Kapitel

1. Kapitel


Von Athen, einem Gemeinwesen freier Bürger, klein an territorialem Umfange und gering an staatlicher Macht, sind unermeßliche Wirkungen in das Weltleben ausgegangen. Sie haben sich nicht in der Form großer geschichtlicher Handlungen und Völkerbeziehungen und jener kaum unterbrochenen Reihe von politischen und sozialen Schöpfungen dargestellt, wie sie Rom hervorgebracht hat. Die an der Menschheit bildenden Kräfte der Stadt Athen gehören dem Reich der zeitlosen Ideen an. Denkgesetze, allseitige Welterkenntnis, Wissenschaften, Sprache, Literatur und Kunst, Gesittung, veredelte Humanität: das sind die unsterblichen Taten Athens gewesen.
Das Verhältnis der Menschheit zur Stadt der Pallas – und nur als solche, als die Metropole des hellenischen Heidentums war sie die Quelle alles Schönen und die Mutter der Weisheit, wie man sie selbst noch in den dunklen Jahrhunderten des Mittelalters mit traditioneller Ehrfurcht genannt hat –, dies Verhältnis der Pietät wurde zu einem einzigartigen Kultus von idealer Natur. Er setzte immer das Bewußtsein des unvergänglichen Wertes der attischen Bildung voraus. Man darf sagen: Nur wer die Weihen des Geistes genommen hatte, konnte den Genius Athens verstehen; nur die Aristokratie der Geister hat Athen verehrt. Auch Barbaren konnten die weltbeherrschende Größe und Majestät Roms bewundern, aber was hätte einem Alarich oder Attila die Stadt des Plato und Phidias zu sein vermocht?
Zur Zeit, als sie den Gipfel ihres bürgerlichen Lebens erstiegen hatte, nannte sie Perikles die Schule des ganzen Griechenlands. Isokrates bezeichnete ihre Bedeutung mit diesen Worten: Daß sie durch ihre Weisheit und Beredsamkeit alle anderen Völker übertroffen habe, daß ihre Schüler die Lehrer anderer geworden seien, daß es der Geist sei, der die Griechen kennzeichnet, und daß diese weniger die gemeinsame Abstammung als die athenische Bildung zu Hellenen mache.
Die wahrhaft schöpferische Epoche Athens umfaßte nur einen kleinen Zeitraum, und doch genügte derselbe zur Hervorbringung einer kaum zu übersehenden Fülle von ewig gültigen Meisterwerken der Kultur, die in mancher Richtung kein folgendes Zeitalter mehr zu erreichen vermocht hat.
Nach den großen Befreiungstaten von Marathon und Salamis war die Blüte von Hellas in Athen zur prachtvollen Entfaltung gekommen. Die attische Literatur und Kunst drückte die Summe der intellektuellen Kräfte Griechenlands aus. Die Denker, die Dichter, die Künstler dieses Freistaats erfaßten die höchsten Probleme des Geistes im Reich der Einbildungs- und Erkenntniskraft; sie lösten dieselben durch das vollendete Kunstwerk oder überlieferten sie der Menschheit als ihre ewigen Aufgaben.
Die vollkommne Schönheit, die reine Idealität und allgemeine Menschlichkeit der Schöpfungen des athenischen Genies war es auch, was dieser Stadt schon im Altertum die enge Nationalschranke nahm und sie zum Mittelpunkt des geistigen Kosmos und zur Bildungsstätte für fremde Völker machte, die sich alle dort heimisch fühlten.
Es ist wahr, was Wilhelm von Humboldt bemerkt hat, daß wir die Griechen in dem wundervollen Licht einer idealistischen Verklärung zu sehen gewohnt sind; aber diese schreibt sich nicht erst von den Zeiten Winckelmanns, Wolfs, des Korais, Canova und Schiller her. In solcher Verklärung erschien die Stadt Athen schon den Menschen selbst des mittleren Altertums. Die Liebe zu dem "glanzvollen, vom Lied besungenen Athen, der Säule Griechenlands"


erfaßte seit Alexander dem Großen die ganze hellenisch gebildete Welt.
