086. Das zweite Gesicht der Hochschotten

Das zweite Gesicht der Hochschotten und seine Erscheinungen, sowie das Leichensehen.



Endlich gehört zu dem natürlichen Wahrsagen das zweite Gesicht, second sight; im Gaelischen heißt es Taishitaraugh, von Taish, Gespenst, Taishatrin, der Seher, nach Walter Scott.


So wie beim Nachtwandeln während des Schlafes ein teilweises inneres Erwachen, so entsteht beim zweiten Gesicht während des Wachens auf einmal ein Traumzustand mit innerer wacher Sinnestätigkeit von ganz eigentümlicher Art. Es stellen sich Gesichtszustände (Visionen), Gehörbilder (Geräusche und Töne), auch Geruchs- und Geschmacksempfindungen ein; am häufigsten findet sich diese Erscheinung aus endemischen Ursachen in mehreren Orten von Hochschottland und an den westlichen schottischen Inseln; vorzüglich auf Skye; auch auf den dänischen Inseln und Seeküsten findet es sich endemisch. Mit anderen somnambulen Erscheinungen und sporadisch findet es sich zuweilen auch anderwärts, so sah man es z. B. bei den Convulsionärs in den Cevennen; bei den Zauberern der Lappen; auf der Insel Mauritius, an der afrikanischen Seeküste usw. Das zweite Gesicht ist zuweilen erblich.

Die Erscheinungen sind folgende. Im Augenblicke seines Gesichts, welches plötzlich und unwillkürlich, bei Tag wie bei Nacht eintreten kann, ist der Seher unbeweglich und ganz starr, oft mit offenen Augen; er sieht und hört nichts, was um ihn herum äußerlich vorgeht, aber er weissagt künftige und entfernte Dinge; es ist, als ob ein entferntes Stück Raum und Zeit wie ein vollständiges und lebendiges Gemälde vor ihm aufgestellt wäre, z.B. Todesfälle; die Ankunft fremder, oft hundert Meilen entfernter Personen; entfernte Begebenheiten, z. B. Schlachten und Seegefechte. Auch beim zweiten Gesicht ist das Bild und die Sprache häufig symbolisch, und erst die Erfahrung lehrt die Symbolik derselben deuten. Oft ist das Gesicht ironisch spottend, wie ein Traum, wie z. B. ein Seher sich selbst sieht, aber nur von hinten, wobei er sich nicht eher erkennt, als bis er die Kleider verkehrt angelegt hat. Das Gesicht wird durch Berührung mit der Hand oder mit einem Fuß auch auf Andere übertragen; es steckt zuweilen auch an ohne Berührung, so daß entfernte Personen zu gleicher Zeit das gleiche Gesicht haben. — Selbst kleine Kinder haben die Visionen, welches sich dadurch zeigt, daß sie. laut aufschreien, wenn eine Leiche oder wenn eine andere Vision einem gewöhnlichen Seher erscheint. Es soll sogar auf Tiere übergehen und zuweilen bei diesen selbstständig entstehen, z. B. bei Kühen, Pferden, Hunden, Störchen. Ziehet der Seher fort in andere Erdteile, so verliert er dies Gesicht, bekommt es aber wieder, wenn er zurückkehrt. Von dem Traum und dem Somnambulismus unterscheidet sich das zweite Gesicht auch dadurch, daß bei diesem der Seher die vollkommenste Erinnerung dessen behält, was er geschaut hat, und daß es sogar im vollkommen wachen Zustande stattfindet. Von der gemeinen Geisterseherei unterscheidet es sich, daß der Seher seiner Sinne gewöhnlich ganz mächtig ist und nicht wie in jenen abnormen Zuständen in Zuckungen und Erstarrung gerät; endlich von den schwärmerischen religiösen Gesichten der Visionärs des 17ten Jahrhunderts, wie des Pordage, Brandeg, Jeane Leade usw., daß das schottische Sehen nichts mit der Religion gemein hat. — Zuweilen hört er die Stimme oder einen Schrei, welchen die Schotten taish nennen, welches der Stimme des Todeskandidaten gleicht. Zuweilen kündigt sich ihnen durch den Geruch eine Mahlzeit im Voraus an, so riechen sie z. B. Fische am Feuer, wenn noch keiner im Hause ist. — Auf den schottischen Inseln soll das zweite Gesicht seit hundert Jahren seltener geworden sein, aber in Dänemark findet es sich nach Bendsen (Kiesers Archiv 8. Bd. 3. St.) jetzt noch häufig, und solche Seher sollen sich nach ihm durch einen eigentümlichen Stechblick auszeichnen. Daselbst wird ein auf eine bestimmte Zeit voraussehendes, erst in Zukunft in Erfüllung gehendes Gesicht ausführlich beschrieben.

