Eine neue Problemstellung

Die Wissenschaft soll die Erscheinungen aufdecken, sie soll sie in die logischen Denkbeziehungen des Menschen eingliedern. Die Aufgabe einer Sexualwissenschaft kann also nur sein, das Liebesleben der Menschen aufzudecken, und zwar von den primitiven sexuellen Instinkten des Menschen bis zu allen „Umwandlungen“, die das Liebesgefühl in der Psyche erleben kann. Die Psychologie der menschlichen Liebesempfindung und die Stellung, die des Menschen Sexualität in den einzelnen Epochen für die Gestaltung des Kulturprozesses eingenommen hat, sind die Aufgaben der Sexualforschung und der Sexualgeschichte. Wenn die Wissenschaft diese Aufgabe gelöst hat, wird ihr vielleicht auch eine Erkenntnis möglich sein, wie sich der Prozess des Liebeslebens in Zukunft gestalten wird. Ob der Versuch der Beeinflussung dieses Umgestaltungsprozesses Sache und Ziel der Wissenschaft ist, diese Frage stellt ein Problem dar, dessen Beantwortung ich hier nicht vorwegnehmen will. Sie ist auch sekundärer Natur. Bestehen bleibt die Aufgabe der Sexualwissenschaft: Das Aufdecken der sexuellen Anlagen, und wenn sich diese Anlagen nicht als zeitlos herausstellen sollten, der sexuellen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Nur bei dieser Problemstellung verdient die Forschung den Namen einer Wissenschaft; sie ist prinzipiell unterschieden von dem, was sich bisher Sexualwissenschaft nannte. Die Prostitution als eine Form des sexuellen Lebens, ist eines der von ihr zu lösenden Probleme; es ist jedoch falsch, in der Prostitution das Zentralproblem der Sexualwissenschaft zu sehen und so die Wissenschaft ganz zu einem Tendenzmittel zu machen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Prostitution