Nachdem die erlauchte Stadt ihre politische Kraft für immer verloren hatte, wurde sie als das Kleinod des Altertums in den Schutz der edelsten Empfindungen und Bedürfnisse der Menschen gestellt. Als ihr reiches Bürgertum verfallen war, trachteten ausländische Fürsten nach dem Ruhm, Freunde und Wohltäter dieser Republik zu sein, und sie rechneten es sich zur Ehre an, zu ihren Magistraten erwählt zu werden.
Die schönen Bauwerke Athens wehrten fremde Könige schon seit Antigonus und Demetrius. Ptolemaios Philadelphos errichtete ein prachtvolles Gymnasium unweit des Theseustempels. Der Pergamener Attalos I. schmückte die Akropolis mit berühmten Weihgeschenken; Eumenes baute eine bewunderte Stoa, und Antiochos Epiphanes unternahm 360 Jahre nach dem Tyrannen Peisistratos den Fortbau des Tempels des olympischen Zeus. Die große Reihe der enthusiastischen Verehrer Athens setzte sich auch unter den Machthabern Roms fort, sobald, im Zeitalter der Scipionen, die literarische und künstlerische Bildung Griechenlands in die Tiberstadt eingedrungen war.
Nach langer Belagerung und harter Bedrängnis wurde Athen, die Bundesgenossin Mithridats, am 1. März 86 von Sulla erobert. Dies ist der schwarze Tag in der Geschichte der Stadt, mit welchem ihre Leidenszeit begann. Der furchtbare Sieger wollte sie in der ersten Aufwallung seines Zorns zerstören, dann aber ließ er, der Überredung edler Männer nachgebend, den Ruhm Athens als ein Recht auf die Ehrfurcht der Menschen gelten. Plutarch hat den großen Römer wie einen Hellenen denken lassen, als er sich entschloß, "den vielen um der wenigen, den Lebenden um der Toten willen" zu verzeihen.
Und noch später hat Sulla unter die größten Titel seines Glückes dies gezählt: Athen verschont zu haben.
Er hatte freilich die attische Landschaft zur Wüste gemacht, die langen Mauern niederreißen lassen, die Dämme und Festungen, die Schiffswerften und das großartige Arsenal des Piräus geschleift, so daß der berühmte Hafen Athens seither zu einem kleinen Flecken herabsank. Die teilweise Zerstörung des themistokleischen Mauerringes und sicherlich auch der Befestigungen der Akropolis machte fortan die Stadt zu einem widerstandslosen, offenen Platz. Sie entvölkerte sich und verarmte; ihre Seemacht, ihr politisches Leben erlosch, gleich dem des ganzen Hellas. Nur der Glanz jener Ideale, die aus ihr helle Lichtstrahlen über Länder dreier Weltteile verbreitet hatten, blieb auf ihr noch lange ruhen. Sie bezauberte die Römer selbst, die ihr das Verderben gebracht hatten.
Noch zur Zeit Sullas lebte dort, und fast zwanzig Jahre lang, der reiche Pomponius Atticus als gefeierter Wohltäter des athenischen Volks. Schon im Jahre 51 begann Appius Claudius Pulcher mit seinen in Kilikien erbeuteten Reichtümern den Prachtbau der Propyläen des Demetertempels in Eleusis, und Cicero sehnte sich danach, dies glänzende Beispiel des Edelsinns in Athen nachahmen zu können.
Aus den Stürmen der römischen Bürgerkriege um die entstehende Monarchie kam die Stadt der Pallas Athene unversehrt hervor, obwohl ihre Bürger so wenig politischen Scharfblick besaßen, daß sie sich stets für die nachher unterliegende Partei erklärten. So hingen sie nicht Cäsar, sondern dem Pompeius an, welcher in Athen mit den Philosophen verkehrt und der Gemeinde 50 Talente zu Bauten geschenkt hatte. Der Sieger von Pharsalus verzieh den Athenern; er ehrte ihr Land als das Grab der großen Toten, aber er fragte ihre Abgesandten, wie oft sie, die ihren Untergang selbst verschuldeten, noch der Ruhm ihrer Vorfahren retten solle.
Er gab der Stadt reiche Mittel, das Propylaion der Athena Archegetis zu erbauen, und schon zehn Jahre früher hatte ein fremder Philhellene, der König Ariobartzanes II. Philopator von Kappadokien, das im sullanischen Kriege verbrannte Odeon des Perikles wiederhergestellt.