Das sogenannte Leichensehen, welche Gabe einzelne Personen haben, die einige Zeit voraus den Tod gewisser Personen verkünden, wenn sie auch noch gesund sind, und die sogenannten Doppelgänger gehören ebenso zu dieser Klasse, wo nämlich entweder der Seher sich selbst im Bilde in verschiedenen Entfernungen zuweilen sich begegnend erblickt, oder wo das Bild von mehreren Personen zugleich an einem Orte gesehen wird, wo dir Person — das Original — sich nicht befindet. Das Sichselbstsehen wird fälschlicherweise von dem Volksglauben als den nahen Tod verkündigend angesehen. — Als besonders merkwürdige Eigentümlichkeiten des zweiten Gesichts sind noch folgende bemerkenswert. Die Seher werden unwiderstehlich von ihrem Gesichte ergriffen, und ist es einmal da, so folgen immer auf bestimmte Anschauungen die gleichen Ereignisse und die Bilder sind meistens bei allen Sehern die gleichen, auch wenn sie symbolisch sind, wo her die Allgemeinheit der Bildersprache folgt. — Tritt die Erscheinung Morgens früh ein, so geht sie gewöhnlich in wenigen Stunden in Erfüllung; wenn zu Mittag, noch am selben Tage; wenn Abends, oft noch in derselben Nacht; sind die Lichter schon angezündet, so tritt die Erfüllung in der Nacht, aber erst nach Monaten oder Jahren ein, je nach den verschiedenen Zeiten der Nacht, in der das Gesicht sich gezeigt hat. Die Bedeutungen sind (z. B. nach H. Werners Zusammenstellung): ein Leichentuch um eine Person geschlagen bedeutet ihren Tod. Umhüllt es sie nicht über die Mitte des Körpers, so erfolgt der Tod nicht innerhalb eines Jahres, oft erst einige Monate später. Reicht das Tuch höher, so stirbt der Gesehene in wenigen Tagen oder Stunden. Ein Totenkopf auf der Brust eines Menschen deutet auf eine schwere Krankheit; gekreuzte Beine unter dem Kopfe auf eine tödliche. Steht ein Frauenzimmer zur Linken eines Mannes, so wird sie seine Frau; sind es mehrere, so ist die nächste gemeint. Einen Feuerfunken auf Jemandes Arm oder Brust fallen sehen, deutet auf den Tod eines Kindes in seinen Armen. — Man vermag durch absichtlich in den Weg gelegte Hindernisse die Erfüllung des ausgesprochenen Gesichtes nicht zu hintertreiben; es ist noch nie gelungen, durch einen solchen Versuch irgend eine Änderung hervorzubringen, und es scheint, als ob bei der Vision auch schon das Hindernis stillschweigend in Berechnung genommen worden wäre; kurz die reine Tatsache wird geschaut, wie sie kommen muß, nicht wie sie kommen könnte.

Werner führt für die verschiedenen Arten des zweiten Gesichts, wie sie sporadisch entstehen, und wie sie im magnetischen Schlafwachen vorkommen, wahre historische Belege an (a. o. O. S. 69), von denen hier ein paar folgen. — Dorothea Schmidt aus Göz bei Brandenburg litt als Mädchen von 18 Jahren an hysterischen Krämpfen, unter welchen sich das zweite Gesicht allmälig entwickelte und endlich einen solchen Grad von Vollkommenheit erreichte, daß sie bis zu ihrem 27sten Lebensjahre alle Todesfälle in Göz voraussah. Selbst ihre Schwangerschaft hatte keinen Einfluß auf ihre Sehergabe und sogar nach Verlust der Menses im 46sten Jahre behielt sie sie in ihrer Kraft. Die Vorschau geschieht in der Regel des Nachts zwischen 11 und 12 Uhr. Da erwacht sie mit großer Angst, die sie jedesmal ins Freie treibt, wo sie dann sogleich den Leichenzug sieht, mit dessen Anschauen sie ruhig wird und dann sich wieder zu Bette legt (also eine hellsehende Schlafwandlerin). Früher sah sie von ihrer Wohnung aus das Haus, von welchem der Zug ausging; später am Eingang des Dorfes wohnend, konnte sie nur die Kirche und den Kirchhof übersehen, und so wußte sie jetzt nicht mehr, von welcher Familie der Tote ist, sondern nur, ob er männlichen oder weiblichen Geschlechts; ob er erwachsen oder ein Kind ist, was sie an der männlichen oder weiblichen Begleitung unterscheidet. Ist es ein Kind, so trägt eine männliche Gestalt einen kleinen leuchtenden Sarg unter dem Arme. Ehe die Schmidt die Natur dieser Erscheinung kannte, wollte sie, um sich zu überzeugen, ob nicht lebende Personen den Zug bildeten, ihm entgegentreten, aber immer befiel sie eine ungeheure Angst, je näher sie ihm kam, und eine innere Gewalt zwang sie, ihm auszuweichen. War dagegen zufällig Jemand in seinem Wege, so wich der Zug aus. So sah sie, wie er schon von weitem dem Nachtwächter auf der Straße auswich. Einmal sah sie ihren Mann, der neben ihr stand, in einem solchen Leichenzuge. — Sie sieht nur Leichenzüge, keine anderen Begebenheiten. Außerhalb ihres Ortes hat sie nur von Verwandten diese Vorbilder. Sie lebte noch 1867, war 55 Jahre alt, ganz im Besitz ihrer Gabe und ganz gesund. — Unter anderen ihre Schwester betreffenden Gesichten, ist eins von einer Selbstmörderin besonders merkwürdig, welche sie ohne den gewöhnlichen den Sarg umhüllenden Schein sah. — Als ihr zweiter jüngerer Sohn starb, bezwang sie Nachts ihre Angst und den Trieb, hinauszugehen, weil sie den Leichenzug ihres eigenen Kindes nicht sehen wollte, dessen Tod sie voraussah. Tags darauf sah sie den Kopf desselben mit Hellem Glanz umgeben, welcher noch zwei Stunden bis zum Tode zunahm.

In Lindholm auf Fünen lebte vor mehreren Jahren ein Flurhirte, Bagghescn, mit der Gabe des zweiten Gesichts. Dieser sah einst mehrere Morgen nach einander in aller Frühe einen Mann in den an seinem Hause liegenden Wassergraben stürzen, den er nicht erkannte, da er ihm den Rücken zukehrte. Wenige Tage darauf wollte er früh aufs Feld, glitschte am Rande, stürzte hinein und ertrank.

Im Kirchspiele Riesum auf Fünen lebte ein ausgezeichneter Seher, Wilmscn. Dieser sah einmal auf der Straße bei Nordriesum einen großen Leichenzug, bei welchem es ihm vorkam, als ob der Sarg sich spalte und dennoch vier Träger mit jeder Hälfte auf beiden Seiten des Weges gingen. Das konnte er sich nicht erklären. Nach Kurzem wurden zwei Personen zu gleicher Zeit beerdigt und hinter einander getragen. An der bezeichneten Stelle bogen die beiden Särge wegen einer dortigen großen Pfütze im Wege zu beiden Seiten aus. (Kiesers Archiv 8. Bd. 3. St.)

Paul Bredersen in Bramstedt sah einen Leichenzug, wobei er sich selbst im Gefolge und den Wagen seines Nachbars Christian erblickte, welchen zwei Schimmel zogen. Er schloß daraus auf den Tod der alten Mutter des letzteren; die Schimmel jedoch konnte er sich nicht erklären, da kein einziger im Orte war. Nach drei Wochen starb wirklich die alte Frau und es wurden, da der Nachbar Braune hatte, diese vor den Leichenwagen gespannt. Bereits hatte der Zug begonnen, da stürzte plötzlich ein Pferd nieder und konnte für den Augenblick nicht weiter gebracht werden. Eiligst schickte man in das zunächst gelegene Dorf, wo gerade keine anderen Pferde als zwei Schimmel disponibel waren, die nun den Sarg zogen. (Ebendaselbst.)

Noch 1821 lebte in Niebüll ein Seher, spottweise Bog Spuck genannt, der viele merkwürdige Gesichte hatte. Er war ein Glaser und setzte einstmals einem Mann, Namens Welsen, einige Scheiben. Im Hause desselben sah er eine 18jährige Tochter als Leiche im Zimmer, wo er arbeitete, und auf dem Heimwege beobachtete er ihren Leichenzug. Welfen, der Vater, erfuhr es, glaubte jedoch nicht daran und wettete mit Spuck auf das Nichteintreffen seiner Aussage. Der Seher setzte dann noch hinzu, daß eine bestimmte Anzahl Wagen in bestimmter Ordnung den Zug bilden würden; auch müsse ein starker Wind wehen, fügte er bei, weil in seinem Gesichte die Späne beim Abnehmen des Sarges überall herumflogen. Endlich gab er noch zu, der Sarg müsse sich beim Einsenken in die Erde so verschieben, daß er wieder heraufgezogen werden müsse. Nach kurzer Zeit ging Alles wörtlich in Erfüllung.

Eine Madame Brand hatte das Gesicht, aber immer nur auf das Absterben eines Chorherren des Stiftes zu Bernmünster, wo sie allemal am hellen Tage die Geistlichen alle in Procession zur Kirche gehen sah.

Ein Kavalier zu Hannover ging in einer Allee spazieren und sah von da aus dem kurfürstlichen Schlosse einen Leichenzug herunterkommen; zugleich hörte er alle Glocken läuten. Verwundert begab er sich sogleich ins Schloß und fragte, wer begraben werde? Allein wo er fragte, wurde er ausgelacht. Nach sechs Tagen lief die Nachricht ein: der König Georg aus dem Hause Hannover sei am gleichen Tage und in derselben Stunde gestorben, da der Seher den Trauerzug gesehen hatte. (Steinbeck, der Dichter ein Seher S. 441). — Eine gewisse Ähnlichkeit hiermit hatten die Gesichte Swedenborgs, welcher z. B. den großen Brand in Stockholm in demselben Augenblick vorhersagte, als er eben von England in Gotenburg angekommen war. — Mehrere andere Beispiele und Vergleichungen mit dem magnetischen Hellsehen finden sich bei Werner in seinen Schutzgeistern und in dessen Symbolik der Sprache. Ferner in Kiesers Archiv für den tierischen Magnetismus. 7. Bd. 2. St. 8. Bd. 2. St. 3. St.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1