027. In alter Zeit gab es Irrtum und Wahn

Es zeigt sich indessen eine, in aller Zeit gleiche Naturanlage, und wie in der alten Zeit Irrtum und Wahn nicht fehlten, so ist das instinktive Hellsehen der neuen Zeit gewissermaßen vollkommener, aber von der Geschichte noch unerreicht.



Allein, wenn der durch die Kultur erstarkte Geist der neuem Zeit seinem Instinkt und den äußeren Natureinflüssen einen nur noch engen Spielraum läßt, und wenn die innere Sprache mehr verstummt, und er dagegen Alles mit seinem Verstände und der Wissenschaft ersetzen und ergründen will: so darf man nicht glauben, daß jene Urzeit der Kindheit eine wahre Vollkommenheit mit sich führte, so wenig, als daß jener Instinkt jetzt gar nicht mehr zum Vorschein komme, oder daß die Wissenschaft etwa auch so vollkommen wäre, ihn überall zu ersetzen und aller Gebrechen Wurzel und die rechten Mittel für dieselben anzugeben. Alle diese dem Alter und der Entwicklungszeit ungehörigen Eigentümlichkeiten sind veränderliche Größen; in allen wesentlichen Lebensfunktionen und in den in allen Sprachen sich offenbarenden Denkgesetzen zeigt sich eine allen Menschen jederzeit gleiche Naturanlage. Wie die Arten und Abarten der Menschheit im Räume als Rassenverschiedenheiten doch nur eine Einheit der Gattung sind, so stammen der Zeit nach alle von einer gemeinschaftlichen Abkunft ab. Was in der Urzeit in der Knospe verborgen durch besondere Einflüsse nur zeitweilig zum Vorschein kam, kann später gemeinsamer sich ausbreiten, aber die Blüte enthält nichtsdestoweniger auch den Lebenssaft des Stammes und der Wurzel. — In jener ersten Zeit eines noch nicht zu sich gekommenen Selbstbewusstseins verleitete der Instinkt und die Alles beherrschende Natur die Menschen auch ebenso zur Verwirrung der Sinne, wie zum Irrtum eines wahnsinnigen Götzendienstes, an dessen Altären die ängstlichen Gefühle und das Erwachen eines sündhaften Gewissens keinen rechten Trost mehr errangen. Man suchte die Laute der Natur und ihre Winke um so aufmerksamer, als man sich wie durch eine übersinnliche Hand eines Genius aufgerichtet fühlte, wo man eine ungewöhnliche Offenbarung erfuhr. Daher man jene immer mehr verhallende innere Naturstimme mit absoluter willenloser Hintangebung aller Selbstkraft, tätig nach außen aufzutreten, sogar emsig aufsuchte, um Eingebungen zu erringen, welche den bekümmerten Geist über das Land der Verwirrungen in die heimatlichen Gefilde des verlornen Paradieses versetzen sollten. So kam es, daß die geringe Ausbeute alles Sehnens und Strebens das zerfallene Geschlecht auf im verschiedensten Abwegen zu Extremen verleitete; daß hier Völker alle Zufälligkeiten des Lebens für Götteraussprüche ansahen; andere dort den Himmel anstarrten, um in dem Fluge der Vögel und im Zuge der Wolken die dunkle Zukunft zu lesen. Hier horchte man auf das Rauschen der Quellen und auf die Bewegung der Luft; dort auf das Brausen im Innern der Erde, oder auf jeden sonst wo in der Natur vernehmbaren Laut, und gleich hielt man eine solche Stelle für einen heiligen Ort einer sittlichen Naturoffenbarung. Da es immer einzelne Individuen mit einer besondern Sinnenreizbarkeit und Empfänglichkeit für gewisse Arten jener Einflüsse gab: so wählte man solche aus, die geheimen Winke der Natur zu erlauschen und sie zu allerlei Zwecken von Privatabsichten der Sektierer oder des gemeinsamen Wohls zu benutzen. Indem man andererseits bemerkt hatte, daß in dem Tagesgewirre der äußern Weltgeschäftigkeit jene Wachsamkeit des inneren Sinnes immer mehr einschlief und jenes versteckten Poeten Stimme immer stiller wurde: so glaubten viele, durch Entsagung und durch das Zurückziehen von vermenschlichen Gesellschaft würden sie die alte Wachsamkeit der Sinne wieder Minnen und der verlorenen Seligkeit teilhaftig werden, und lies würde um so besser gelingen, wenn sie nicht nur dem natürlichen Leibe den Wechselverkehr mit der Natur abschnitten, Speise und Trank verschmähend, sondern wenn seine Begierden auch durch willkürliche Kasteiungen und durch Abgeschiedenheit in den Einöden abgetötet würden. Diese Art stellte durch die ganze Geschichte herauf, bei den Indern noch heute, jene Zerrbilder der Heiligen dar, in welchen sie die Ideale der wahren Frömmigkeit und eines Gott ergebenen Wandels erblickten, und von welchen sie auch als Lebensmustern in Drangsalen für alle Nöten die prophetische Verkündigung des göttlichen Willens erwarteten. Allein je mehr man auf solche Weise durch Natur- und Selbstzwang, und mit geflissentlicher Verachtung aller Naturgesetze, jenes freie Hellsehen in das Innere der Natur und in die Zukunft der geistigen Schicksale zu schauen, zu erringen glaubte, desto mehr verstummte die wahre prophetische Orakelstimme. —


Auf der andern Seite ist das somnambule Element der früheren Zeiten auch noch nicht verstummt, und es kommt mit aller Stärke des Instinkts, wie wir sehen werden, wenn auch selten und jetzt eigentlich immer nur in abnormen Zuständen, überall teils von selbst unerwartet, teils durch die magnetische Behandlung künstlich erzeugt, zum Vorschein, und zwar mit dem großen Vorteile, daß man jetzt das Wahre vom Falschen in seinen Phasen zu unterscheiden, und mancherlei Nutzanwendungen davon zu machen versteht. — Wenn nun dabei zugleich die Wissenschaft der neuesten Zeit alle Spuren einer natürlichen Gesetzmäßigkeit auch bei diesen magischen Erscheinungen aufgefunden hat: so kann sie sich gleichwohl doch nicht rühmen, den tiefsten Grund derselben erschöpft und den ganzen Organismus der ineinandergreifenden geistigen und leiblichen Glieder ganz durchschaut zu haben. Ja, das was man philosophische Erkenntnis zu nennen pflegt, ist insbesondere im Vergleich mit den Offenbarungen des höheren Hellsehens immer noch nur ein matter Flimmerschein auf der Tiefe, der mit Widersprüchen und Irrtümern ungebührlich groß tut und ringsum immer wieder in Dämmerung und Nacht versinkt. —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Magie, Buch 1