Die psychologische Methode

Die Methode der Forschung kann also nur eine psychologisch-historische sein, eine Methode, die heute sehr wohl am Platze ist, nachdem die Pionierarbeit der Wissenschaft von der Medizin geleistet ist, nachdem die Medizin besonders die Komplexe, die von der sogenannten normalen Sexualempfindung abzuweichen scheinen, umschrieben hat. Die Sexualwissenschaft lag bisher ausschließlich in den Händen von Medizinern, den Anbetern des Gesunden und Normalen, das sie im menschlichen Körper zu konservieren streben. Aber mit der Normalität dessen, was nicht mehr Körper ist, mit den Missbildungen, die man nicht einfach abschneiden kann, hat die Sache doch einen Haken. So ist denn die Gestalt des Normalmenschen, den sie sich konstruierten, keine besonders lebensvolle Puppe geworden. Und die Aufgabe, das gesunde Liebesleben in diesen Normalmenschen hineinzupressen, die der Mediziner spielend löst, belächelt der Psychologe wie eine Zaubervorstellung. Der Psychologe kennt überhaupt nur den Einzelfall, oder er traut mindestens nur ihm Beweiskraft zu. Der Psychologe bildet aus der Kenntnis der Einzelfälle die Variationsbreite der psychologischen Möglichkeiten, aber er stellt keine Norm auf, weil er jedem Fall das gleiche Daseinsrecht zuspricht. Die Kenntnis von den sexuellen Anlagen von Mann und Weib kann sich nur nach dem Einzelfall verbreitern und bilden. Der Mediziner stellt die Norm auf, um das Krankhafte, das von der konstruierten Norm abweicht, zu erkennen und vor allem, um es zu „heilen“, davon lebt er nämlich. So war eine Sexualwissenschaft auf medizinischer Grundlage dazu verurteilt, den Begriff des Krankhaften in die psychologischen und sozialen Momente des Liebeslebens hineinzutragen; und indem man ihre Heilung anstrebte, zwängte man die Erkenntnis der sexuellen Zustände in die Tendenz. Für die echte Wissenschaft kann aber die psychologische oder sexuelle Variation niemals den Begriff des Krankhaften darstellen; sie beschränkt sich darauf, die gegebenen Verhältnisse zu erkennen, sie von allen möglichen Seiten zu beleuchten und ihre Notwendigkeit im Sinne eines Naturgesetzes nachzuweisen. Die veränderte Problemstellung rückt auch eine Erscheinung wie die Prostitution in ein völlig verändertes Licht. Ich interessiere mich nicht für das Problem: „Ist die Prostitution ein notwendiges Übel?“; denn es geht von einer Voraussetzung aus, die man gar nicht in der Tasche hat: Wer die Prostitution erforschen will, dem soll sie kein Übel und nichts Gutes sein, sondern eben eine Erscheinung, auf deren „Gesetzmäßigkeit“ es ihm ankommt; urteilen, moralisch werten über Phantasiephänomene ist viel leichter als „voir clair dans ce qui est“. Die wirkliche Erkenntnis der Prostitution ist aber erst dann möglich, wenn klargelegt ist, welche Elemente in dem Sexualleben des Menschen die Prostitution zur Notwendigkeit machen; aus welchem Grunde oder Instinkte heraus das Weib sich zur Prostituierten gemacht hat oder der Mann sie zur Prostitution zwingt. So werden die ersten Kapitel der Durchdringung des Komplexes der sexuellen Empfindungen dienen, und es wird zunächst von der Psychologie des „Prostitutionsvorganges“ die Rede sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Prostitution