Einleitung. Geschichte der deutschen Einwanderung

Die bedeutendsten europäischen Völker sind bei der Entdeckung und Ansiedlung Nord-Amerikas beteiligt, indessen haben höchstens Spanier und Franzosen, Engländer und Deutsche mehr oder minder bleibende Spuren ihrer Kolonisationsversuche zurückgelassen und auf die Entwicklung des amerikanischen Volkscharakters einen heute noch fortwirkenden Einfluss ausgeübt.

In den für die Eroberung des neuen Weltteils geführten Kämpfen stellen die Romanen die Offiziere ohne Heer, von den Germanen dagegen die Engländer ein Heer mit Offizieren, die Deutschen endlich ein Heer ohne Offiziere.


Spanier und Franzosen unternahmen kühne Eroberungszüge, wie die fahrenden Ritter, suchten in den Sümpfen Floridas den Quell der ewigen Jugend, durchstreiften den halben Kontinent nach Gold, bekehrten die Indianer mit dem Feuereifer der ersten Apostel und zwängten den Geist ihrer Begleiter und Nachfolger in die engen Stiefel ihrer religiösen und politischen Vorurteile. Nachzügler des spanischen Konquistadorentums und Plänkler der französischen Weltmacht, wetteiferten sie in der amerikanischen Wildnis mit einander in ihrer Hingabe an die Interessen der Kirche und der Krone. Mit kühnem politischem Blick gründeten sie ein großes Reich, welches, den Lorenzstrom mit den Seen und dem Mississippi verbindend und diesen entlang bis zum mexikanischen Golfe fortlaufend, die englischen Niederlassungen auf den schmalen atlantischen Küstensaum beschränken sollte. Für die Spitzen dieses neuen Reichs war wohl gesorgt, aber es fehlte an der gesunden Grundlage, an der notwendigen Voraussetzung eines Staates, am Volke; die Ziele waren zu weit gegriffen, die Pläne zu maßlos, die ganze Schöpfung schwebte in der Luft. Diese tapferen Eroberer wähnten in ihrer Verblendung, dass sie die in der Heimat bewährten Netze weltlicher und geistlicher Polizei mit demselben Erfolge über die neue Welt spannen könnten, um auch in Amerika die Triumphe des damals in Europa aufblühenden Absolutismus zu feiern; sie hatten keine Ahnung davon, dass zur Gründung eines mächtigen Kolonialstaates vor Allem ein selbst tätiges, selbst denkendes und sich selbst bestimmendes Volk gehört. So mussten ihre Schöpfungen zerfallen, und auch der Ruhm ihrer glänzenden Taten, die äußeren Spuren ihres Daseins sind vom Boden Amerikas so gut wie verwischt. Der kastilische Löwe und die weißen Lilien sanken mit den Bäumen, in welche sie zum Zeichen der erfolgten Besitznahme eingehauen waren, und nur ausnahmsweise erinnert uns ein glücklich angelegtes Fort, der verständig gewählte Platz einer Niederlassung oder der Name eines Flusses an den politischen und soldatischen Scharfblick ihrer ersten Gründer und Erforscher.

Hinter Champlain, Marquette und Lasalle, den Entdeckern, und hinter Frontenac, Galisonnière und Montcalm, den Soldaten, rückte eine unscheinbare, aber mächtige Armee her. Es waren die untersten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft, kleine und arme Leute, die sich keiner stolzen Führer rühmen konnten, aber jeder für sich dachten und handelten und bewusst oder unbewusst die Träger der großen Ideen waren, welche auf politischem Gebiete die Reformation vollendeten und in der Heimat das Königtum durch das „Gemeinwohl“ verdrängten. Nüchtern und fleißig, richten diese englischen Ansiedler ihren Blick auf das nächste Ziel und unterwerfen zuerst den Boden ihrer Herrschaft. Jeder Artschlag, den sie führen, jeder Wald, den sie ausroden, jede Furche, die sie ziehen, befestigt ihren Besitz. Nicht im Sturmschritt fliegen sie durch das Land, wie die Franzosen, sondern langsam und sicher kriechen ihre Niederlassungen gleichsam vor. Keinen Fußbreit gewonnenen Bodens geben sie wieder auf, und stets rückt in die Stelle des Vordringenden ein Hintermann ein. Der Farmer, welcher nur mühsam sein Leben fristet, vertritt, wenn der Ruf an ihn ergeht, seine Mitbürger eben so gut im Kirchen- oder Gemeinde-Rate oder als Gesetzgeber. Er liebt den Krieg nicht, denn er hat Besseres zu tun; allein wenn's sein muss, kämpft er tapfer und zähe für Haus und Hof. Der Geist dieser Männer ist durch Denken und Selbstzucht gereift, und wenn die Schranken, innerhalb deren sie sich bewegen, auch eng sind, so gewinnt ihr Tun gerade durch diese Beschränktheit desto mehr an Kraft und Sicherheit.

Während Neu-Frankreich von der Gewalt großgezogen und mit künstlichen Reizmitteln gehoben wird, legen die ausgestoßenen und vernachlässigten Söhne Englands unter Schwierigkeiten aller Art, unscheinbar und bescheiden, aber in selbstvertrauendem Mute den Grund zu Neu-England. Hier die Demokratie, der Protestantismus und die Pflugschaar, dort der Feudalismus, das Papsttum und das Schwert. Der Puritaner liebt die Freiheit, nennt Niemanden seinen Herrn, aber er beugt sich gehorsam dem Gesetze, das er selbst gemacht hat, und vermehrt durch energischen Fleiß seinen Wohlstand; der Neu-Franzose kennt nur blinden Gehorsam gegen die Gebote des Mutterlandes und der Kirche, ja ist stolz in seiner Abhängigkeit von ihnen. Priester und Soldat denken und handeln für ihn, sie bewachen und beschützen ihn von der Wiege bis zum Grabe. Neu-England ist das Kind der Reformation und Revolution, eine durchaus moderne Kolonie, in welcher Alle mit ameisenartiger Geschäftigkeit Hand mit anlegen und sich durch möglichst ausgedehnte Verwertung ihrer geistigen Fähigkeiten ein menschenwürdiges Dasein erkämpfen. Neu-Frankreich gleicht einem mittelalterlichen Lager, in dessen ausgedehnten Zelten eine stets schlachtbereite Armee ausruht, um auf den ersten Ruf des Führers zu neuem Krieg und neuen Abenteuern auszuziehen.*)

*) France and England in North America by Francis Parmann, Vol. I. Boston 1861, pp. VII-IX.

Ähnlich ist es in Pennsylvanien, wo sich die Quäker eine Freistätte gründeten, ähnlich im Süden, wo zum Teil die vertriebenen englischen Aristokraten die neuen Kolonien ins Leben riefen. Auch diese Männer waren, trotzdem dass sie mit den ihr Vaterland revolutionierenden Ideen einen unglücklichen Kampf geführt hatten, doch so gut Engländer wie die Übrigen; sie trugen ihre Gemeindeeinrichtungen und nationalen Anschauungen, die alle in der Selbstregierung wurzeln, übers Meer und prägten, oft ohne es selbst zu wissen, den sittlichen und politischen Geist der Heimat in ihren Schöpfungen aus. So drangen die englischen Ansiedler in etwas mehr als einem Jahrhundert allmählich von der Küste aus bis an die Alleghanies vor und stießen im Ohio-Tal zu derselben Zeit mit den Franzosen zusammen, als mit dem Fall von Quebeck deren Herrschaft auf amerikanischem Boden für immer gebrochen wurde. Neu-Frankreich sank dahin, aber Neu-England blühte mit jedem Tage mächtiger und stärker empor. Wie es heute noch der Kopf und das Gewissen Amerikas ist, so war es auch damals schon der Ausdruck des Geistes, der die englische Einwanderung über diejenige aller übrigen Völker stellt.

