Vorwort

Unter den Merkzeichen wohlwollender Teilnahme an meiner Geschichte deutscher Nationalität hat der in mehreren Anzeigen dieses Buches ausgedrückte Wunsch, dass ich dessen zweiten Teil möge bald folgen lassen, für mich eine sinnvolle Bedeutsamkeit. Ich gestehe offen, darin mit der ehrenwerten Anerkennung meiner Veteranenarbeit zugleich eine mit etwas Bedenken gemischte Erwartung, wie ich das mir vorliegende Thema in der Anwendung auf die Stämme, Äste und Zweige unserer Nation durchführen werde, zu erkennen. Jener Erwartung rechtzeitig zu begegnen, ist meine tägliche Mühe und Sorge gewesen. So unverwandt nun diese sich darauf gerichtet haben, den gesamten zweiten Teil vor Ende dieses Jahres fertig zu schaffen, haben doch Zeit und Kraft nicht auslangen wollen. Dies freilich wird wohl allen denen, welche die Gehaltigkeit und Umfänglichkeit des Stoffes und die Natur meiner darauf verwandten Studien richtig würdigen, nicht eben unerwartet kommen. Um nun aber noch vor Ablauf der beim Erscheinen des ersten Teils angekündigten Jahresfrist darzutun, in welcher Art ich meine schwierige Aufgabe zu lösen beschäftigt bin, und um mich als noch dienstfähig zu vergegenwärtigen, habe ich es für wohlgetan erachtet, den Freunden vaterländischer Nationalitätsstudien vorzulegen, was eben fertig geworden ist. Also erscheint statt des Ganzen, das in einem zweiten Teil zusammengefasst werden sollte, das aber, abgesehen von der Verzögerung seines Erscheinens bis ins nächste Jahr, auch nach seinem äußern Volumen im Verhältnis zum ersten Teil das schickliche Maß würde überschritten haben, als zweiter Teil nur die Hälfte desselben, die Geschichte der Stämme niederdeutscher Zunge und der Hessen. Die andere Hälfte, Nationalgeschichte der mittel- und süddeutschen Stämme, wird einen dritten Teil von ungefähr demselben Umfange wie der zweite ausmachen, und, so Gott will, im nächsten Jahre vollendet sein. Die Ökonomie, die ich nach dem Prinzip der Stammbürtigkeit bei Anordnung der Teile beobachtet habe, ergibt sich genugsam aus dem Buche, ja selbst aus der Inhaltsanzeige, und bedarf hier nicht der Bevorwortung; doch will ich hier einer etwanigen Verwunderung anderer Art begegnen. Es betrifft die siebenbürgischen Sachsen, die nach ihrer mutmaßlich niederdeutschen Abkunft streng genommen ihren Platz neben ihren Stammvettern hätten haben sollen, um so mehr, da ausnahmsweise die nur zu geringem Teil niederdeutschen Hessen hier aufgeführt worden sind; meine hochgeschätzten zahlreichen Freunde in Siebenbürgen werden mir es wohl zu gut halten, wenn ich ihres wackern Zweiges vom deutschen Stamme erst im folgenden Teil, zusammen mit den übrigen südöstlichen Deutschen gedenke. Mehr hätte ich zu sagen über die Maßnahme, welche mich bei der Durchführung des inhaltreichen, weit und vielfach verzweigten Begriffes „Nationalität“ durch die volksmäßigen Lebensgestaltungen bei den einzelnen Stämmen und ihren Ästen und Zweigen geleitet hat; doch beschränke ich mich auch hier auf den Ausdruck des Wunsches, dass meine in die Geschichte der Literatur und Kunst gemachten Streifzüge nur als Skizzen gelten mögen, mit denen ich Land- und Ortschaften und Persönlichkeiten aus dem Gesichtspunkte partieller Nationalität in Bezug auf Leistungen in jenen habe gerecht werden wollen. Wie ich mir die partiell-nationale Grundlage für eine Literatur- und Kunstgeschichte denke, behalte ich mir vor, bei nächster Gelegenheit auseinanderzusetzen. Dass nächst dem Geburtsort, der oft nur das Wochenbett abgibt, die Bildungs- und Leistungsstätten, zwei Größen von gewichtigster Bedeutung, meistens hoher in Anschlag kommen, als jene, und überdies elterliche, insbesondere mütterliche Einflüsse, Gunst oder Ungunst äußerer Lebensstellung in jugendlichem Alter, endlich individuelle Begabtheit die Bedeutung des Geburtsortes gar sehr abschwächen, ist allgemein bekannte Tatsache. Auf alle diese Punkte einzugehen, musste ich mir versagen; dazu bedarf es eines besondern Werks, wie unsere Literaturgeschichte noch keins hat. Dies also wird mir schwerlich als Unterlassungssünde angerechnet werden. Eher trifft dies die von mir gegebenen anspruchslosen Notizen über den Punkt, den ich allein berücksichtigt habe, das Maß der Produktivität einzelner Land- und Ortschaften und die Bedeutung daraus erwachsener Persönlichkeiten für Literatur und Kunst. Hier wird auf den ersten Blick Lückenhaftigkeit und auch wohl Ungleichartigkeit bei meinen Angaben ins Auge fallen. Doch wird es kaum eines Fingerzeiges bedürfen, dass eine Anführung von Beispielen nicht den Begriff einer vollständigen Sammlung (à chaque saint sa chandelle) in sich schließt. Werden nun aber Namen geachteter Persönlichkeiten, am häufigsten wohl bei dem Blicke auf die neueste Zeit, wo die Musterung der reichlichen, üppig aufgesprossten Fülle derartiger Notabilitäten ihre meisten Schwierigkeiten hat, betreffenden Orts vermisst, so erkläre ich, ohne einzelner Fälle zu gedenken, mit der herzlichsten Aufrichtigkeit, dass schwerlich Jemand geneigter ist als ich, jeglichem Verdienste die gebührende Ehre zu erweisen, und bitte, die von mir am gehörigen Orte nicht namhaft gemachten worthies, mich deshalb nicht mit einer auf bewusstes oder absichtliches Schweigen lautenden Schuldrechnung belasten zu wollen. Schließlich empfehle ich die hinten angefügten Berichtigungen und Zusätze geneigter Aufmerksamkeit.
Leipzig, im August 1860.
W. Wachsmuth.
Wachsmuth, Wilhelm Dr. (1784-1866) Prof. Historiker, Publizist und Rektor der Universität Leipzig

Wachsmuth, Wilhelm Dr. (1784-1866) Prof. Historiker, Publizist und Rektor der Universität Leipzig

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