Nicht lange nachher errichtete ein reicher Syrier, Andronikos von Kyrrhos, auf einem Platz unweit der Agora den schönen Marmorbau der Sonnenuhr, welcher noch heute als "Turm der Winde" aufrecht steht.
Nachdem Cäsar gefallen war, nahmen die freiheitstrunkenen Athener Brutus jubelnd in ihrer Stadt auf, und sie errichteten ihm und dem Cassius eherne Bildsäulen neben jenen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton. Als sodann Brutus und Cassius bei Philippi ihr Ende gefunden hatten, war Athen aufs neue der Rache der Sieger preisgegeben. Allein Antonius, der nach jener Schlacht mit seinem Heer nach Griechenland kam, verschonte die Stadt. Sie ertränkte seinen Zorn in einer Flut von Schmeicheleien; ihre Schönheit, ihr Geist, ihre Huldigungen berauschten ihn. Hier wurde er zum Griechen. Noch zweimal kam er dorthin, erst mit Octavia, dann mit Kleopatra; den Athenern schenkte er Ägina und andere Inseln. Das knechtische Volk vermählte diesen Vorgänger des Nero als neuen Dionysos mit der Burggöttin Athena Polias; auf der Akropolis stellte es seine und der Kleopatra Götterbildnisse auf. Kein Wunder, daß Antonius von dieser Stadt wie von einer Sirene bezaubert war. Als er von Actium nach Ägypten floh, schickte er Boten an Octavian und erbat sich vom Sieger die Erlaubnis, wenn er nicht mehr am Nil leben dürfe, seine Tage als Privatmann in Athen zu beschließen.
Auch Octavian schonte die Stadt, welche doch die Mörder Cäsars so hoch geehrt hatte. Nur verhielt er sich anfangs kühl zu ihr, entzog ihr Eretria und Ägina und untersagte den mißbräuchlichen Verkauf des Bürgerrechts, welchen einst schon Demosthenes getadelt hatte. Doch ließ er sich in die eleusinischen Mysterien einweihen, und er setzte den Bau der neuen Agora fort. Sein Freund Agrippa errichtete ein Theater im Kerameikos und verschönerte wohl auch mit anderen Werken Athen. Die Athener stellten an der linken Seite des Aufganges zu den Propyläen sein Reiterstandbild auf, dessen kolossales, unförmiges Postament mit der Weihinschrift noch heute fortdauert. Dem Augustus und der Roma aber weihten sie einen Rundtempel östlich vom Parthenon in der Nähe des großen Altars der Athena Polias. Noch sind davon Reste des Architravs erhalten.

Dem Kultus Athens huldigte in dieser Zeit sogar der schreckliche Judenkönig Herodes, welcher die Stadt als Philhellene oder Philoromäer mit Geschenken und wahrscheinlich auch mit einigen Werken geehrt hat.
Unter der neuen Verwaltung, die Augustus Griechenland gab, blieb Athen immer eine freie, Rom verbundene Stadt mit selbständiger Gemeindeverfassung. Allein sie sank von Stufe zu Stufe, gleich allen andern hellenischen Städten, während neue römische Schöpfungen emporblühten, wie die Handelsstadt Korinth, die Kolonie Cäsars, welche der Sitz des römischen Prokonsuls von Hellas oder der Provinz Achaia wurde, und wie Paträ und Nikopolis, die Kolonien des Augustus. Ganz Griechenland war im Verfalle schon zur Zeit des Strabo. Obwohl Athen noch immer als das herrlichste Museum des Altertums und die Schule der hellenischen Wissenschaft berühmt war, nannten es doch schon Ovid und Horaz eine leere Stadt, von der nur der Name übriggeblieben sei. Diese Aussprüche bezeichnen, selbst wenn sie übertrieben waren, die geschichtslose Stille, in welche Athen zu versinken begann.
Da der Handel der Stadt verfallen, ihre militärische Bedeutung dahingeschwunden und sie selbst auf ein kleines Gebiet beschränkt war, so gaben ihr fortan nur ihr Ruhm und ihre Schulen so viel Wert, daß sie, wie ehemals zur Zeit des Cicero und Mark Anton, des Brutus, Horaz und Virgil, noch immer das Pilgerziel der gebildeten Welt blieb. Wenn auch die Monarchie der fiskalischen Ausbeutung Griechenlands nicht durchaus Einhalt tun konnte, so hörte doch das Raubsystem des Verres und Piso auf. Fast alle Kaiser bis zum Ende der Antonine ehrten die Stadt, und nur wenige haben ihre Kunstschätze anzutasten gewagt.
Caligula und Nero plünderten schamlos ganz Griechenland. Den berühmten Eros des Praxiteles ließ jener aus Thespiä nach Rom bringen, und nur ein Wunder rettete den olympischen Zeus des Phidias wie die Hera des Polyklet in Argos vor dem gleichen Schicksal. Nero, welcher aus Delphi allein 500 Bronzestatuen entführen ließ, hat schwerlich Athen ganz verschont; aber es war doch ein Glück für diese Stadt, daß er, der Muttermörder, sie aus Furcht vor den rächenden Eumeniden nicht besuchte.
Nach Nero hörte das Fortführen griechischer Kunstwerke nach Rom auf, wenigstens verlautet davon nichts mehr.

Griechenland aber war trotz der fortgesetzten Plünderungen seit Mummius an Kunstschätzen noch so reich, daß Plinius bemerkte, Rhodos besitze noch 3000 Statuen, und für nicht geringer werde die Zahl derer in Athen, Olympia und Delphi gehalten.
Die Raubgier von Prokonsuln zur Zeit der römischen Republik und dann einiger Kaiser konnte den Athenern Götterbildnisse entreißen, aber schwerer fiel es dem Christentum, welches gleichzeitig mit der römischen Monarchie in das Leben der Menschheit eintrat, ihnen den Glauben an die alten olympischen Götter selbst zu nehmen. Keine Erscheinung in Athen irgendeines Sterblichen, in dem sich eine weltbewegende Idee verkörpert hat, ist merkwürdiger als die des Apostels Paulus. Dem großen Denksystem und der strahlenden Kultur des Altertums trat in der unscheinbaren Gestalt dieses Propheten die Zukunft des Menschengeschlechts gegenüber. In den Annalen der christlichen Mission gibt es keine kühnere Handlung als die Predigt des Paulus in Athen, der Akropole des Heidentums, die damals noch vom blendenden Glanz der Künste und Literatur umflossen war. Der apostolische Kundschafter, der Vergötterer Jesu, ergrimmte beim Anblick der Götterbilder, der Meisterwerke Griechenlands, welche die Stadt erfüllten, und der prangenden Tempel, zu deren Marmorhallen die Prozessionen der Priester und des Volkes emporzogen. Er forderte die Götterburg Athen zur Ergebung an Christus auf, aber er erkannte, daß sie für den evangelischen Gedanken noch nicht einnehmbar sei. Die neugierigen Stoiker und Epikureer lächelten über den Fremdling aus Tarsus, der einen neuen Heiland, die Auferstehung und das Weltgericht verkündete und mit scharfsinnigem Geist das Epigramm eines Altars auf den den Griechen noch unbekannten neuen Gott deutete. Aus dem dürftigen Bericht der Apostelgeschichte können wir nur erraten, was der begeisterte Prediger den Philosophen Athens gesagt hat: daß diese schöne Hellenenwelt unrettbar dem Tode verfallen sei, weil sie zu beschränkt und lieblos sei, auf dem Privilegium nur eines Menschenstammes, auf der Sklaverei und der hochmütigen Verachtung der Barbaren beruhe und sich zum höchsten Ideal der Menschheit und ihres Schöpfers nicht erhoben habe, vor dessen Angesicht nicht sind Grieche, Jude, Barbar, Skythe, Sklave und Freier, sondern alle gleich durch einen Geist und zu einem Leibe gemacht. Wer hätte damals zu ahnen vermocht, daß gerade die neue Religion, welche Paulus den Athenern verkündete, nach dem Verlauf vieler Jahrhunderte das einzige Palladium sein sollte, dem die Hellenen die Fortdauer ihrer Nation, ihrer Literatur und Sprache zu verdanken hatten?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter