Einleitung

Von allen Kulturvölkern der grauen Vorzeit nimmt das jüdische Volk eine ganz besondere und vielleicht die merkwürdigste Stelle ein. Einst berufen, der Urheber und der erste Träger des Einheitsgedanken in der Anschauung von der Himmel und Erde beherrschenden Gottheit zu sein, fand es später statt Achtung nur Ächtung bei den nachfolgenden Kulturvölkern, die diese Idee von dem einigeinzigen Wesen, welches als Hüter der Schöpfung über den Sternen wohnt, von ihm übernommen und teilweise weiter ausgebaut und in besonderer Weise umgestaltet haben. Die zehn Sittengesetze, welche der Sendling seines Gottes ihm vor nunmehr bald drei und ein halb Jahrtausenden verkündet, hatte, sind das Gemeingut aller Kulturvölker, sind die Grundlage aller Religion und aller Ethik geworden, und das Volk, von dem man diese Behauptung aufstellen darf, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen, ist eben dasselbe, dem man bis in die Gegenwart hinein Mangel an Sittlichkeit und Hang zum Laster so gern zum Vorwurfe macht. Es ist eben dasselbe Volk, das zum Spielball der Nationen geworden ist, das, ich möchte sagen, als Sündenbock für alle die zahlreichen Gebrechen des sittlichen Menschen schwer, unendlich schwer hat büßen müssen und zum Teil noch heute büßen muss. Es ist eben dasselbe Volk, das zuerst die Nächstenliebe als ewiges und zeitliches Heil verkündet hat, und das selbst Jahrtausende hindurch Hass und Verfolgung empfunden hat, so dass seine Geschichte mit Blut geschrieben ist, wie kaum die Geschichte irgend eines Volkes, so dass die Nächte seines Daseins bei weitem zahlreicher sind, als die Tage, an welchen Sonnenglanz seinen Himmel verklärte! Und wo wäre endlich ein Volk zu finden, das allen diesen Schicksalsstürmen, allen diesen grausamen Keulenschlägen der Lieblosigkeit und Unduldsamkeit, allem wahnwitzigen Fanatismus verblendeter und irregeführter Geister widerstanden hätte bis auf den heutigen Tag? Von diesem streng historischen Standpunkte aus, durchaus nicht aus einem Sondergelüste, durchaus nicht beeinflusst von unwissenschaftlicher Absicht, ist es gewiss gerechtfertigt, die Geschichte irgend eines Berufes und Standes, die unter den Juden überhaupt Vertreter gehabt haben, aus der Welt- und Kulturgeschichte des jüdischen Volkes auszulösen. Dazu kommt, dass die Juden zwar heute nicht mehr, wie oft genug fälschlich behauptet wird, einen Staat im Staate bilden, aber doch ehemals bis in die allerjüngste Vergangenheit, welche endlich die Schranken des Ghettos niederriss, die Ausnahmegesetze aufhob, die Juden zu gleichgestellten, gleiche Pflichten und gleiche Rechte tragenden Mitgliedern des Gemeinwesens emporhob, eine Sonderheit gebildet haben. Mit Berücksichtigung dieses Umstands würde der ,, jüdischen“ Geschichte ein natürliches Ende an jenem Zeitpunkt gesetzt sein, wo die Sonderstellung der Juden in den Staaten ein Ziel gefunden hat: nicht aber würde man sie bis heute fortführen dürfen und sie als unabgeschlossen betrachten können. Denn es gibt heute nicht mehr in gleichem Sinne, wie früher, z. B. jüdische Ärzte, sondern deutsche, französische, englische u. s. f. Ärzte, welche zufällig jüdischer Konfession sind, wie andere lutherischer oder katholischer u. s. w. Selbst diese Unterschiede beginnen in der Wissenschaft zu verblassen, und das bedeutet einen höheren Fortschritt in der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts, weil jede wahre Wissenschaft international sein, grenzenlos alle Völker umfassen muss.

Wenn ich nun im besonderen mich an den Versuch wage, eine Geschichte der jüdischen Ärzte in weiten Umrissen zu entwerfen, so ist das gerechtfertigt, weil zu allen Zeiten dem jüdischen Volke Ärzte angehört haben und diese jüdischen Ärzte in der Geschichte der gesamten medizinischen Wissenschaft eine bedeutungsvolle Rolle gespielt haben. Ganz besonders die Bedeutung der jüdischen Ärzte im Mittelalter ist eine anerkannte Tatsache, freilich eine Tatsache, von der Steinschneider mit Recht behauptet hat, dass sie zu jenen Erscheinungen der Kultur- und Literaturgeschichte gehört, die überall als bekannt vorausgesetzt, aber nirgends speziell untersucht sind. Noch in jüngster Zeit hat Rudolf Virchow vor einem Parterre der glänzendsten Vertreter der medizinischen Wissenschaft aller Völker und Länder — auf dem internationalen medizinischen Kongress zu Rom in der allgemeinen Sitzung am 30. März 1894 in seinem Vortrage „Morgagni und der anatomische Gedanke“ — es ausgesprochen „Im frühen Mittelalter waren es die Juden und die Araber, welche einigen bestimmenden Einfluss auf den Fortgang der medizinischen Lehre nahmen. Erst unsere Zeit hat hebräische Manuskripte an das Licht gefördert, welche erkennen lassen, mit welchem Eifer und welcher Gelehrsamkeit jüdische Ärzte des frühen Mittelalters für die Erhaltung und Förderung der Medizin tätig gewesen sind; man darf wohl sagen, dass bis in diese Zeit zurück sich die oft erbliche Befähigung der Juden, die seitdem so Großes für die Wissenschaft geleistet haben, verfolgen lässt.“ Wahrlich ein sehr großes Lob aus diesem scharfen, kritischen Munde! Wir werden sehen, dass diese Anerkennung nicht eine postmortale ist, sondern die Zeitgenossen jener Ärzte schon bewog, oft genug den angeborenen und anerzogenen Hass gegen den Juden um das Heil des eigenen Leibes zu überwinden und jüdische Ärzte in einer Zeit blindester Verfolgungswut gegen die Nachkommen Abrahams in die einflussreichsten Stellen und zur größten Ehrung beförderte.


Die Frage, warum gerade die Juden so befähigt waren und es bis in die neueste Zeit geblieben sind, der ärztlichen Wissenschaft mit Erfolg sich zu widmen, gehört nicht in eine rein historische Darstellung. Ich will nur ganz im allgemeinen auf zwei Punkte hinweisen. Einmal schärfte die gesetzlich gebotene und ehemals auch ausgeführte, intensive Beschäftigung mit den heiligen Büchern, besonders mit Pentateuch und Talmud, den Geist der jüdischen Knaben und Männer in hervorragender Weise; es ist bekannt, dass sich geistige Eigenschaften vererben, und dass sie sogar in demselben Grade sich steigern können, in welchem die Geschlechtslinie tiefer sinkt. Andererseits ist zu bedenken, dass den Juden viele Jahrhunderte lang in der Auswahl des Berufs enge Schranken gesetzt waren, weil sehr viele Berufe, von den wissenschaftlichen oft alle, ihnen verschlossen wurden. Einen Arzt brauchten die Juden, und größere Gemeinden waren sehr wohl imstande, ihn ohne andere Unterstützung zu ernähren. Es lag also für alle Israeliten, welche einen höheren Drang nach wissenschaftlicher Betätigung in sich spürten, kaum etwas näher, als das Studium und die Ausübung der Heilkunde. Da in älteren Zeiten die jüdischen Gemeinden ihre Seelsorger nicht mit festem Gehalt anstellten, erklärt es sich also auch, warum so oft die Rabbiner zugleich Ärzte waren — die Heilkunde war ihnen die Quelle eines anständigen und ehrenvollen Broterwerbs, der die Existenz der Familie gewährleistete. Dass aber, um jedem Missverständnis dieser Bemerkung vorzubeugen, trotzdem die Erwerbssucht bei der Ausübung des ärztlichen Berufs gerade diesen Arztrabbinern sehr fern lag, das bezeugt die Geschichte, und wir werden Gelegenheit haben, wiederholt dafür Belege, selbst Zeugnisse Andersgläubiger, anzuführen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte