Die Hochschulen von Montpellier und Paris

Im vorhergehenden Abschnitt ist die Gründung der Hochschule von Salerno auf italischen! Boden besprochen worden, und ich habe dargelegt, welchen Anteil daran jüdische Ärzte hatten. Es ist Zeit, der Nebenbuhlerin Salernos auf Frankreichs Gefilde zu gedenken, ehe wir noch weiter im Mittelalter vorschreiten.

Bereits im neunten Jahrhunderte gab es in Frankreich jüdische Unterrichtsanstalten, an denen auch Heilkunde gelehrt wurde; die bedeutendsten waren in Arles und in Narbonne. In der letztgenannten Stadt stand um das Jahr 1000 der Rabbi Abon der jüdischen Schule vor. Die Rabbiner waren um diese Zeit zum großen Teile Ärzte; denn die gesamte Heilkunde befand sich in einer Stagnation, in einer Zeit des Stillstandes, welche nichts zu den Erkenntnissen früherer Zeit hinzuzufügen wusste und bescheiden genug war, sich mit den Ergebnissen der gelehrten Vorfahren zufrieden zu geben. Wer also Arzt sein oder werden wollte, musste die Weisheit Galens und Hippokrates sich zu eigen machen, und, weil, wie ich schon einmal betont habe, deren Werke, im Urtext unverständlich geworden, in arabischen, syrischen oder hebräischen Übersetzungen und Kommentaren studiert werden mussten, so hatten das Medizinische Studium eben diejenigen am leichtesten, welche am besten jene Sprachen verstanden, und das waren die Rabbiner der jüdischen Gemeinden: „Die orientalischen Sprachen“ sagt Cabanis 14) „waren ihnen vertraut, und in einer Zeit, in der Galen, Hippokrates und die anderen Väter der Heilwissenschaft im Abendlande nur in den arabischen und syrischen Übersetzungen bekannt waren, waren die Juden fast die einzigen, welche Krankheiten nach einer gewissen Methode zu behandeln wussten, dadurch dass sie aus den Arbeiten des Altertums Nutzen zogen.“ So war also auch Rabbi Abon zu Narbonne der Heilwissenschaft kundig und erzog in seiner Schule junge Israeliten zu Ärzten. Einer seiner Schüler, dessen Namen der Nachwelt nicht überliefert wurde, scheint etwa 1025 nach Montpellier, welche Stadt im neunten Jahrhunderte begründet sein mag, gekommen zu sein und eine jüdische Schule errichtet zu haben. Diese ist die Grundlage zur Hochschule von Montpellier geworden , so weit die spärlichen Nachrichten über deren Ursprung reichen. Jedenfalls wurde anfangs, ähnlich wie in Salerno, auch hier in arabischer und hebräischer Sprache unterrichtet. Der Gebrauch der lateinischen oder provencalischen Sprache ist mit Sicherheit erst im zwölften Jahrhunderte nachzuweisen, zu einer Zeit, in der die medizinische Fakultät von Montpellier bereits hochberühmt war. Und wie in Salerno, so gab es hier zahlreiche jüdische Lehrer und Schüler; Jehuda habe ich bereits als Lehrer und Moses ben Nachmann als dessen bedeutendsten Schüler genannt. Die Juden waren in Montpellier den weltlichen Behörden unterstellt. Zeitweise scheinen ihnen diese im zwölften Jahrhunderte Schwierigkeiten in der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bereitet zu haben; wenigstens wird von Wilhelm VIII. berichtet, dass er im Jahre 1180 wieder jedermann Studium und Lehre der Medizin in der Fakultät von Montpellier freigegeben habe.


14) Revolution in der Heilkunde, II. Capitel §. 8, citiert nach Carmoly,

Einzelne Namen sind uns aus der ersten Epoche des Aufschwungs der Schule von Montpellier nur wenige überliefert worden. Außer Jehuda kennen wir den Lehrer dieses Mannes Isaak ben Abraham. Ein anderer jüdischer Professor war dort Jakob Hakoton, welcher die hebräische, arabische, lateinische und provencalische Sprache beherrschte. Die ehemals königliche Bibliothek in Paris besitzt von diesem Arzte eine Übersetzung der Pharmakopoe von Montpellier, deren Autor, der Doktor Nikolas, zur Zeit des Jehuda mit diesem gemeinsam Vorsitzender (Dekan) der Medizinischen Fakultät war; es finden sich darin 181 Rezeptkompositionen. Wahrscheinlich Schüler von Montpellier war Meschula m 1e médecin, der von hier nach Troyes in der Champagne kam und dort Verkehr mit dem berühmten Raschi pflegte. Dieser Mann, den die Franzosen als prince des commentateurs verehrten (besonders um seines Talmudkommentars halber), war in Troyes 1013 geboren und starb ebendaselbst im Juli 1108 — also muss auch Meschulam um diese Zeit gelebt haben. Raschi, mit dem vollen Namen Rabbi Salomon ben Isaak, war übrigens selbst ärztlich gebildet, und sein Talmudkommentar enthält gerade über Medizin viele Notizen. Aus späterer Zeit ragt unter den jüdischen Schülern der Fakultät von Montpellier Samuel Aben Tibbon, der Sohn eines spanischen Emigranten, den wir noch kennen lernen werden, hervor. Er ist der beste Interpret arabischer Schriftsteller in hebräischer Sprache. Die Werke des Maimonides , von ihm übersetzt, wurden noch 1601 in Venedig gedruckt. Auch Originalarbeiten schrieb er, doch wohl nur philosophischen Inhalts. Samuel Aben-Tibbon war in Lunel geboren, praktizierte daselbst und starb auch in dieser Stadt (1239). Ein Schüler dieses Arztes, später sein Schwiegersohn, war Jakob ben Abba-Mariin Marseille, wo seine Familie im höchsten Ansehen stand; eine Zeit lang lebte er auch in Beziers und in Narbonne, bis ihm die seltene Auszeichnung widerfuhr, im Jahre 1232 zu Kaiser Friedlich II., dem edelen Sprossen aus dem Hause der Hohenstaufen, nach Neapel berufen zu werden. Dieser hochgebildete Fürst, der ja ein Freund und Gönner aller Musen war, überhäufte den jüdischen Arzt mit Ehrenbeweisen und Geschenken. In Neapel fertigte Jakob ben Abba-Mari eine Übersetzung eines astronomischen Werks des Ptolomäus und des zugehörigen Kommentars von Ebn-Roschd in die hebräische Sprache an. Eine andere seiner Übersetzungen, ebenfalls astronomischen Inhalts, hat nach dem Manuskript der vatikanischen Bibliothek Christmann 1590 zu Frankfurt in lateinischer Übertragung erscheinen lassen.

Nach Samuel Aben-Tibbon werden die jüdischen Schüler von Montpellier wieder seltener, weil Kirchengesetze den Juden abermals die Ausübung der ärztlichen Praxis erschwerten. 1246 verbot das Konzil zu Beziers den Christen, sich jüdischer Ärzte zu bedienen, und 1254 wiederholte dies Verbot das Konzil von Alby, bis endlich 1306 Philipp der Schöne, der despotischste Fürst aus dem Hause der Valois, (1285 — 1314), zu seinen Gewaltakten gegen England, gegen Papst Bonifaz VIII. u. s. w. noch eine Judenverfolgung hinzufügte, um sich mit dem Vermögen dieser Untertanen zu bereichern, und also auch aus Montpellier die jüdischen Ärzte, Lehrer und Studenten, vertrieb. Noch im Jahre 1300 war ein Jude, Profatius , aus der Gemeinde Marseille, Dekan der Medizinischen Fakultät von Montpellier gewesen. Dieser Profatius war auch ein außerordentlich kluger Astronom, der mathematisch-astronomische Tabellen aufzustellen wusste und einen Kalender berechnen konnte; berühmt und von den meisten späteren Astronomen, so von Copernikus, zitiert ist seine Beobachtung der größten Abweichung der Sonne vom Äquator, welche er im Jahre 1303 mit 230 32' berechnet hatte.

Diese Verfolgung der Juden aus Montpellier empfing ihren ersten Anstoß aus Paris. Die dortige Universität ist gewiss uralt: man führt ihren Ursprung auf Karl den Großen zurück. Allein sie hatte nur Bedeutung für Philosophie und Theologie; die Medizinische Fakultät von Paris hat erst im sechszehnten Jahrhunderte größeren Einfluss auf die Entwicklung der Heilwissenschaft gewonnen. Aber die Eifersucht der Pariser auf die Schule von Montpellier, deren Glanz den der Pariser Medizinischen Fakultät weit überstrahlte, wurde schon im dreizehnten Jahrhunderte rege, und, weil diese Schule von Juden gegründet und in der Folge lebhaft von ihnen besucht wurde, so wurde aus dieser Eifersucht sehr bald Hass gegen die Juden. Ich bemerke dabei, dass in Paris selbst zu dieser Zeit wenig jüdische Ärzte lebten. Genannt werden am Ende des dreizehnten Jahrhunderts die Ärzte Copin und Mossé; auch eine jüdische Ärztin Sarah wird erwähnt. Größere Bedeutung hatten der in der Nähe von Paris lebende Rabbi Isaak, ein Freund jenes Arnold von Villanova, der von 1235 — 1312 lebte und als Vorkämpfer des erwachenden Dranges nach freier Forschung unsterblich geworden ist, und dessen Sohn und Schüler Vital; Isaak genoss besonderen Ruf als „Wundarzt. Im Jahre 1301 verbot also die Fakultät von Paris, Männern und Frauen mosaischer Konfession neben katholischen Ärzten die Ausübung der Heilkunde zu betreiben. Darauf begannen die Priester in Montpellier gegen die jüdischen Ärzte zu agitieren und gingen schließlich so weit, Beichtkinder, welche sich eines jüdischen Arztes bedient hatten, zu exkommunizieren; sie verleumdeten die jüdischen Ärzte und ziehen sie der Unfähigkeit, Kranke zu behandeln. Im Jahre 1331 bewogen diese fanatischen Mönche Jacques, Graf von Rousillon und Sardinien, von neuem zu verordnen, dass als Arzt nur tätig sein dürfe, wer nach bestandener Prüfung vor der Fakultät von Montpellier dazu die Erlaubnis erhalten habe; da den Juden damals das Studium, ja der Aufenthalt in Montpellier noch verboten war, ist es ersichtlich, wen dieses Dekret betraf. König Philipp VI. bestätigte noch im Jahre 1331 diese Verordnung. Schon vorher hatte sich auch das Konzil zu Avignon (1326) gegen die Zuziehung jüdischer Ärzte und Wundärzte an das Krankenbett von Christen ausgesprochen, und ein zweites Konzil von Avignon (1337) und das von Rouergue (1336) vertraten die gleiche engherzige Anschauung.

Die französische Bevölkerung willfahrte aber durchaus nicht immer diesen Verordnungen. Außer den genannten Pariser Ärzten praktizierten zur Zeit dieser Bedrückungen in Frankreich Ischanan Jarchuni, der eine Arbeit über den Urin verfasst hat, und Nathan ben Samuel, der namentlich als geschickter Lehrer die Verbreitung Medizinischer Kenntnisse unter der jüdischen Jugend förderte.

