Abschnitt 5

Drittes Kapitel
Napoleonische Strategie.


Das schönste Beispiel für dieses Verfahren ist der Feldzug von Austerlitz. Napoleon hat eine österreichische Armee bei Ulm vernichtet, hat Wien genommen und ist bis in die Nähe von Olmütz in Mähren eingedrungen, wo ihm die Russen mit ihrer Hauptmacht entgegentreten. Auf einer solchen „Pointe“ eine Offensivschlacht zu schlagen, scheint Napoleon zu gewagt, da der Feind numerisch um einiges überlegen ist. Er fängt Verhandlungen an, und als der Feind anrückt, da nimmt er Aufstellung zu einer Defensivschlacht. Er gewinnt sie (2. Dezember 1805), indem er im richtigen Augenblick aus der Defensive heraus einen Offensivstoß macht. Um ihn zu umfassen, haben die Gegner sich sehr lang ausgereckt und dadurch ein dünnes Zentrum ohne eigentliche Reserven gestaltet. Hier galt es hineinzustoßen. „Wie lange gebrauchen Sie, um jene Höhe (bei Pratzen) zu nehmen?“ fragte der Kaiser den neben ihm haltenden Marschall Soult. „20 Minuten“. „Dann wollen wir noch eine Viertelstunde warten“. Diese Viertelstunde richtig abzupassen, darauf kam es an.


Von allen Schlachtformen ist die Defensiv-Offensiv-Schlacht die wirksamste. Defensive und Offensive haben jede ihre Vorteile und ihre Schwächen. Der Hauptvorteil der Defensive ist die Auswahl des Schlachtfeldes und volle Ausnutzung des Geländes und der Feuerwaffen. Der Hauptvorteil der Offensive ist der moralische Schwung des Angriffs, die Wahl des Angriffspunktes und die positive Entscheidung. Die Defensive bringt zunächst immer nur eine negative Entscheidung. Reine Defensivschlachten werden deshalb nur sehr selten gewonnen (Crech 1346, Omdurman 1898). Das Höchste aber wird erreicht, wenn der Feldherr aus einer guten Defensive im richtigen Augenblick und an der richtigen Stelle zum Gegenstoß übergeht. Als das klassische Beispiel der Defensiv-Offensiv-Schlacht haben wir Marathon kennen gelernt. Austerlitz ist das moderne Gegenstück dazu. Sowohl in der Anlage wie in der Durchführung ist uns diese Schlacht wichtig, weil sie uns den Feldherrn zeigt in seiner Selbstbeherrschung, weil wir hier sehen, wie dieser Mann bei aller Verwegenheit doch keineswegs sich der Besonnenheit entschlug. Seine Vorsicht ging sogar so weit, daß, als das Anrücken der Gegner gemeldet wurde, er Talleyrand, der in Wien verhandelte, den Befehl gab, einen billigen Frieden zu schließen. Obgleich er sicher auf den Sieg rechnete, wollte er sich also auch für den Fall der Niederlage diplomatisch den Rücken decken.

In dem Allerverwegensten in seiner Laufbahn gehört der Übergang über die Donau, der zur Schlacht bei Aspern führte (am 21. und 22. Mai 1809). Ganz nahe dem Übergangspunkt stand auf dem Nordufer Erzherzog Karl mit der ganzen österreichischen Armee, über 100000 Mann. Auf einer einzigen, im provisierten Brücke hatten die Franzosen den mächtigen Strom zu überschreiten. Die Brücke zerriß das erstemal, als sie erst 22500 Mann hinüber hatten, und das zweitemal am nächsten Tage, morgens 8 Uhr, als einige 60000 Mann drüber waren. Aber trotz ihrer am ersten Tage vierfachen, am zweiten immer noch mehr als anderthalbfache Übermacht, gelang es den Österreichern nicht, die Franzosen in den Fluß zu werfen. Erzherzog Karl hatte noch Reserven, aber er setzte sie nicht ein. Der ganze Unterschied zwischen ihm und Napoleon tritt an diesem Punkt zu Tage. Für Friedrich den Großen existierte die Frage der Verwendung der Reserve noch nicht eigentlich, da er ja alles mit dem ersten Stoß machen wollte, diesen deshalb so stark wie irgend möglich ausstattete und keine wesentlichen Reserven zurückbehielt. Mit der neuen Taktik hatten auch die Österreicher das Prinzip der Reserven annehmen müssen, aber wie die geistige Kraft des Erzherzogs nicht ausgereicht hatte, sich zur Niederwerfungsstrategie aufzuschwingen, so hatte er auch keine rechte Vorstellung von dem Wesen und der Verwendung der Reserve. Er stellte den Grundsatz auf: „Die Reserve darf nur dann in das Gefecht gezogen werden, wenn ihre Mitwirkung ohne allen Zweifel entscheidet“. „Sie darf wohl hier und dort zum Gefecht gezogen werden, wenn es nur eines letzten Druckes zur Vollendung des Sieges bedarf; sonst ist ihr Hauptzweck stets die Versicherung und Deckung des Rückzuges“. Selbst nach diesem Grundsatz, so matt er ist, hätte bei Aspern alles hineingeworfen werden müssen, um einen möglichst vollständigen Sieg zu erringen. Es konnte keine schönere Gelegenheit geben. Dem Erzherzog fehlte dazu der Schwung. Er steckte ja noch in den Vorstellungen der Ermattungsstrategie, die dem Siege als solche keine besondere Wichtigkeit beimaßen. Nur ein Heros wie Friedrich der Große, konnte sich innerhalb solcher Vorstellungen dennoch zu den großen Herausforderungen des Schicksals erheben, die seine Schlachten uns bezeugen. Erzherzog Karl war zu klein, um das Geschenk, das die Schicksalsgöttin ihm bei Aspern lächelnd entgegentrug, zu ergreifen. Er sah immer hinter sich, so wie ihn mit unbewußter, grausamer Ironie das Reiter-Denkmal in Wien heute abbildet. Die Franzosen verteidigten mit ihrer Infanterie die beiden Dörfer Aspern und Eßlingen und hielten die Zwischenräume mit einer schwachen Kavallerie, die eine kühne Attacke über die andere machte. Napoleon selber setzte sich aufs stärkste aus und ritt die Reihen der Seinigen im Feuer entlang, um ihren Mut zu stärken. Die Österreicher zwangen schließlich ihre Gegner, auf die Donau-Insel nahe dem nördlichen Ufer zurückzugehen, aber Erzherzog Karl wagte nicht, sie dort anzugreifen oder sonstirgendwie seinen Erfolg auszunutzen. Sechs Wochen darauf hatte Napoleon sich so verstärkt, daß er den Versuch erneuern konnte, und jetzt gelang er. Schlacht bei Wagram, 6. Juli 1809. Napoleon gewann die Schlacht vermöge seiner großen numerischen Überlegenheit, indem er den linken Flügel der Österreicher umfaßte. Die großen Artillerie- und Infanteriemassen, die er im Zentrum zusammenballte, haben nicht, wie öfter angenommen wird, die Entscheidung gebracht. Mit Unrecht ist Erzherzog Karl gerühmt worden, weil er den linken Flügel der Franzosen von einer selbständigen Armee-Abteilung aus der Flanke angreifen ließ; das erscheint wie eine Vorahnung Moltkescher Schlachtenführung. Die Ähnlichkeit ist jedoch nur äußerlich. Der Angriff war zu schwach, um wirksam zu sein und der Erzherzog hatte, obgleich er Zeit genug gehabt hatte, sich auf einen neuen Donauübergang der Franzosen zu präparieren, überhaupt keinen durchdachten Schlachtplan, sondern schwankte haltlos zwischen Defensiv- und Offensiv-Gedanken hin und her.

Das eigentliche Problem der Napoleonischen Strategie ist der Feldzug von 1812. Napoleon schlug die Russen bei Borodino, nahm Moskau, mußte wieder zurück und verlor dabei so gut wie seine ganze Armee. So wäre es Friedrich ergangen, wenn er sich hätte vermessen wollen, Wien zu nehmen. Auch bei den Kräften, über die Napoleon gebot, hatte die Niederwerfungsstrategie ihre Grenze: hätte nun Napoleon besser getan, sich 1812 zur Ermattungsstrategie zu bekehren und den Krieg in Friedrichs Art zu führen? Clausewitz hat die Frage mit guten Gründen verneint und dargelegt, daß der französische Kaiser noch immer die meiste Aussicht hatte, diesen Krieg zu gewinnen, wenn er ihn nach der Methode führte, die ihm bisher noch immer den Sieg verbürgt hatte. Wie die Kräfteverteilung einmal war, konnte er aber weder mit der Ermattungs- noch mit der Niederwerfungsstrategie siegen. Er hatte im ganzen nach den neuesten Untersuchungen gegen Rußland 685000 Mann unter Waffen, eingeschlossen die Garnisonen. 612000 Mann haben die Grenze überschritten; davon kam die größere Hälfte, wenigstens 35000 Mann auf die Hauptarmee im Zentrum. Als er aber in Moskau anlangte, hatte er nur noch 100000 Mann um sich. Schon 14 Tage nach dem Übergang über den Niemen hatte er 13500 Mann verloren, fast ohne Gefechte, nur durch Desertion, schlechte Verpflegung, Krankheit. Die französische Hälfte des Heeres bestand zum größten Teil aus ganz jungen, erst 1811 ausgehobenen Leuten, unter ihnen sehr viele Refraktaires, die man auf den holländischen Inseln, wo sie nicht desertieren konnten, militärisch ausgebildet hatte. Diese Erziehung hielt aber bei dem Vormarsch durch das öde russische Land nicht stand. Die Magazinalverpflegung funktionierte nicht genügend; Napoleon hatte ihr seiner Gewohnheit gemäß wenig Aufmerksamkeit geschenkt und nicht recht in Betracht gezogen, daß das russische Gesetz nicht leisten würde, was ihm Italien und Deutschland geboten hatten. So hat er den Krieg eigentlich an der Desertion und an der Verpflegung verloren, nicht etwa an dem russischen Winter, der ihm nur den Rest der Armee aufrieb, überdies im Jahre 1812 später und milder war, als in anderen Jahren. Wäre Napoleon statt mit 100000 mit 200000 Mann in Moskau angekommen, so hätte er es wohl durchsetzen können, sich in dem eroberten Gebiet zu behaupten und der Zar hätte schließlich seine Bedingungen angenommen.

Man kann Napoleons Feldzug von 1812 vergleichen mit Friedrichs Eindringen in Böhmen 1744, wo er schließlich, ohne eine Schlacht verloren zu haben, durch bloße Wirkung auf seine Verbindungen aus dem Lande wieder verdrängt wurde und einen sehr großen Teil seiner Armee einbüßte. Er hat sich diese „Pointe“ im Feindesland selber als Fehler angerechnet, war aber imstande, im Winter seine Armee wieder aufzubauen und durch Hohenfriedberg das Gleichgewicht wieder herzustellen. Immerhin hatte Friedrich mit seiner „Pointe“ doch nur einen Feldzug der Ermattungsstrategie führen wollen und die Niederlage war deshalb nicht unverwindlich, Napoleon aber hatte viel Größeres, hatte eine volle Entscheidung angestrebt, und da ihm das mißglückt war, so war auch der Rückschlag viel schwerer. Er bestand ja nicht nur in dem Verlust der Armee, sondern ganz wesentlich auch darin, daß die beiden gezwungenen Bundegenossen, Preußen und Österreich, jetzt den Mut fanden, ihm aufzusagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4