037. Das Wesen der Kunst

Das Wesen der Kunst und ihr ursprüngliches Verhältnis.



Es hat daher wohl auch einen tiefern Grund, als den einer leeren Phantasie, wenn, wie bei dem Individuum die Entwicklung aus dem Keime des Göttlichmenschlichen in der Mannigfaltigkeit nach außen erst in der Zeit als Blüte aufgeht und spät erst seine eigene Selbstständigkeit erlangt, die ursprüngliche göttliche Offenbarung in der Natur noch eine subjektobjektive war (wie der Somnambule sein Gesicht mit dem Gegenstand verwechselt), aus der die höhere Offenbarung, in der Unterscheidung des innern Selbst von dem äußern Gegenstand, erst nach und nach mit der wachsenden Erfahrung hervorgeht. Ebenso hat es seinen inneren Grund, daß die Ausdrucksweise bildlich, dichterisch, emphatisch, personifizierend war; daß der Glaube den Verstand bemeisterte, und daß der Wissenschaft die Kunst vorhergehen mußte. Die Kunst ist also auch nicht ein Erzeugnis der unbehilflichen gebietenden Notwendigkeit, sondern die freie außen der sinnlichen Anschauung dargestellte innere Idee, also die innen Erscheinung, das Bild des höhern, vollkommen Göttlichen. Aus der freien schöpferischen Dichtung ging zunächst der Tanz und Gesang als unwillkürliche Ergüsse des erregten und gehobenen Gemütes und der religiösen Begeisterung hervor, denn mit der Religion ist die Kunst auf das Engste verbunden; wie das religiöse Gefühl, so ist die schöpferische Idee und ihr Bildungsvermögen, die Phantasie, dem Menschen anerschaffen. Wie das Eine, so ist das Andere nicht von ihm erfunden, sondern mit seinem Wesen unmittelbar gegeben, und beide, die Religion, wie die Kunst sind nur die Enthüllungen des inneren göttlichen, im Menschen verborgenen Keims, was nach der Natur des Individuums, der Zeit und Umstände, so oder anders, teilweise oder vollständiger zu Stande kommt; woher auch die Verschiedenheit der Kunstwerke dem Inhalte und der Form nach begründet wird. — Es ist also die Kunst ebenso wenig eine Dienstmagd der Religion, wie es häufig behauptet wurde, als diese von der Kunst abhängt. Mit dem religiösen Bewußtsein ist die Idee der Kunst aufs Engste verbunden, und mit der Änderung des selben ändert sich auch die Kunst, weil die Ideen sich nach dem religiösen Stand — oder Bestand richten. Die Kunstgeschichte muß ganz vorzüglich jedesmal auf der Seite der religiösen Ansichten der herrschenden Zeit einhergehen. Die Kunst des Heidentums konnte daher, wie ihre Religion, auch nur eine einseitige, falsche sein; sie konnte sich mit den religiösen Ansichten bis zu den edelsten Idealen erheben, sie konnte aber kein Ganzes und Lebendiges bilden, weil der Polytheismus keine Einheit gestattet; weil den Heiden nur die Ahnung der Gottheit, nicht Gott in der Welt wirklich erteilt ward. Und so konnte die wahre, volle Kunst erst mit dem Christentume aufgehen, was wir später noch werden zu berücksichtigen haben.


Demnach bezog sich notwendig ursprünglich alle Kunst auf den Götterkultus; der Gesang erklang in feurigen Hymnen und las Mimische bildete sich zu dramatischen Chören, die Göttergeschichte darzustellen. Die sogenannten bildenden Künste im engern Sinne, welche gewisse Ideen äußern Gegenständen einprägen sollten, gingen offenbar auch aus diesen Uranfängen aller Kunst hervor, wo dann die Baukunst in den Tempeln und Monumenten wieder in ganz entsprechender kolossaler und unverwüstlicher, der Götter würdiger Form die erste Stelle einnahm; bei der gleichfalls, wie in der Sprache, ursprünglich nicht die entwickelte in Verzweigungen auseinandergehende Schönheit, sondern die wahre einfache Bedeutung, wenn auch in roherer Form, der Hauptzweck war, sowie auch in der Baukunst das Symbolische der religiösen Gefühle und der idolatrischen Ideen vorherrscht.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1