064. Das Wesen der Visionen ist sehr rätselhaft

Über das Wesen der Visionen und ihr rätselhaftes Gebiet.



Als ein wesentlicher Teil der Magie wurden von jeher die Visionen betrachtet, wozu man gewöhnlich das Geistersehen rechnete, ohne daß deswegen der Magier ein Visionär, oder der Visionär ein Magier zu sein braucht. Es gehört aber zum Wesen der Visionen das Schauen des inneren Sinnes überhaupt, welcher unabhängig von der Tätigkeit der äußeren Sinnesorgane, und oft bei Abwesenheit der Objekte, Erscheinungen hat, die est wahr sind, der Wirklichkeit entsprechen, oder die oft auch falsch sind und keinem wirklichen Objekte entsprechen. — Sonderbar, daß man von jeher alle Visionen geneigt war zu den wesenlosen Luftspiegelungen, zu leeren Phantasmen oder zu den lügenhaften Erdichtungen zu zählen! Ist doch der Mensch nicht blos ein sinnliches Naturwesen, das nur in der äußerlich sichteten Welt lebt, sondern vielmehr ein Geist, der denkt und vorstellt, ohne alle äußerliche Objektivwelt, und der in eine höhere Welt hineinragt, welche für die äußeren Sinne unsichtbar ist, und wo andere Kräfte walten, als jene der physischen Anziehung und Abstoßung. Ist nicht der Mensch von einer höheren, unsichtbaren Abstammung? „Os homini sublime dedit, coelumque tueri“ — heißt, der Mensch ragt durch seine aufrechte Stellung über den Boden hinaus, auf dem er steht, in eine höhere Region hinein, wohin die Sinne des Leibes nicht reichen, und welche er auch nur angemessen gebrauchen kann in dieser aufrechten Stellung, nicht aber, wenn er sich mit dem Kopfe gleich den Tieren auf allen Vieren zur Erde herablässt, — ,,prona cum spectant caetera animantia terrana.“ Ovid.[/i]


Allerdings geraten wir hier auf jenes rätselhafte Gebiet, worauf man sich bis heute nicht zurechtzufinden weiß, so wenig wie der Visionär selbst, welcher sich häufig in die obere Welt entrückt glaubt, wenn er auf der Erde kriecht, oder welcher die irdischen Dinge mit Geistern verwechselt. Behaupten ja noch hochgefeierte Gelehrte: „Weiter als bis zur leuchtenden Erscheinung dessen, was die Einbildungskraft schon langst im Dunkeln gesucht und begrenzt hat, hat es die Magie wahrscheinlich nie gebracht. Mag das, was der Magiker will und sucht, der besondere Geist, den schon lange inmitten seiner Operationen die Phantasie im dunkeln Sehfeld begrenzt hat, wirklich auch als leuchtend erscheinen, oder mag es, was gewiß die Regel ist, bei dm Phantasmen des Halbwachens bleiben, die Vision als magische ist die letzte, und hier hört auch alle Magie auf.“ — Hier, lieber Freund, fängt sie erst an! denn die Vision ist nicht immer blos Wirkung eines rein physiologischen Protestes der Phantasie und der Sinnesorgane, sie ist oft von hyperphysischen Einflüssen bedingt und jedenfalls oft von solchen, welche ganz und gar außerhalb des Bereichs der Phantasie und der Sinnesorgane liegen. „Dadurch ist der Mensch ein Seher, sagt ein anderer Gelehrter, daß er nicht blos zunächst das Äußere und Sichtbare anschaut, an welchem das Leben ausgeht und erlischt, sondern den innern Anfang des sichtbaren Werdens, den unvergänglichen Quell der Lebensbewegungen selber. Er ist dadurch ein Seher, daß er nicht blos und zunächst das Vereinzelte und Besondere, sondern den unsichtbaren Faden einer ewigen Harmonie wahrnimmt, in der sich alle scheinbaren Dissonanzen des Vereinzelns und Sonderns gegenseitig ergänzen und zum Wohllaut auflösen. Das Vermögen, mitten durch die Welt des sichtbar Gewordenen hindurch die unsichtbaren Anfänge des Werdens zu erkennen und selber schaffend in das Werk der fortwährenden [b]Schöpfung
einzustimmen, liegt eigentlich, wenn auch noch nicht kundgegeben, in jeder Menschennatur. Es liegt in Etwas, das den Menschen erst zu dem macht, als welchen sein deutscher Name in der uralten Bedeutung seiner Wurzel ihn bezeichnet: zu einem Verstehenden und Erkennenden; es liegt in dem Geiste.“

Zu dem Wesen der Visionen gehört daher mehr als ein Verlorensein in sich selbst, oder in wesenlose Erscheinungen, wie man gewöhnlich glaubt, und was wohl auch häufiger der Fall sein kann, es gehört dazu das Vorstellen des innern unmittelbaren Schaums, und im weiteren Sinne auch das von den äußern Sinnen unabhängige Bilden der Phantasie, woher die richtige Bezeichnung: der Dichter ein Seher. Der Unterschied zwischen dem eigentlichen Seher und dem Dichter, die übrigens häufig ineinander übergehen und ihre Rollen wechseln, ist der, daß der Dichter nicht blos schaut und das Gesehene wahrnimmt, sondern daß er davon ergriffen selbsttätig in das Wahrgenommene einstimmt und dasselbe zu harmonischen Gebilden schöpferisch umwandelt, was bei ihm nach in der Erinnerung haftenden Vorbildern willkürlich geschieht. Kein wahrer Dichter ist ohne Sehergabe, die ihm als ein Geschenk des Himmels angeboren, und nicht erworben werden kann. Quintilian bezeichnet diesen Gegenstand vortrefflich mit den Worten: (Concipiendis visionibus, quas Phantasias vocant, und Goethe (Zur Morphologie 2. Bd. 2. H. S. 114) sagt: „man sieht deutlich ein, was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentlichen Künstler geboren sein müssen. Es muß nämlich ihre innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole freiwillig ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie müssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche Bilder zu werden. Wie besonders die Alten mit diesen Idolen begabt gewesen sein müssen, läßt sich aus Demokrits Lehre von den Idolen schließen. Er kann nur aus der eigenen lebendigen Erfahrung seiner Phantasie darauf gekommen sein. — Je größer das Talent, je entschiedener bildet sich gleich anfangs das zu produzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von Raphael und Michael Angelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriss das, was dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfasst. Dagegen werden spätere, obgleich treffliche Künstler auf einer Art von Tasten ertappt, es ist öfter, als wenn sie erst durch leichte, aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Element erschaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand, und was sonst noch wie aus dem Ei das Hühnchen sich bilden solle.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1