis melancolicis maniacis 1763 promoviert worden war. Nun begann er zu praktizieren, anfangs in Berlin, dann in Posen und kehrte schließlich, nach Berlin zurück. Obwohl Hirschel nur ein Alter von 31 Jahren erreicht hat, hat er einen reichen Schatz eigener Werke hinterlassen; außer seiner Dissertation schrieb er „Betrachtungen über den innerlichen Gebrauch des Mercurii sublimaticorrosivi und des Schierlings, Berlin 1763 : zweite Auflage 1765“, und, als seine darin niedergelegten Ansichten von Johann Jakob Plenck 85) zu Wien bekämpft wurden, verteidigte sich der Autor durch seine „Beyträge zu den Betrachtungen über den innerlichen Wert des Mercurii sublirnati corrosivi und des Schierlings, Berlin 1767“. In den folgenden Jahren 1768 — 1771 erschienen in drei Bänden Hirscheis „Briefe über Gegenstände aus dem Reiche der Arzeney Wissenschaft“ und 1769 „Gedanken von der Starrsucht oder Catalepsis, 1770 ein sehr geschätzt gewesenes Buch „Von Vorbauungsmitteln bey den Pocken“ und zuerst 1767, dann in französischer Übersetzung 1769 und wieder deutsch 1770 „Gedanken, die Heilungsart der hin fallenden Sucht betreffend.“ Und auch im Todesjahre 1772 ruhte Hirschels fleißige Feder nicht: es erschienen „Medizinische Nebenstunden“ und zuletzt „Vermischte Beobachtungen und Gedanken zur Arzeneywissenschaft.“ Wenn ich noch hinzufüge, dass Hirschel auch Beiträge für die „Berlinischen Mannigfaltigkeiten,“ das „Berlinische Magazin“ und die „Berlinischen Sammlungen“ geliefert hat, wird man mir in der Bewunderung für dieses kurze und arbeitsreiche Leben gern beistimmen.

Hirschels Zeitgenosse ist der berühmte Markus Herz, zu Berlin 1747 geboren, der sich gleichfalls durch praktische und wissenschaftliche Tüchtigkeit hervorthat. Sein armer Yater, der Lehrer war, sandte ihn als Kaufmannslehrling nach Königsberg; der wissens durstige Jüngling geriet aber hier ganz unter den Zauber des gewaltigen Philosophen Immanuel Kant, und er begann seine Vorlesungen zu hören und in sein philosophisches System sich zu vertiefen. Er gewann die Freundschaft Kants und zählte zu seinen besten Schülern, so dass ihn Kant bei seiner Professordisputation zum Opponenten wählte. 86) Daneben studierte er Medizin und Physik. Mit dem Doktordiplom geschmückt, kehrte Herz nach Berlin zurück und ließ sich als Arzt nieder; mit Kant blieb er in regem Briefwechsel und vermittelte die Bekanntschaft Mendelssohns mit dem Königsberger Philosophen. Ja, in seinem Hause, das durch seine Gattin, die eben so schöne, als geistreiche Henriette Herz, der Mittel- und Sammelpunkt der geistigen Elite Berlins wurde, hielt er philosophische Vorlesungen und entwickelte mit seltener Beredsamkeit das System seines großen Meisters. Später fügte er physikalische Vorlesungen hinzu, die er durch Experimente erläuterte; zu diesen fand sich sogar der preussische Kronprinz, der nachmalige König Friedrich Wilhelm III., in seiner Wohnung ein. Trotzdem fand er noch Zeit zur ausgedehntesten Tätigkeit und wirkte als praktischer Arzt (als solcher auch Arzt Moses Mendelssohns und Leibarzt des Fürsten von Waldeck), und als Arzt des jüdischen Krankenhauses in Berlin eben so unermüdlich, als erfolgreich, so dass er in der Tat zu den tüchtigsten Praktikern der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts allgemein gezählt wird. 87) Markus Herz starb im Januar 1803, hat also nur ein geringes Lebensalter erreicht. Die berühmteste Schrift, die er hinterlassen hat, war benannt „Versuch über den Schwindel“ und erschien 1786 zum ersten, 1791 zum zweiten Male in Berlin. Seine sonstigen Medizinischen Schriften sind „Briefe an Ärzte“ — I. Teil 1777 und 1783, II. Teil 1784 in Berlin erschienen — „Versuche über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit, Mitau 1776 und Berlin 1790“, „Betrachtungen über das Nervenfieber, Heidelberg 1790“, und „Briefe an Doktor Dohmeyer über die Blatternimpfung, Berlin 1802.“ Daran reiht sich die Schrift „Über die frühe Beerdigung der Juden, Berlin 1787 und 1788, in der er im Mendelssohnschen Geiste diesen Missstand bekämpfte. Die Früchte seiner philosophischen Bestrebungen sind in „Betrachtung der spekulativen Weltweisheit, Königsberg 1771“ niedergelegt, der Inhalt seiner physikalischen Vorlesungen in „Grundlinien zu meinen Vorlesungen über die Experimentalphysik, Berlin 1787.“

85) J. J. Plenck lebte von 1738 — 1807, war anfangs Professor in Tyrnau, später in Wien.

