Altertum und Zeit des Frankentums

Das an der Nordsee gelegene deutsche Küstenland ist, wenn irgend eine Naturgestaltung, geeignet, Zeugnis zu geben von dem Einfluss der Macht äußerer landschaftlicher Bedingungen auf menschliches Wohnen, Leben und Treiben, von der Beharrlichkeit und Widerstandskraft des Menschen im Kampfe gegen die Ungunst jener. Da sehen wir einen durchweg flachen und niedrigen Saum längs dem Meer, die Scheidung von Land und Wasser unvollständig, was hart am Meer liegt, der regelmäßigen Flut unterworfen (die Wat), in einiger Entfernung davon Hügel, die von der Flut nicht überschwemmt werden und notdürftige Bergestätten darbieten, binnenwärts Moorboden, mit Wasser getränkt und ohne Festigkeit und Fruchtbarkeit. So lernte Plinius diesen Teil Altgermaniens kennen. Seine Beschreibung ist naturgetreu, doch mangelte ihm, wie es scheint, die Kunde von den entsetzlichen Sturmfluten, welche die räuberische Nordsee im Verein mit den Wassermassen des Kanals einmal über das andere ausgesandt hat, große Stücke festgewordenen Landes mit ihren Bewohnern zu verschlingen. In solcher Natur Wohnsitze zu nehmen, konnte nur einem Menschengeschlecht zusagen, das, nach seinem physiologischen Grundwerk zu einer Art Amphibienleben bestimmt, mit solcher Naturbeschaffenheit von seiner Kindheit an sich vertraut gemacht hatte. Die Anfänge der Ansiedlung — an Autochthonen wird schwerlich Jemand denken — liegen jenseits historischer Überlieferung. Ist nun dabei weniger an Wahl und freien Entschluss als an instinktartigen Naturtrieb zu denken, so tritt doch in der Folge mehr und mehr die Macht freien Wollens hervor in der Beharrlichkeit, die ursprünglich unsicheren und kümmerlichen Niederlassungen gegen das Meer abzugrenzen und zu schützen, das Moorwasser abzudämmen, dem Boden Frucht abzugewinnen und andererseits auf dem Meer in kühner Fahrt sich zu Raub und Handelsverkehr zu versuchen. Die Willensstärke, welche in jener Trotzbietung gegen die Wassermächte liegt, in der mühsamen und langwierigen Arbeit, materielle Grundlage zur Existenz zu schaffen und zu wahren, ist nicht ohne den belebenden und kräftigenden Atem einer freiheitskühnen Brust zu denken. So wird denn auch der gegen die Naturstürme gerichteten Widerstandskraft eine mutvolle und trotzige Erhebung gegen ungebührliche Zumutungen menschlicher Gewalt schwesterlich zur Seite stehen.

Mit solchen Eigenschaften, in dem weitesten Abstand von einer Stumpfheit und Apathie der Pescheräs und ihnen ähnlicher Bastarde der Menschheit, traten die Friesen 1) ein in die Geschichte. Auf sie, die anfänglich wohl nur den Küstensaum von Nordholland bis zur Ems bewohnten, passt auch was Plinius von ihren östlichen Nachbarn und nächstverwandten Stammvettern, den Chauken, berichtet. Nach der Zeichnung der Armseligkeit des Lebens jener Küstenbewohner ruft er, bei noch frischem Andenken der Empörung der Friesen gegen Rom und Herstellung ihrer Freiheit, mit einer Art Verwunderung: „Und diese Völker, wenn heute vom römischen Volke besiegt, sagen, sie dienen.“ Plinius hatte aber nur die Unwirtlichkeit der deutschen Nordküste kennen gelernt, und wusste er auch mehr, so hat er doch nur von dem notdürftigen Anbau des Küstenvolkes auf den Hügeln (Worden, Würten, Wursten) 4) des Geestlands und von ihrer Benutzung des Torfs zum Brennmaterial berichtet. Ob damals Friesen und Chauken schon ihren Mehrkampf gegen das Meer durch Aufführung von Deichen begonnen, ist sehr zweifelhaft, wohl aber ist die erste Bildung der Marsch in das Uraltertum hinaufzurücken. Ihr Entstehungsprozess mag der ersten Gestaltung der Nordküste sich unmittelbar angeknüpft haben. Der Niederschlag aus der Zersetzung erdiger und vegetabilischer Stoffe, in der Mischung von salzigem und süßem Wasser, der Schlick, das daraus hervorgegangene üppig fruchtbare Klei 5) mochte in Plinius' Zeit schon weit vorgeschritten sein. Der sinnende Verstand gab die Fingerzeige, sich der Naturgaben zu bemächtigen und sie auszubeuten. Es war schon so weit gekommen, dass die Friesen in Augustus' Zeit Rindviehzucht hatten, wovon die Römer einen Tribut in Ochsenhäuten begehrten 6); dass sie aber Schafherden hatten, lässt sich aus dem hohen Altertum der Friesröcke schließen 7). Die Insel Burchana in der Emsmündung, das heutige Borkum, die Drusus nach einer Belagerung einnahm, hatte Bohnenpflanzungen, daher ihr römischer Beiname Fabaria. Das war auch dem Plinius bekannt. Wie dringend nun den Friesen als erste und nächste Lebensbedingung sich empfahl, landschaftlichen Boden zu gewinnen und gegen das Meer zu verbollwerken, so war das nur eine Hälfte ihres Dichtens und Trachtens; die andere erfüllte sich auf dem Meer selbst in Schifffahrt, Fischfang, auch wohl Seeraub, dem sich an der Küste Strandrecht zugesellte.


1) Alte Form des Namens ist Fresena, Fresa, Frisa. Dessen Bedeutung (kühn, frei) S. 6. Grimm, Gesch. d. d. Spr. 465.
4) Dasselbe Wort wie Wörth von den Donauinseln bei Regensburg und in Donauwörth. Davon der Name des Landes Wührden und der Wursaten.
5) v. Wersebe in Spangenbergs vaterl. Arch. 1830. Bd. 1. S. 14 f., 227 f., 478 f. v. Halem, Gesch. Oldenb. 1, 32 f. Arends, Ostfr. und Jever, 1, 22 f. Almers, Marschenbuch, 1 f.
6) Tac. Ann. 4, 72.
7) Von der Auffindung altfriesischer Bekleidung — Rock von gewalktem Tuch ohne Knöpfe und Naht, mit Arm- und Halslöchern, Beinkleider desselben Stoffes, Schuhe von haarichtem Leder — in der Tiefe eines Torfmoors, das die Verwesung abhielt, s. Arends a. a. O. 1, 15. Vgl, oben Th. 1, l4. N. 25.


Auf Wagemut der Friesen zu Seefahrten und auf Vertrautheit mit der See lässt sich von den sächsischen und normannischen Raubfahrten ein sicherer Rückschluss machen; darin war kein Unterschied zwischen den Anwohnern jener Küsten; von den Friesen mag selbst gemutmaßt werden, dass sie der Zeit nach in solcher Abschäumung des Meeres ihren östlichen Küstennachbarn voraus waren. Von Roms Herrschaft frei seit Kaiser Claudius wurden sie, so nahe ihnen auch die Römer blieben 10), von diesen nicht weiter angefochten. An der Umgestaltung, welche die Völkerwanderung über Nordgermanien brachte, hatten die Friesen insofern Anteil, als sie westwärts sich über die Küste bis zur Scheldemündung ausbreiteten, die Canninefaten, einst in Nordholland, in ihnen aufgingen, die Chauken aber, von jeher ihnen brüderlich verwandt 11), nun ganz und gar mit ihnen und den Sachsen verwuchsen, die Bataver, einst ihre südlichen Nachbarn, unter ihnen und den Franken verschwanden. Ob sie Fahrgenossen der Angeln und Sachsen nach Britannien gewesen sind, ist nicht sicher, doch zu mutmaßen 12). Binnenwärts wurden sie durch Franken und Sachsen, zum Teil auch Dänen begrenzt. Von den Sachsen waren sie nicht scharf geschieden. Auf manches diesen und jenen Gemeinsame führen die Ortsnamen mit der Endung um (aus ham, heim) 13), wik als Ortsbezeichnung für sich und in Zusammensetzungen 14), ebenso Büttel (friesisch bül, bul, bol) 15). Überhaupt waren sie den Sachsen in der Sprache nächstverwandt, das Altfriesische ist vom Angelsächsischen wenig verschieden 16). Bei Personennamen waren die Endungen auf a (na, ga) und o vorherrschend 16). Das altsächsische lange Messer, Sahs, findet sich mindestens dem Namen nach auch bei den Friesen 18).


10) Römisch war die Betuwe, selbst nordwärts davon Lugdunum, an der Rheinmündung bei Catwyk, der Ort forum Adriani, seit dem 4. Jahrh. Trajectum (Utrecht).
11) Dafür stimmt auch Grimm a. a. O. 471.
12) Eggerik Beninga, volledige chronyk etc. door Harkenrotht, Emd. 1723. N. 26 lässt die Friesen unter Engisto Britannien erobern. Das wohl nicht, aber dass Friesen mitzogen, ist mehr wahrscheinlich als nicht. Vgl. Mone, Gesch. der niederl. Lit. 372. Die Sage von Einwanderung von Friesen und Schweden in das Oberhaslital halten wir in mythischen Ehren, ohne ihr historisches Recht zuzugestehen.
13) Dokkum, Husum, Gorkum etc. Von sächsisch-hildesheimlschen Orten s. §.4. N. 9. In England ist das ham in seinem Recht geblieben — Durham, Nottingham, Evesham.
14) So vier Dörfer im Brocmerlande. v. Richthofen, altfries. Wörterb. wik. desgl. wik auf Föhr. Das altberühmte Wyk te Durstede. Noch jetzt Wyk in Nordholland statt Beverwyk. Sächsisch die Wil, ein Dorf bei Kiel. In Zusammensetzungen ist, Altsachsen und England zusammengenommen, das Sächsische in überwiegender Mehrzahl von Brunswik und Osterwik bis Schleswig Woolwich, Greenwich, Norwich etc. Beverwyk, Harderwyk, Ryswyk etc. in Holland möchten wir aber wohl den Friesen zueignen.
15) Büttel heißt ein Ort an der Ostgrenze des Landes Wursten. Gegen Wolfenbüttel, Ritzebüttel u. m. hat das friesische Festland in Schleswig allein eine Menge von bul und bol: Everbol, Gormesbol, Moesbull, Odenbull etc. S. Heimreich, nordfries, Chron. herausgeg, von Falk, 1, 128 f.
16) Es sei erlaubt, aus Klopp, Gesch. Ostfriesl. 430 eine Sprachprobe zu entlehnen. ...
17) Namen friesischer Häuptlinge: Addinga, Aggenga, Aldersna, Beninga, Ebbena, Edzardsna, Einrelsa, Hinkena, Idzinga, Kenesna, Mogeno, Omenga, Papinga, Reinetsna, Ubbenga, Udinga, Ulbinga, Unninga etc. Endung o in Asdo, Bolko, Eddo, Focko, Ubbo etc. Vgl. Almers a. a. O. 139.
18) v. Richthofen a. a. O. 8ax. Bei den Saterländern noch jetzt gangbar. Klopp a. a. O. 3.
[Auszug, gekürzt]