072. Zerstreuung der Volkstämme

Die Zerstreuung der Völkerstämme nach verschiedenen Richtungen und die damit verbundenen Geistesrichtungen in ihren höhern religiösen Beziehungen.



Wenn der ursprüngliche Gegensatz der ersten Menschen zu Gott und der Natur ein geringerer sein mußte, so war notwendig auch das Sprachverhältnis ein innigeres und einfacheres, und ebenso in der Urzeit noch ein gemeinsameres unter den ersten noch mit gleichen Bedürfnissen zusammenlebenden Stämmen. Mit der Zeit und dem Wachstume mehrten sich die Bedürfnisse; die Menschen zerstreuten sich geistig wie räumlich und wurden einander in ihren Bestrebungen und Wohnsitzen fremd, und es gesellten sich nur mehr zusammen, die geistig sich verwandt fühlten und örtlich Nahrung für die gleichen Bedürfnisse fanden. So werden die Menschen nach ihrem angeborenen Sinn sich auch vereinigt haben, diejenigen Länder zu besetzen, die ihrer Natur und Beschaffenheit am besten zusagten. Es ist merkwürdig, wie nach der Geschichte es gerade drei Hauptrichtungen waren, nach denen die Abkömmlinge Noahs sich zerstreuten und zwar auch ganz nach dem Sinn und Charakter der drei Söhne desselben. Die Semiten behielten ihre Wohnsitze in Asien; die Japhetiten zerstreuten sich nach Abend und Mitternacht, und nach Süden zogen die Chamiten. Wie die Gemeinschaft der Interessen damit auseinander ging, so die Sprachen und der geistige Sinn für die Religion. Wenn Noah die ursprüngliche Gotteserkenntnis in einem noch höhern Grade besessen hatte: so waren bekanntlich schon seine Söhne sehr ungleiche Gefäße, dieselbe in sich aufzunehmen, und wie mußte die Scheidung mit der Sonderung und Trennung ihrer Abkömmlinge nach den ungleichen Richtungen der Erdgegenden nicht erst eine trübere werden nach den geistigen und irdischen Wassern! Die Semiten in Asien blieben ihren einmal gewählten Sitzen treuer; ihre Sitten und Verfassungsart veränderten sich weniger, und so mußten sie auch die Überlieferungen der alten Wahrheit von den Vätern mehr behalten, als die in alle Welt sich ausbreitenden Japhetiten und als der Stamm Chams, dem Noahs Fluch: „daß er ein Knecht sei aller Knechte unter seinen Brüdern“ auf dem Fuße nachfolgte und bis heute noch seine Wirkung nicht verloren hat. In jenen Worten Noahs (1. Mos. 9, 23.): „gelobet sei Gott der Herr des Sem, und Kanaan sei sein Knecht; Gott breite Japhet aus und lasse ihn wohnen in den Hütten des Sem und Kanaan sei sein Knecht“, liegt die Vorzeichnung der Richtung und Stammentwicklung der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts. „Sems Figur, sagt Jakob Böhme, ging auf Abraham und Israel, wo das Wort des Bundes offenbar wurde. Japhets Figur ging durch die Weisheit der Natur im Reiche der Natur fort, von da entstanden nämlich die Heiden. Da nun Sems Linie auf das Licht im Bunde sah, so wohnte ja freilich Japhet, die arme gefangene Seele, in Sems Hütten, indem das Licht der Natur im Lichte der Gnade von diesem umschlossen ist. Chams Linie ging aber auf den tierischen Menschen, in welchem der Fluch war, woraus das sodomitische und fast ganz viehische Volk entstand, welches weder das Licht der Natur, noch auch des Gnadenlichtes im Bunde achtete.“ — Diese bedeutungsvollen Worte enthalten den Inhalt des wirklichen Verlaufs der Geschichte. Sems Kinder behielten das geistige Wort in Sinn und Sprache am treuesten in der Überlieferung, und die in ganz Asien begründeten Mysterien behielten ihre Kraft und Wirkungen Jahrtausende. Als dieselben aber die ursprüngliche Reinheit durch den Mangel des lebendigen Verkehrs und der wechselseitigen Anregung und durch das immer tiefere Anklammern an das irdische Element des unveränderten Wohnsitzes mehr und mehr verloren; als die wahre Idee der Herrlichkeit und Persönlichkeit Gottes immer mehr entschwand und sich in den heidnischen Geist des Gestirndienstes auflöste: so sonderte Gott von diesem Stamme durch das Geschlecht über den Abraham aus, welcher in seinen Kindern, die sich mehren sollten wie der Sand am Meere, die wahre Religion des lebendigen Wortes, der wahrhaften Erkenntnis; und Liebe Gottes zu erhalten und für alle Zeiten und Geschlechter fortzupflanzen bestimmt war. „Durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, darum daß du meiner Stimme gehorcht hast“, sprach der Herr, der ihn aussonderte aus dem in sich selbst erstickenden Dampf der heidnischen Opfer- und Götzendienste, und ihn durch ein ewiges Wandern zum Fremdlinge machte auf der Erde, die ihm nichts Bleibendes als eine sichere Grabstätte darbieten sollte. In dem durch Abraham auserwählten Volke wurde die wahre Einheit der Religion, der Glaube und die echte Gottesverehrung bei der Zerfallenheit aller übrigen heidnischen Völker bewahrt, fortgepflanzt und aufrecht erhalten. Die wahre Offenbarung einer endlichen Wiedervereinigung mit Gott und der Erlangung der ursprünglichen Vollkommenheit, ein wahres Bild Gottes darzustellen, zuerst in Gesetzen und Mysterien, und endlich vom Munde zum Herzen unmittelbar, geschah auf diese Weise aus dem gesegneten Samen Sems durch die Wurzel Abrahams; durch die Stämme Jakobs; durch die Zweige der Propheten und durch die endlich in Christo aufgehenden Blüten des lebendigen Wortes.





Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1