035. Wesen der Sprache und ursprüngliche Äußerungsweise

Über das Wesen der Sprache und ihrer ursprünglichen Äußerungsweise.



Mit den religiösen Gefühlen und Begriffen eng verbunden ist die Äußerungsweise der Sprache. Je einfacher und je weniger entwickelt der Geist der Menschheit in der Urgeschichte war, ebenso einfach war die Ausdrucksweise der Sprache. Die Verwandlung und Verschiedenheit der Sprachtypen sind Entfaltungen aus den einfachen Elementen und Wurzellauten, die sich erst mit der Entwicklung und Verbreitung der Völker gestalteten. Die ursprüngliche Einheit von Völkerstämmen, wie z. B. die indogermanischen, zeigt eine Verwandtschaft der Abstammung wie der ursprünglichen Stammsprache. Mit der Rassenabsonderung bildeten sich erst die verschiedenen Sprachformen aus den alten Wurzeln, und erweiterten sich mit neuen Begriffen zu neuen Worten und Benennungen; nahmen mit der fortschreitenden Veredlung des Geistes an Reichtum und Vollkommenheit zu, wie sie bei dem Stillstand oder Rückschritt abnahmen oder verarmten. Die germanischen Völker des Japhetischen Stammes, die von dem asiatischen Plateau nach West und Ost gezogen sind, mögen uns hierbei zum sprechenden Beispiel, und Europa und Indien als Lehrtafeln dienen. —


Wenn die Gefühlsbewegungen aus der dunkeln Tiefe des Gemütes, wie das innere Feuer der Erde in der Begeisterung zum Ausbruch kamen: so war die erste Offenbarung des Menschen poetischer Erguß in den prophetischen Äußerungen, häufig in Rhythmus und Gesang. Wie die Poesie in Symbolen und Gleichnissen ihr Leben hat: so war auch namentlich die Sprache der Ekstatischen eine symbolische Bildersprache. Die Ur- und Natursprache ist sicher eine einfache symbolische gewesen, wo die noch nicht deutlich zum höheren Selbstbewusstsein gekommene Seele, wie im Traume, ihre Merkmale nicht willkürlich fixierte, sondern nach einem höhern Urtypus des Geistes wählte. Der wach gewordene Verstand änderte dann bei der Absonderung und Zerstreuung der Menschen willkürlich, erfand neue Zeichen, setzte Fremdes und Begriffsmäßiges hinzu und so haben die jetzigen Sprachformen natürlich nichts mehr von jener umfassenden, vielsagenden und lauten Sprache der Urzeiten, womit Gott, die Seher und Dichter redeten.

Hiernach ist wohl sicher anzunehmen, daß die wunderbarste Schöpfung des menschlichen Geistes ihrem eigentümlichen Wesen nach schon in der Urgeschichte der Menschheit eine große Vollkommenheit besaß, wie man denn ihre formelle Ausbildung bei allen Völkern auf der höchsten Stufe findet, noch ehe sie auf das Theater der Geschichte treten; denn das Wesentliche der Ursprachen ist nicht die Bezeichnung eines einzelnen Gegenstandes als solchen, sondern immer seine allgemeine Beziehung, den Gattungsbegriff auszudrücken, der zwar nach sinnlichen Zeichen, aber ganz abstrakt nach dem allgemeinen Verhältnisse des Raums, der Zeit, der Bewegung und Beschaffenheit gebildet ist. Bei den ältesten Völkern haben die Sprachen die größte Regelmäßigkeit und die üppigste Fülle ihres Baues, wie die Vedabücher, die Bibel, die gotische Übersetzung derselben usw. zeigen, welche alle gleichsam zum stufenweisen Verfall erst nach und nach gekommen sind, wo saute ausgelassen, Worte verändert oder preisgegeben wurden und die Endungen durch willkürliche Hilfswörter ersetzt wurden. So sind die rohesten Völker oft du ausgezeichnetsten Sprachkünstler. — Die Sprache kann daher auch keine absichtliche Erfindung sein, wie sie keine von außen mitgeteilte Erlernung ist. Sic springt fertig gebildet, wie Minerva aus Jupiters Haupt, aus dem inneren Geistesdrang und gelangt instinktmäßig, gleichsam unbewusst und mit der konsequentesten Gesetzmäßigkeit zu ihrer Ausbildung. Die unwillkürliche Gestaltung des Gedankens nach gewissen sinnlichen Zeichen ist es, was den Ursprachen den poetischen Charakter verleiht, den man in späteren Zeiten nicht einmal mehr mit künstlichen Mitteln zu erstreben im Stande ist.

Zwischen den Bildern und Lauten, und ihren Gegenständen findet eine geheime Beziehung statt, so daß oft die feinsten Nuancen in Schattierung und Takt abgebildet sind. Oft haben aber Sprachbilder auch ideale Bedeutungen, aus denen eine ganze Fülle von Sach- und Zeitvorstellungen herauszulesen sind, daß, wie bei der Seherin von Prevorst, gleichsam eine neue Welt aufgeht; daß man gar nicht fertig in der Entzifferung derselben wird, und daß daher so Etwas eine völlig unlösbare Hieroglyphe für alle diejenigen sein muß, die ihre Sprachen erst nach dem babylonischen Turmbau erlernt haben. — Die sogenannte Vollkommenheit der jetzt lebenden Sprachen der ausgebildetem Menschheit besteht demnach keineswegs in dem Wesentlichen der Sprachbildung und ihrer Bedeutungen, sondern lediglich in dem grammatischen, modifizierenden Teil der Rede, welche übrigens an Uneigentlichkeit, Mangel oder Überfluß von Bezeichnungen ebenso leiden kann, wie bei den Ursprachen nichts fehlt, nichts überflüssig, kein Laut und kein Buchstabe ohne Bedeutung ist.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1