Im Jahre 1360 durften die Juden wieder in die Städte Frankreichs, aus denen sie verbannt gewesen waren, zurückkommen. König Johann I., welcher damals aus der vierjährigen englischen Gefangenschaft in sein Land zurückkehrte, erneuerte aber in diesem Jahre die Bestimmung, dass nur geprüfte Ärzte praktizieren dürften. Der unter den christlichen Berufsgenossen einmal wachgerufene und noch nicht vergessene Hass gegen die Juden mag allerdings manchem derselben die Staatsprüfung nach bestem Können erschwert haben. Aber den Segen einer solchen Verordnung werden wir trotzdem anerkennen, und es mag sogar wahr sein, dass sich gerade unter den Juden durch die unsicheren Verhältnisse, in denen sie ein halbes Jahrhundert in Frankreich gelebt hatten, „statt Ärzte Quacksalber und Pflasterstreicher, die manch' leichtgläubigen Bürger und Bauer betrogen, und denen er Verstümmelung, Krankheiten oder gar den Tod verdankte“ 15) vorfanden. Jedenfalls gab es sehr bald wieder an den Schulen von Montpellier, von Xarbonne und Carcassonne jüdische Ärzte. Das Konzil von Lavour (1368), welches die alten Konzilbeschlüsse sich aneignete, vermochte nichts daran zu ändern, und besonders in Montpellier muss die Zahl der jüdischen Ärzte unter der Regierung Karls V. und Karls VI., also in der ganzen zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, sehr groß gewesen sein. Namentlich werden genannt als bedeutende Ärzte im damaligen Frankreich Salomon ben Abigdor und Messulam ben Abigdor, welche beide auch schriftstellerisch tätig waren, Jakob Lunel und der als Chirurg berühmte Dolan Bellan. Während die beiden Abigdors in Montpellier lebten, waren die beiden letztgenannten Ärzte in Carcassonne. Hier lebte auch Leo Josef, welcher beide übertraf und uns eine Übersetzung der Medizinischen Werke Johanns von Tornamira und Gerhards von Solo hinterlassen hat. Jekuthiel ben Salomon wirkte in Narbonne und übersetzte die Practica Medizinae des Franzosen Bernhard Gordon, unter den ziemlich wertlosen scholastischen Compendien des Mittelalters eines der wertvollsten, in das Hebräische (1387). Auch ein anderer jüdischer Arzt, Jehuda ben salomon, ist als Übersetzer Gordonscher Werke bekannt. Vielleicht waren Jekuthiel und Jehuda Brüder, welche sich in die Übersetzung der Werke jenes Lehrers von Montpellier geteilt haben. In der Provence hatten jüdische Ärzte sogar wieder Zutritt in die Paläste der Großen; wenigstens wurde 1369 Baruch Abin zur Königin Johanna aus Arles berufen, und die hohe Frau lernte den Juden so hoch schätzen, dass sie ihn und seine Nachkommen von jeglicher Steuer frei erklärte. Auch Papst Clemens VI. und Urban V. hatten einen jüdischen Leibarzt, der sich als Übersetzer der Chirurgie des Guy von Chauliac, des berühmtesten chirurgischen Schriftstellers des vierzehnten Jahrhunderts, 16) ausgezeichnet hat. Das Interesse für die Chirurgie, welche damals anfing, eine selbstständige und rationelle Wissenschaft aus einem durch Übung erlerntem Gewerbe zu werden, war überhaupt unter den jüdischen Ärzten Frankreichs in jener Zeit sehr lebhaft. Besonders war das in Paris der Fall, wohin 1295 aus Mailand Lanfranchi als Apostel der chirurgischen Wissenschaft, der auf ihre Entwicklung in Frankreich den größten Einfluss gewann, gekommen war. Die jüdischen Schüler desselben übersetzten sein großes Lehrbuch der Chirurgie in das Hebräische als Chokma -Nischlemath Bemelekhath Hajad; das Manuskript dieser ungedruckten Übersetzung bewahrt noch die Pariser Bibliothek auf.

Wahrscheinlich entstammen die jüdischen Ärzte, welche in Belgien zuerst im vierzehnten Jahrhunderte auftreten (Abraham le Mirre, Maistre Sause, Lyon, Elie u. a.), auch den französischen Schulen, weil der Ursprung der belgischen Juden überhaupt auf Frankreich zurückführt.

Auch im benachbarten Savoyen werden am Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts jüdische Ärzte erwähnt, obschon zu Beginn desselben die Herzöge dieses Landes die Juden vertrieben hatten. Zur Behandlung der Witwe des Herzogs Amadeus VI. wurden Isaak von Amessi und Jakob von Ciamberi berufen (1388).

15) S. Lilienthal, Die jüdischen Ärzte, pag. 19; J. D. München 1838.

16) Guy von Chauliac selbst wird auch als Leibarzt dieser in Avignon residierenden Päpste bezeichnet. Seine Werke dienten noch im siebzehnten Jahrhunderte als chirurgischer Leitfaden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte