029. Einfacher Allsinn und vorherrschender Instinkt

Einfacher Allsinn und vorherrschender Instinkt des Altertums im Gegensatz des universellen Geistes der Neuzeit.



Wie die physische Konstitution des Menschen in seiner Entwicklung und sogar der Organismus des ganzen Geschlechts in seiner Ausbreitung nach und mit seinen Außenverhältnissen sich verändert und daran sogar die abnormen Lebenszustände und die Krankheiten Anteil nehmen; so ist es nicht zweifelhaft, daß die Art zu denken und das geistige Leben im Altertum von dm jetzigen sehr verschieden gewesen sei, wovon die Religionen, Sitten und Sprachen die vollkommensten Beweise geben. Nicht unpassend hat in dieser Hinsicht auch J. J. Wagner (in seinem Werke: Religion, Wissenschaft, Kunst und Staat in ihren gegenseitigen Verhältnissen. Erlangen 1819) für das geistige Leben des Altertums das Wort Sinn, und für das der neuern Zeit das Wort Geist bezeichnet, indem das Altertum Alles, was die neue Zeit universell und frei denkt, in seinem tiefen, einfachen Sinn unfrei empfangen und geboren habe. „Der Sinn fühlt die Wahrheit von dem, was dem Geist erst durch die Konstruktion sicher wird, und was der Geist die Verhältnisse durchschauend entwickelt, wird aus dem Sinne blind und unwillkürlich, aber doch gesetzmäßig hervorspringen. Dieser Sinn der alten Welt ist gebärend, wenn der Geist der neueren Zeit zeugend ist, und jener Sinn wird von Außen befruchtet, indes der Geist der neuesten Zeit sich selbst befruchtet, und die Geburtswehen jenes gebärenden Sinnes geben solche Erscheinungen, wie sie Virgil (Aeneis VI. 77) von der kumäischcn Sibylle anführt.“ Man wird diesen Sinn vollständig begreifen, wenn man ihn, wie den Sinn der Somnambule als den einfachen Allsinn auffasst, welcher Alles und wohl auch noch mehr empfindet, als was den äußeren vielfachen sinnen zum Grunde liegt. Die äußeren Sinne zeigen uns alle nur einzelne Seiten der Dinge, welche den Massen und Figuren des Tast- und Gefühlsinns, den chemischen Qualitäten des Riech- und Schmecksinns und den dynamischen Bedungen des Ohres und Auges zukommen, und die alle in räumlichen Grenzen eingeschlossen sind, während für jenen einfachen Sinn Alles fortleitend wirkt und an Raum und Zeit nicht gebunden ist, weil ihm das Einfache und Wesenhafte der Dinge erscheint, was den äußern Verschiedenheiten zu Grunde liegt. „Durch die Lebendigkeit dieses einfachen Sinnes war das Tier dem Menschen der alten Welt näher, sagt Wagner, und verständlicher als es uns ist; denn auch den Menschen leitete wie das Tier der Instinkt, nur mit den: Unterschiede, daß des Menschen Instinkt universell und vernunftartig des Göttlichen selber empfänglich war, des Tieres Instinkt dagegen auf einzelnes und individuelles Bedürfnis gerichtet in der Dressurfähigkeit des Affen sein Höchstes erreicht.“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1