Der Zeit und Bedeutung nach folgen hinter Spaniern, Franzosen und Engländern die Deutschen. Der Charakter dieser Einwanderung ist Demut, Verzagtheit und duldende Ergebung. Sie rettet kaum das nackte Leben über den Ozean und ist sogar dafür dem Himmel noch dankbar. Psalmen und geistliche Lieder singend ziehen sie aus der Heimat, wie die evangelischen Salzburger, die Herrnhuter oder die verfolgten Lutheraner. Zum Abschied zünden ihnen die Franzosen die Felder und Dörfer an, wie den armen Pfälzern und Schwaben; aber sie haben kaum mehr die Kraft zu einem Fluche gegen ihre Dränger, zum Hasse gegen ihre einheimischen Peiniger. Vertrieben aus ihrer Heimat, schutzlos den Misshandlungen des Auslandes preisgegeben, eine Beute der Seelenverkäufer in Holland und England, eilen diese Unglücklichen von dannen, um nur den rohesten Bedrückungen daheim zu entgehen. In Amerika angekommen treten sie meistens in eine neue Knechtschaft, die sogar nahe an Sklaverei grenzt. Sie wollen nur nicht bis aufs Blut ausgesogen sein; ein paar Hufen Landes sind das höchste Ziel ihres Ehrgeizes. Dem entsprechend kann sich die deutsche Einwanderung auch nur in die bereits bestehenden Verhältnisse einschieben und keine selbstständige Stellung einnehmen. Im Gefolge der Engländer oder als deren Vorposten ausgesandt füllt sie die täglich weiter vordringenden Reihen der Ansiedler aus und bildet durch ihre Ausdauer sowohl als ihre Unverwüstlichkeit, ihre Zahl und ihre Arbeitskraft ein unentbehrliches, äußerst schätzenswertes Element der neuen Bevölkerung; allein sie bezeichnet keinen qualitativen Fortschritt in der kolonialen Entwicklung des Kontinents. Deutschland — so hart es heut zu Tage dem nationalen Stolze klingen mag — nimmt im vorigen Jahrhundert Amerika gegenüber die Stellung ein, in welcher China gegenwärtig zu Kuba steht; es liefert den englischen Kolonien bloß Hände zur Arbeit. Die deutschen Auswanderer sind die Kulis des achtzehnten Jahrhunderts, sie spiegeln das Elend, den Jammer und Verfall der einst so mächtigen Heimat wieder.

Nicht dass es ihnen ganz an hervorragenden Männern gefehlt hätte, die, wenn auch geringer an Zahl, doch an Geist den Engländern ebenbürtig waren; allein die Leistungen der bedeutenderen Deutschen kamen selten ihren eingewanderten Landsleuten und noch weniger dem alten Vaterlande zu Gute. Sie waren im Dienste und Interesse der fremden Nation verrichtet und standen weder in räumlichem noch geistigem Zusammenhange mit der Heimat. Diese kannte überhaupt anderthalb Jahrhunderte nach dem westfälischen Frieden keine politischen Ziele und Interessen, geschweige denn jene kraftbewusste, rücksichtslose Selbstsucht, welche den Kern jeder nationalen Politik bildet, und stieg mit jedem Jahre mehr von ihrer früheren Höhe und Machtstellung herab. In England dagegen traf der Schwung und die Blüte des bürgerlichen Lebens mit der Ausströmung der Massen zusammen, welche als die treuen Kinder eines mächtigen Gemeinwesens den Ruhm und die Ehre des Mutterlandes in der Fremde noch erhöhten. England schwang sich in Folge seiner geglückten Revolutionen täglich mehr zur Weltmacht empor und verpflanzte auf amerikanischen Boden den reichen Segen germanischer Tatkraft und germanischen Geistes, als deren Bannerträger sich Deutschland während des Mittelalters im Osten und Norden Europas so glänzend betätigt hatte.

Es ist unerlässlich und zugleich erhebend, einen flüchtigen Rückblick auf diese große Epoche im Leben unseres Volkes zu werfen, welche kaum mehr als Geschichte in der Seele der Gegenwart lebt; denn sie lehrt uns, dass Deutschland während seiner bürgerlichen Blüte die größte kolonisierende Nation war, und gestattet den Schluss, dass zur Zeit seines Verfalls nur die Verkümmerung seines staatlichen Lebens, nicht aber etwa die geringere persönliche Tüchtigkeit des Einzelnen unser Vaterland von der großen Kolonialpolitik ausschloss.