86) A. Geiger, 1. c. Band I. pag. 96.

87) Vgl. die Lehrbücher von Baas und von Häser (Band II).


In Berlin geboren war endlich auch Georg Levison, der sich schon als Knabe außergewöhnlich begabt erwies und als Jüngling mit glühendem Eifer Medizin studierte. Nach vollendetem Studium begann er seine Praxis in London als Arzt des Hospitals des Herzogs von Portland. Von hier berief ihn König Gustav III. von Schweden als Professor der Medizin nach Upsala. 1781 kehrte Levison nach Berlin zurück und zog sich schließlich 1784 als praktischer Arzt nach Hamburg, woher seine Eltern stammten, zurück, um hier bis zu seinem Tode 1797 in ausgedehntester Weise unter allseitiger Wertschätzung und Verehrung zu wirken. In englischer Sprache und später in selbstgefertigten Übersetzungen ließ Levison drucken „Untersuchung über das Blut“ (deutsch 1782 zu Berlin), dem berühmten Anatomen William Hunter (1718 — 1783) 88) zugeeignet, ferner „Einführung in die Medizinische Praxis Londons — (von Theden übersetzt, Berlin 1782) — und „Beschreibung der Bräuneepidemie“, deutsch Berlin 1783. Deutsch veröffentlichte er „Leidenschaften und Gewohnheiten der Menschen, und ihr Einfluss auf die Gesundheit, Brannschweig 1797 und 1801“, zweitens „Der Mensch in moralischer und physischer Beziehung, Braunschweig 1797“ (dasselbe, wie das vorhergehende, mit geändertem Titel?): 1785 liess Levis on in Lübeck eine deutsche Wochenschrift „Die Ärzte“ erscheinen und 1786 eine „Deutsche Gesundheitszeitung“ zu Hamburg. Zahlreiche andere Schriften beziehen sich nicht auf die Medizin.

Von Berlin, wo er Medizin studierte, führt uns Abraham Kisch nach esterreich. Seit der Vertreibung der Juden aus Wien war ihr Schicksal in Österreich ein wechselndes gewesen. Böhmen, das schon seit den Judenverfolgungen in Spanien und Portugal zahlreiche jüdische Einwohner besaß, ohne dass sich unter ihnen die Wissenschaft zur Blüte entwickelt hätte, gewährte ihnen im achtzehnten Jahrhunderte anfangs bessere Verhältnisse. Als aber die Königin Maria Theresia 1740 das Erbe Habsburgs antrat, änderte sich auch in Böhmen die Lage der Juden; 1745 bereits untersagte sie ihnen den ferneren Aufenthalt im Lande. Mit seinen Glaubensgenossen verließ der genannte Arzt Kisch die Hauptstadt Prag, wo er geboren war. Wir hörten, dass er in Berlin Medizin studierte; der Student Kisch wurde hier der Lehrer Mendelssohns in der lateinischen Sprache. 89) Zu Halle empfing Kisch auf Grund seiner Arbeit Theoria et Therapia Phthyseos pulmonalis 1749 das Doktordiplom der Medizinischen Fakultät. Als unter dem Drucke des englischen und holländischen Einflusses Maria Theresia damals das Verbannungsdekret gegen die böhmischen Israeliten aufhob kehrte auch Dr. Abraham Kisch nach seiner Heimat zurück und wurde in Prag Arzt der jüdischen Gemeinde und Leiter des ihr gehörigen Spitals. In diesen Ämtern wirkte er erfolgreich bis zu seinem frühen Tode 1763. Sein Nachfolger wurde Jonas Jeitteles, der in Prag als Sohn eines Apothekers geboren war (1735). Durch einen Doktor Radnitzky war er in das Studium der Heilkunde eingeführt worden und hatte es dann in Leipzig und Halle mit Eifer fortgesetzt; in Halle verschaffte ihm 1755 seine Dissertatio inauguralis medica sistens theoriam ac therapiam fluxus diabetici das Doktordiplom. So kehrte er in seine Heimat zurück und hatte hier, da die Praxis der jüdischen Ärzte auch damals noch in Böhmen sich nur auf die Juden erstrecken durfte, anfangs mit ärmlichen Verhältnissen zu kämpfen, bis sie sich durch die Nachfolge in den Kisch'schen Ämtern besserten. Jeitteles starb im April 1806 und hinterließ außer seiner Dissertation ein Werk Observata quaedam medica, Prag, Wien und Leipzig 1783.

Am 19. Juli 1781 erließ der edle Josef II. von Österreich sein berühmtes Edikt, durch welches die Juden von dem beschimpfenden Leibzoll befreit und zu Mitgliedern der allgemeinen Gesellschaft gemacht wurden. Da wünschte auch Jeitteles seine Praxis auf christliche Kranke auszudehnen, und er erwirkte, als er auf Widerstand stieß, persönlich in Wien diese Erlaubnis, welche wesentlich dazu beitrug, seinen Ruhm als tüchtigen Praktiker zu befestigen und zu vermehren. Schon aus diesem Umstände erhellt, wie schwierig und langsam sich die Verordnungen des menschenfreundlichen Monarchen zu Gunsten seiner jüdischen Untertanen in die Praxis umsetzten; ja, in der Folgezeit kam es zuweilen sogar zu Rückschritten. Namentlich in Böhmen und in Mähren blieben die Juden noch lange in besondere Gassen eingeschlossen; in Wien blieb eine Beschränkung in der Zahl der gemeldeten Familien und Häuser bestehen, in Ungarn wurde erst 1844 die sogenannte Toleranztaxe abgeschafft u. s. f. Und in Hinblick auf die jüdischen Ärzte nach jenen Edikten, die sie in österreichische Ärzte verwandelten, genügt es, die eine Tatsache hervorzuheben, dass erst im Jahre 1860 in Hermann Zeissl der erste jüdische Professor in das Kollegium der Wiener Medizinischen Fakultät eintrat 90). Hermann Zeissl, 1817 auf dem Gute Vierzighuben in Mähren geboren, hatte 1839 die Universität zu Wien als Student der Medizin bezogen, war hier promoviert und als Praktikant und Internist im allgemeinen Krankenhause ausgebildet worden. Unter Hebra bildete er sich zum Dermatologen aus, und seinen Vorträgen über Diagnostik syphilitischer und nichtsyphilitischer Hautkrankheiten lauschten Männer, die später zu den Zierden der Wissenschaft zählten, z. B. Lindwurm und Kussmaul. 1850 erschien zuerst Zeissls „Compendium der Pathologie und Therapie der primärsyphilitischen und einfach venerischen Krankheiten“, und der Autor habilitierte sich als Privatdozent in Wien; zehn Jahre später wurde er unter dem Ministerium Schmerling außerordentlicher Professor und zählte bald zu den größten Berühmtheiten Wiens, die mit Ehren und Orden geziert wurden. Zeissl gehörte zu den hervorragendsten und energischsten Verfechtern der dualistischen Lehre in der Syphilidologie; sein fast in alle Sprachen übersetztes „Lehrbuch der konstitutionellen Syphilis“ ist vielleicht das klassischste „Werk dieser Spezialdisziplin.

90) J. Hirschfeld, Galerie berühmter Kliniker und hervorragender Ärzte unserer Zeit, Wien 1877.

Nächst Österreich war es im deutschen Sprachgebiete Preußen, das die Emanzipation der Juden in das Auge fasste. 1787 beseitigte hier Friedrich Wilhelm II. den Leibzoll und ließ Reformprojekte zu Gunsten der Juden ausarbeiten; in dem am 4. Januar 1790 eingegangenen Entwurf heißt es unter IV. f.: „Außerdem werden den Juden gestattet sein alle vernünftigen Künste und Wissenschaften, als Pitschierstechen, Glasschleifen, Chirurgie, exklusive zünftiger Barbierstube, ferner öffentliche Lehrämter in Künsten und Wissenschaften, der Medizin, Philosophie und sonst 91).“ Dann wurden wahre Staatsbürger zuerst unter Napoleons I. Einfluss die Juden des Rheinlandes und Westfalens; das Königreich Preußen folgte für alle seine Länder 1812 diesem Beispiel. In Bayern hatten unter Maximilian Josef die Edikte von 1801 und 1813 diese Wandlung zum Bessern angebahnt; aber es kostete noch einen langen und schweren Kampf bis zur völligen Gleichstellung der Konfessionen. In Baden waren 1804 Leibzoll, Passagiergeleit und ähnliches aufgehoben worden; 1808 erhielten die Juden Bürgerrechte, blieben aber vom Staatsdienst und der Ständeversammlung ausgeschlossen. Württemberg hatte 1808 den Leibzoll beseitigt und Künste und Handwerke den Juden freigegeben; 1828 verbesserte es die Lage der Israeliten fast bis zur Gleichstellung mit den anderen Konfessionen. 1822 bestimmte der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, dass künftig alle bisher in landesherrlichen Schutz genommenen Juden als Inländer zu gelten hätten. Dagegen erlebte die Stadt Meiningen 1819 noch einmal eine Judenaustreibung, und, wer sich über die Lage der wenigen Juden im Königreiche Sachsen bis in das vierte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts zu unterrichten wünscht, der lese die „Vorstellung der israelitischen Gemeinde zu Dresden an die hohe erste Kammer“ vom Frühjahr 1833 92) und erinnere sich, dass damals noch in Dresden und Leipzig allein die sächsischen Juden leben durften! Das Jahr 1848 endlich gewährte „jedem Deutschen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ und „verpflichtete niemanden, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“ „Durch das religiöse Bekenntnis,“ heißt es weiter, „wird der Genuss der bürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“ Getreu unserer Vornahme, hört also für uns die Geschichte der jüdischen Ärzte im deutschen Sprachgebiete unter Rücksicht auf diese Verhältnisse mit dem Beginne des neunzehnten Jahrhunderts auf. Aber wie in Österreich das Beispiel Zeissls den weiten Weg von der Verordnung zum Vollzuge zeigte, so möge für Deutschland Valentin den gleichen Nachweis führen.

91) Geiger, 1. c. II. Band, pag. 344.

92) Gedruckt bei C. H. Meinhold und Söhne, Dresden 1833.


Gabriel Gustav Valentin 93) wurde als Sohn einer altangesehenen, gelehrten jüdischen Familie zu Breslau im Juli 1810 geboren, bezog 1828 die Universität seiner Heimatsstadt und promovierte ebenda 1832 mit einer Dissertation, welche die erste mikroskopische Untersuchung auf dem Gebiete der Gewebsentwicklung enthielt. Valentin arbeitete dann gemeinsam mit Purkinje 94), und die Frucht ihrer gemeinsamen mikroskopischen Untersuchungen war ihre Arbeit „Beobachtungen über Flimmerbewegung“. 1835 gab der junge Forscher sein „Handbuch der Entwickelungsgeschichte“ heraus, und dann gewann er mit seiner lateinisch geschriebenen „Darstellung der Entwicklung der Pflanzen und der Tiergewebe“ den großen Preis (3.000 fr.) der Pariser Akademie der Wissenschaften. 1833 hatte Alexander von Humboldt gelegentlich der deutschen Naturforscherversammlung in Breslau Valentin kennen und schätzen gelernt. Trotz der Fürsprache dieses Heroen unter den Fürsten der „Wissenschaft war es dem Juden Valentin uninöglich, auch nur eine Assistentenstelle in Breslau für sich zu erlangen oder die Venia legendi als Privatdozent zu bekommen. Valentin hatte schon seine mikroskopischen und physiologischen Forschungen aufgegeben und sich mit der bescheidenen Stellung eines praktischen Arztes begnügen wollen, als die Universität zu Bern ihm 1836 die Professur für Physiologie antrug. Er antwortete zustimmend, bemerkte aber freimütig, dass er Jude sei. Schultheiß Neuhaus erklärte, das Judentum bilde für die Professur kein Hindernis, und Valentin zog nach Bern, nachdem er noch einmal um eine außerordentliche Professur in seiner Heimat gebeten hatte, aber vom Minister Altenstein ablehnend beschieden worden war. Er war so der erste Jude, der eine ordentliche Professur auf einem deutsch redendem Gebiete bekleiden durfte, in seiner zweiten Heimat aber, der Schweiz, der er auch treu blieb, als 1845 zum ersten und 1846 zum zweiten Male die Universität Tübingen ihn zu gewinnen suchte, auch der erste Jude, der das Bürgerrecht erhielt (1850). Achtzig Semester hat Gabriel Gustav Valentin zu Bern gelehrt. Seine Geschichte aber klingt in der Tat, wie sein Biograph sagt, „wie eine dunkle Mähre“! Und sie beweist, dass tatsächlich erst in jüngster Zeit in Deutschland die Konfession aufgehört hat, ein Prüfstein für die wissenschaftliche Befähigung zu sein, dass in unserem Vaterlande fast bis in die Gegenwart die Geschichte der jüdischen Ärzte hineinreicht.

93) Hirschfeld, 1. c.

94) Der Böhme Johann Evangelista Purkinje, 1823 — 1849, Professor der Physiologie in Breslau und Gründer des ersten deutschen physiologischen Instituts, ist bekanntlich besonders durch seine Entdeckungen auf dem Gebiete der physiologischen Optik unsterblich geworden

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte