069. Träume sind mit den Visionen verwandt

Über die Beschaffenheit und Erscheinungsart der Träume und ihre wesentliche Verwandtschaft mit den Visionen.



Die Träume gehören zwar nicht zu der Magie in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, sie sind aber mit den Visionen und mit dem inneren Leben der subjektiven Phantasiebildungen wesentlich von gleicher Beschaffenheit. Den Erscheinungen nach sind sie mit jenen ganz gleich. Wie die Visionen sind die Träume entweder flüchtig vorübereilende Bilder, oder sie sind anhaltend und periodisch wiederkehrend, nach bekannten Gestalten der äußeren Sinnesobjekte; oder sie sind weissagender Art, ferne und künftige Ereignisse verkündigend, und sehr häufig symbolisch und allegorisch. Man hat in der ältesten Zeit die Traumgesichte und Visionen auch nicht einmal von einander unterschieden unt sie von gleichem Werte gehalten, wie man es bei den Orientalen und Juden sieht, und vielfältig hat man sich schon sehr früh mit der Auslegung ihrer symbolischen Bedeutungen beschäftigt. So hat Artemidor schon im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Traumformen und ihre Bedeutungen zusammengestellt, und dieselben in gewöhnliche Visionsträume — spekulative und allegorische eingeteilt. Die Visionen und das Träumen werden auch von magnetischen Somnambulen häufig, nicht unterschieden; denn sie sagen häufig: es träume ihnen, und sie haben von diesem oder jenem fernen oder künftigen Ereignisse geträumt; oder man solle es ihnen auftragen, daß sie im Schlafe über etwas träumen. Dabei sind bei solchen magnetisch Schlafenden die Träume entweder ganz prosaischer Art, oder sie sind symbolisch, deren Verständnis ihnen oft sehr schwer wird. Nicht weniger erscheinen im Traume, wie in den Visionen und beim magnetischen Schlafwachen allerlei Gestalten des Anthropomorphismus, in Bildern des wachen Lebens sowohl, so wie sie auch die Form höherer Wesen annehmen und dann als göttliche Eingebungen und Erscheinungen angesehen werden. Bei dieser Traumbildung findet in der Geschichte der Völker kein Unterschied statt. Die Träume sind von jeher von weissagender Natur gehalten worden, und so konnte Cicero mit Recht dieselben zu dem natürlichen Wahrsagen rechnen (divinationis genus, quod arte careret).


Die Traumbilder sind zuweilen so lebhaft, daß sie beim Erwachen die äußeren Gegenstände überscheinen und gar nicht verschwinden. So konnten die heilenden Götter bei der Inkubation die Seher begleiten, und den Israeliten leisteten die Engel bei der Wanderschaft und Mahlzeit nicht selten Gesellschaft. Cardanus erzählt von sich, daß er schon als Knabe vom vierten bis siebenten Jahre häufig von zwei bis vier Uhr Nachmittags, oder wenn er sonst langsam erwachte, allerlei Bilder auf seiner Bettdecke erscheinen sah in Gestalt von Bäumen, Menschen und Tieren, Städten und Kriegsheeren usw., an welchen er sich zu ergötzen pflegte, so daß ihn seine Mutter oft gefragt habe, was er sehe? Allein er, obgleich noch klein (parvulus), erkannte die falsche Erscheinung (non ignorabam, hoc esse portentum quoddam) und verneinte es, indem er fürchtete, dieselbe möchte verschwinden. — Spinoza erzählt von sich selbst, daß er an einem Morgen schon bei hellem Tage aus einem schweren Traum erwacht sei und daß ihm die Traumbilder noch so lebhaft vor den Augen schwebten, als wenn es wirkliche Dinge gewesen wären; besonders aber habe ihn ein schwarzer, schäbiger Brasilianer verfolgt. Dieses Bild verschwand großenteils, wenn ci die Augen auf ein Buch oder sonst auf etwas heftete; sobald er aber die Augen davon wegwendete, erschien abwechselnd ihm der Brasilianer mit derselben Lebhaftigkeit, bis er endlich über seinem Haupte verschwand (Opera posthuma, epistola 30.). — Jean Paul sah oft (Museum S. 322) bei schnellem Erwachen Wahnmenschen neben sich; einmal nach dem Aufstehen im Nachthimmel eine große Wahnmorgen- oder Feuerröte; bei der Rückkehr von einer Fußreise sah er einmal einen kindlichen Mädchenkopf aus seinem Fenster herabschauen, aber im ganzen Hause war kein Kind gewesen. Indem hernach die Identität der Visionen, der Träume und des magnetischen Schlafwachens aus einer ursprünglichen, dem menschlichen Geiste inwohnenden Eigenschaft erhellet: so ist es wohl einzusehen, daß den jugendlichen Völkern, wie den Individuen in der Kindheit das Visionsleben teils häufiger, teils in der Nichtunterscheidung des subjektiven Phantasiebildes von den äußeren Objekten vorkommen mußte; ebenso ist es aber einer ganz mangelhaften Erkenntnis des menschlichen Wesens zuzuschreiben, wenn man bei dergleichen Erscheinungen und Weissagungen glaubt, daß sie etwas Neues seien, als wie hingegen Plutarch von den Orakeln wähnen konnte, daß auch jene göttliche Kraft erschöpft, einmal hätte aufhören müssen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1