Vom elften Jahrhundert an drangen seine Söhne als Bezwinger, Lehrer und Zuchtmeister der Nachbarn in die Fremde, und schufen deutschem Handel und Gewerbefleiß, deutscher Sitte und deutschem Recht in den Gebieten jenseits der Elbe, Oder und Weichsel, ja über das deutsche und baltische Meer hinaus eine heimische Stätte. Alle nordischen Meere, Buchten und Eilande wurden von ihnen durchspäht, bei den Wenden und Preußen, Finnen und Russen, in Schweden und Norwegen, in Dänemark und England waren diese tapferen Ritter und mutigen Bürger zu Hause. Nicht als dienstbare Knechte, kummervoll und duldend wie die Auswanderer des achtzehnten Jahrhunderts, sondern als stolze und gebietende Herren zogen sie aus und wussten überall verlassene Landstriche zu kolonisieren oder unterlegene Volksstämme der eigenen Bildung zu gewinnen. Das waren keine bloßen Abenteurerfahrten, gleich den Kreuzzügen, in welchen Kraft, Leben und Vermögen des Einzelnen ziemlich nutzlos vergeudet wurden, sondern Unternehmungen voll idealen Schwunges und doch mit einem nüchternen politischen Ziele, welches — ein in der Geschichte des Mittelalters einzig dastehendes Beispiel! — durch die vereinigten Anstrengungen, durch die gemeinschaftliche Arbeit des Adels — Deutsche Ritter — und des Bürgertums — Hansa [Hanse] — erkämpft wurde. Noch heute sind die deutsche Provinz Preußen, die Städte an der Weichsel und Ostsee, die deutschen Kolonien in Kurland und Liefland beredte Zeugen dafür, mit welchem staatsmännischen Scharfblick deutsche Männer volle drei Jahrhunderte hindurch mit dem Schwert, dem Pflug und der Handelsfaktorei gleichzeitig vorrückend eroberten und kolonisierten; wie sie, lediglich auf ihre eigene Kraft angewiesen, oft selbst gegen das Gebot des Reichs, als tonangebende Land- und Seemacht im Norden Europas herrschten. Und als sie endlich im 15. und 16. Jahrhundert dahinsanken, der Orden zum starren Junkertum verknöchert, die Hansa [Hanse] durch die Neugestaltung des Welthandels, sowie die zur staatlichen Einheit sich zusammenraffenden Völker ihrer alten Oberherrschaft zur See beraubt, da offenbarte sich selbst in ihrem Untergang noch der Glanz ihrer reichen Geschichte, die Größe ihrer stolzen Vergangenheit.**) Der Orden erholte sich nicht mehr von seiner ersten großen Niederlage bei Tannenberg, wo sein Heer von 26.000 Reitern und 53.000 Mann Fußvolk nach erbittertem Widerstand von 163.000 Slawen geschlagen wurde. Die Hansa [Hanse] aber erlag fünf Vierteljahrhunderte später als Großmacht in dem Verzweiflungskampfe, den Jürgen Wullenweber im Bunde mit dem König von England gegen die Königin von Schweden und Dänemark führte. Der große Lübecker Bürger und Bürgermeister der ersten Hansestadt, der demokratische Führer, der noch einmal in gewaltigem Anlauf die alte hansische Politik in ihrem ganzen großartigen Umfange wieder aufnahm, aber an der Wucht der veränderten Welt- und Handelsverhältnisse scheiterte, der republikanische Staatsmann fällt durch Verrat in die Hände eines winzigen Fürstleins, desselben Heinrichs von Braunschweig, welcher von Luther der Hanswurst genannt wurde, und welcher jetzt seinen gefürchteten Feind unter grausamen Martern hinrichten ließ. Es ist, als ob das tragische Geschick Wullenwebers seine Schatten auf das nunmehr hereinbrechende Unglück des deutschen Volkes würfe: sein Bürgertum wird von dem an der Reformation sich erhebenden und stärkenden Territorialfürstentum allmählich unterworfen und geknechtet.

**) Das deutsche Ordensland preußen in "Historische und politische Aufsätze" von Heinrich v. Treitschke, Leipzig 1865. S. 1-69.

Fortan ist der Deutsche von der Herrschaft des Meeres ausgeschlossen, sein Handel wird bloßer Binnenverkehr, und mit dem Handel sinkt das Handwerk. Während die Nachbarvölker sich konsolidieren und aus dem zerfahrenen und zerfallenden Feudalismus zur modernen Absolutie emporstreben, verblutet Deutschland fast an der Reformation; es ist nicht mehr stark genug, die Befreiung des Geistes von der Autorität auch zugleich zum Prinzip seines staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu machen. Der letzte Rest seiner früheren Weltstellung wird durch den dreißigjährigen Krieg vernichtet, welcher den deutschen Mittelstand und mit ihm die Kraft und Energie der Nation zerstört.

Aus dem allgemeinen Zusammenbruch der bisherigen Ordnungen, Stände und Zünfte geht ein untertäniges und duldendes, weil verarmtes, lediglich auf die Befriedigung des nackten Bedürfnisses angewiesenes Geschlecht hervor. Unter den Kriegen und Verheerungen der auf den dreißigjährigen Krieg folgenden Zeit und bei dem mit jedem Jahre zunehmenden Verlust an Kapital und Intelligenz bricht die Kraft und Leistungsfähigkeit des Volkes immer mehr zusammen. Der Mangel an jeder Art Erziehung und Bildung hat notwendiger Weise eine ebenso große Unwissenheit, Rohheit und Verwilderung im Gefolge. Ursache und Wirkung arbeiten einander in die Hände, um die wirtschaftlichen Zustände mit jedem Tage mehr zu zerrütten. Die härteste Not lässt sich ertragen, wenn sie nicht zu lange dauert; sobald sie aber stabil wird, lähmt sie den Geist, stumpft ihn ab und drückt den Menschen auf den Standpunkt des Tieres herab. Das materielle Elend ist nur der Vorläufer des sittlichen, welches ihm auf dem Fuße folgt, der Hunger demoralisiert, und wem er in den Eingeweiden wühlt, der kriecht elend an der Scholle hin und ist selbst froh, sein reiz- und inhaltloses Leben zu fristen, der vergisst um des Lebens willen die Aufgaben des Lebens.

