092. Visionäre Erscheinungen in Entwicklungskrankheiten

Visionäre Erscheinungen in Entwicklungskrankheiten, im Wahnsinne.



In der Entwicklungsperiode der Mannbarkeit sind Krämpfe bei dem weiblichen Geschlechte und damit verbundene somnambule Erscheinungen sehr häufig, aber beim Wahnsinne sind sie oft bleibend und zwar von der Art, daß der Somnambulismus gewissermaßen die luciada intervalla bildet, daß nicht bloße vorübergehende Delirien, wie im Fieber stattfinden. Denn im Wahnsinne sind Ekstasen nichts Seltenes, und von jeher hat man dabei etwas Prophetisches gesehen und in dem wahnsinnig Begeisterten wohl einen Heiligen verehrt. — Das hebräische Wort RabiProphet, bedeutet auch einen Wahnsinnigen und die Griechen gebrauchen das Wort Manie zugleich als Bezeichnung eines begeisterten Zustandes, und in dieser Bedeutung legt ihr Platon jenes Lob bei, wie wir oben gesehen, daß von dem Wahnsinn so viel Gutes komme. Allein die ekstatischen Zustände sind vorübergehende Paroxysmen, und die tiefern Blicke wechseln, wie die Krämpfe und das damit verbundene Wetterleuchten clairvoyanter Geistesblicke, die in das trübe Geistesleben des Wahnsinnigen fallen. Voraussagungen aller Art, sowohl der eigenen Zufälle, als Andere betreffender Schicksale wechseln sehr häufig nach Pinels sehr zahlreichen Erfahrungen mit den Anfällen des Wahnsinns und der Nervensteigerung. —- Die Sprache der Seele in diesen Zuständen ist jene der Begeisterten und häufig auch symbolisch. In den Irrenhäusern hört man nicht selten Gesänge in klingenden Versen in der reinsten Sprache aus dem Munde ganz ungebildeter Personen, Tasso dichtete in seinen tollsten Anfällen, ebenso Lucrez, und Baboeuf soll in den heftigsten Fieberdelirien seine besten Verse gemacht haben.


„Ein an periodischer Narrheit Leidender freute sich auf die Stunde, da seine Anfälle wiederkehrten, weil ihm da, wie er sagte, Alles was er beginne, gelinge, weiter in diesem Zustande, wessen er sonst unfähig war, in Versen ganz geläufig reden, lange Abschnitte aus lateinischen Klassikern, die er längst vergessen, ohne Anstoß und mit Geschmack deklamieren konnte, und überhaupt sich glücklich fühlte.“ (Werner a. o. D. S. 56).

Merkwürdig sind oft die Scherblicke der Wahnsinnigen, die sie bald als unmittelbare Anschauungen, bald symbolisch aussprechen.

Claus der Narr trat zu Weimar hastig in den Sitzungssaal des geheimen Rats und rief: „Da ratschlagt ihr wohl von großen Sachen: aber Niemand denkt, wie man den Brand in Coburg löschen soll.“ Zur gleichen Zeit war eine große Feuersbrunst in Coburg, was man nachher erfuhr. (Steinbeck 537).

Nicetas Goniates erzählt im Leben des Isaak Angelus: „Als der Kaiser in Rodostes war, besuchte er einen Mann, Namens Basilakus, der im Rufe stand, die Zukunft zu kennen, bei allen vernünftigen Leuten aber für einen Narren galt. Basilakus empfing den Kaiser ohne alle Ehrenbezeugung und gab ihm auf feine Fragen keine Antworten. Dagegen trat er an des Kaisers Bild, das im Zimmer hing, kratzte ihm mit seinem Stabe die Augen aus und suchte ihm den Hut vom Kopfe zu schlagen. Der Kaiser verließ ihn, für einen vollkommenen Narren ihn haltend. Nach kurzer Zeit jedoch empörten sich die Großen des Reichs gegen ihn und setzten seinen Bruder Alexis auf den Thron, der dem Isaak die Augen ausstechen ließ.“

Daß der Mensch in seiner innersten Tiefe ein höheres, unzerstörbares Eigentum, einen Geist besitzt, den auch der Wahnsinn nicht antastet, der unter den größten Verwirrungen der Seelenkräfte sein höheres Leben fortlebt, und in lichten Momenten und namentlich vor dem Sterben über die Verstimmung seines leiblichen Instruments erhaben sich zeigt, seine stets gleiche innere Harmonie kund gibt, ja selbst trotz eines vieljährigen Wahnsinns des Wachstums in sich, der Erhöhung seiner Kräfte und sogar der Veredlung des Sprachausdrucks fähig ist: davon gibt die Geschichte einer zwanzig Jahre lang wahnsinnig gewesene Frau in der Uckermark, welche im November des Jahres 1781 starb, einen merkwürdigen Beweis. In den einzelnen lichten Augenblicken ihres Zustandes hatte man schon früher eine stille Ergebung in einen höhern Willen und fromme Fassung an ihr bemerkt. Vier Wochen vor ihrem Tode erwachte sie endlich aus ihrem langen Traume. Wer sie vor dieser Zeit gesehen und gekannt hatte, erkannte sie jetzt nicht mehr, so erhöht und erweitert warm ihre Geistes- und Seelenkräfte, so veredelt war auch ihre Sprache. Sie sprach die erhabensten Wahrheiten mit einer Klarheit und innere Helle aus, wie man sie im gewöhnlichen Leben selten findet. Man drängte sich an ihr merkwürdiges Krankenbette, und Alle, welche sie sahen, gestanden, daß, wenn sie auch während der Zeit ihres Wahnsinns im Umgang der erleuchtetsten Menschen sich befunden hätte, ihre Erkenntnisse nicht höher und umfangreicher hätten werden können, als sie jetzt waren. (Steinbeck 538).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1