Die öffentlichen Lasten und Steuern fielen fortan fast ausschließlich auf Bürger und Bauern, ja für die letzteren traten zum allgemeinen Drucke noch ungemessene Fronen und der Jagdunfug hinzu. Mit der Vernichtung des äußern Wohlstandes, der methodischen Untergrabung der nationalen Arbeit, den zahlreichen Verkehrshemmungen und Plackereien jeder Art erschlaffte und verdarb der früher unternehmende und kräftige deutsche Mittelstand immer mehr, und aus dem freien Manne ward ein ängstlicher, in sein Schicksal ergebener Spießbürger.***) Der blinde Gehorsam gegen „die von Gott eingesetzte Obrigkeit“ wurde fortan von den aufstrebenden Territorialherren zum religiösen und politischen Dogma ausgebildet. Der Staat war das persönliche Eigentum des Fürsten von Gottesgnaden. Die zahme Bevölkerung, welche sich schüchtern und verkrüppelt aus dem Schutt und den Ruinen ehemaligen Wohlstandes erhob, fühlte kaum das Entwürdigende dieses Untertanenverhältnisses, dieser niederträchtigen Knechtung; die vereinzelt vorkommenden besseren Naturen aber waren zu schwach, dagegen anzukämpfen.

***) Bilder aus der deutschen Vergangenheit von Gustav Freytag, Leipzig 1859- Zweiter Teil; und die Hansa als deutsche See- und Handelsmacht von Johannes Falke. Berlin. B. Brigl.

Es gab nur einen Weg, sich diesem Zustande zu entziehen, und dieser Weg war die Auswanderung. Bis dahin hatten der gedrückte Bauer und Bürger sich kaum notdürftig von den härtesten Schlägen erholt; erst gegen Ende des Jahrhunderts fingen sie an, sich aus der sittlichen und physischen Herabstimmung scheuen Blicks zu allgemeineren Gedanken zu erheben. Nicht dass sie gewagt hätten, gegen ihre heimischen Dränger aufzustehen und mit einem kräftigen Faustschlag der geistlosen Komödie ein blutiges Ende zu machen. Dazu waren sie zu schwach und abgemattet, andererseits aber fühlte sich der freche, von Frankreich genährte Despotismus des Landesfürstentums desto stärker.

Nein, der gedrückte Untertan entging dem heimischen Elende nur durch die Flucht. Verzagt, der eigenen Kraft nicht trauend, fremder Anregung folgend und alles Fremde als etwas Höheres unbedingt bewundernd, gab er, wo er nur konnte, das Vaterland ohne Bedauern, ohne Schmerz auf. So nahm allmählich die Auswanderung immer größere Verhältnisse an, wandte sich nach Norden und Süden, vor allem aber nach Amerika und wuchs im Laufe der Zeit derartig, dass selbst die strengsten Regierungsverbote wenig gegen das täglich zunehmende Übel halfen. Das ohnehin schwer verarmte Deutschland gab fortan einen guten Teil seiner besten Produktivkraft, seines Kapitals an Menschen und Geld an das Ausland ab, und empfing dagegen französische Sitte und Unsitte, fremde Luxuswaren und Abenteurer. Überall in Deutschland fanden diese Schmarotzer eine willkommene Stätte; seine arbeitenden, schaffenden Kräfte aber mussten in der Fremde ein Feld der Betätigung suchen; ein schlechter Tausch, bei welchem wir doppelt verloren und allmählich zu verbluten drohten. Es kann eben nicht genug betont werden, dass gegen Ende des siebzehnten und zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, wo die Entfremdung der Nation von ihrem eigenen Wesen den höchsten Gipfel erreichte, dass mit dieser traurigen Zeit die Flucht aus dem Vaterlande, die Auswanderung beginnt und täglich weiter um sich greift.