Abschnitt 4

Drittes Kapitel
Napoleonische Strategie.


Für die Zeitgenossen waren die Leistungen der Generale Moreau und Bonaparte in ihrer Wesenheit noch nicht zu unterscheiden. Wohl sprach man von einer italienischen und einer deutschen Schule der Strategie, dort Bonaparte hier Moreau, aber man erkannte weder die eigentliche Natur des Gegensatzes, noch die absolute Überlegenheit der einen „Schule“, d.h. Persönlichkeit über die andere. Bonaparte nahm es auf sich, den Staatsstreich zu machen und wurde dadurch zum Herrn Frankreichs, aber ob er wirklich der dazu vom Schicksal Berufene und der allein Berufene sei, das war der Mitwelt noch keineswegs von vornherein bewiesen, und dieser Zweifel hat zu einem Nachspiel zu dem Marengo-Feldzug geführt, das uns auch kriegsgeschichtlich Veranlassung zu einem Anhang dazu gibt.


Als Napoleon sich 1804 zum Kaiser hatte wählen und krönen lassen, stand er ja noch in der Vorhalle seiner Größe, seiner Taten und seines Ruhmes. Sein phantastischer Zug nach Ägypten hatte mit einem Mißerfolg geendet und man konnte die Frage aufwerfen, ob er wohlgetan, seine Truppen dort im Stich zu halten. Seine Erfolge von 1796 und 1800 waren glänzend, aber Moreau stand neben ihm und die bösen Zungen zischelten, daß der Sieg von Marengo im Grunde nicht ihm, sondern dem auf dem Schlachtfelde gebliebenen Desaix zu verdanken sei. Dem zu begegnen, ließ der Kaiser einen amtlichen Bericht über den Feldzug ausarbeiten, den er selbst korrigierte und der gemäß diesen Korrekturen umgearbeitet werden mußte und die Wahrheit auf das gröblichste vergewaltigte, in dem Sinne, daß der Feldherr alles vorher gewußt und vorher berechnet habe, das zeitweilige Zurückweichen der Franzosen aber und die kritischen Momente der Schlacht unterdrückte. Für den kritischen Historiker ist mit diesen, sagen wir offen, Fälschungen der Ruhm des Feldherrn nicht erhöht, sondern gemindert. Denn es gibt keine große strategische Handlung, die nicht ein großes Wagnis, also auch einen kritischen Moment einschlösse, und das Verdienst des allenthalben und unbedingt richtigen Vorausberechnens ist entweder fiktiv oder zufällig, da solche Vorausberechnung immer nur in gewissem mäßigem Umfange möglich ist. War sich also Napoleon seines eigenen Tuns so wenig bewußt, oder narrte ihn die Eitelkeit so sehr, daß er einen Popanz aus sich machen ließ? Er wußte es besser. Er wußte, daß die wahre Größe dem Volke nicht faßbar ist. Wie das Volk die Tapferkeit sich immer am liebsten vorstellt in dem Sieg einer Minderzahl über eine Mehrzahl, so sieht es die Feldherrnkunst am klarsten verbürgt, wenn ihm bewiesen wird, daß der große Mann alles ganz genau vorher berechnet und gewußt habe. Daß die Strategie die Bewegung in einem undurchsichtigen Element bedeutet und die wesentliche Eigenschaft eines Feldherren der Wagemut ist, das ist eine Erkenntnis, die erst Clausewitz gefunden und in die Kriegswissenschaft eingeführt hat. Hätte Napoleon eingestehn lassen, wie nahe es daran gewesen, daß er die Schlacht verlor, ja, daß das Gros tatsächlich bereits geschlagen war, als Desaix spät am Abend anlangte, so würde das französische Volk nicht seine Kühnheit bewundert, sondern seinen Leichtsinn getadelt haben, der die Truppen zersplitterte und nur durch Glücksfall noch gerettet wurde. Auch die Athe ner mußten ja ihren Kindern die Größe des Themistokles von der listigen, geheimen Botschaft, durch die er den Perserkönig bei Salamis zum Angriff verführte.

Gleichzeitig mit dem General Bonaparte trat der noch um zwei Jahre jüngere Erzherzog Karl (geb. 1771) als Feldherr auf die Weltbühne. Der Erzherzog war ein theoretisierender Geist, hat schon früh neben den Degen die Feder geführt und sehr zahlreiche Schriften verfaßt. Er steht strategisch durchaus auf dem Boden der Ermattungsstrategie. Wohl verkündigt er, wie Friedrich der Große, daß man alles anwenden müsse, damit die Kriege so kurz dauerten, als es nur immer sein kann, und daß der Zweck sich, nur durch entscheidende Schläge erreichen lasse, gleichzeitig schränkt er diesen Satz aber dadurch ein, daß er lehrt: „In jedem Lande gibt es strategische Punkte, die für das Schicksal desselben entscheidend sind; weil man durch ihren Besitz den Schlüssel des Landes gewinnt und sich seiner Hilfsquellen bemächtigt.“ Und weiter: „Die entscheidende Wichtigkeit der strategischen Linien macht es zum Gesetz, sich zu keiner Bewegung, auch selbst durch die größten taktischen Vorteile verleiten zu lassen, durch welche man sich so weit oder in einer solchen Richtung von denselben entfernt, daß sie den Feinden Preis gegeben werden.“ Oder: „Die wichtigsten taktischen Maßregeln haben selten einen dauernden Nutzen, sobald sie an Orten oder in einer Direktion geschehen, die nicht strategisch sind“.

Für die Ermattungsstrategie sind diese Sätze berechtigt und zutreffend. Hier kam in der Tat sehr viel darauf an, nicht nur daß, sondern auch wo ein Sieg erfochten wurde, denn ein Sieg, den man nicht verfolgen kann, hat nur einen vergänglichen Wert, und der Verfolgung sind oft enge Grenzen gesetzt. Wir haben gesehen, wie Friedrich nach einem seiner glänzendsten Siege, bei Soor, sogar zurückging. In der Niederwerfungsstrategie ist der Sieg nicht in Abhängigkeit von dem „Punkt“, wo er erfochten wird, oder der „strategischen Linie“, auf der man sich bewegt, sondern der Feldherr nimmt an, daß er mit dem Siege auch die strategischen Punkte in seine Hand bekomme und die strategischen Linien bestimme. Grade indem Napoleon seine strategische Linie preisgab, faßte er, wie wir sofort sehen werden, die Preußen bei Jena und Auerstädt im Rücken und besiegte sie nicht bloß, sondern vernichtete sie.

Die Napoleonische Strategie ist frei von jedem Schematismus. Eine Grundform aber kehrt bei Napoleon so häufig wieder, daß sie hervorgehoben zu werden verdient. Er schiebt beim Aufmarsch seine ganze Macht auf den einen Flügel oder in die eine Flanke des Gegners, sucht ihn zu umfassen, von seiner Basis abzudrängen und ihn auf diese Weise möglichst vollständig zu vernichten. Das war sein Plan schon im Frühjahr 1800, als er mit Moreau zusammen von der Schweiz aus die Österreicher in Süddeutschland angreifen wollte. So hat er es gemacht 1805, als er die Österreicher an der Donau von Norden aus umfassend angriff und zu diesem Zweck Bernadotte von Hannover durch das Ansbachische marschieren ließ. So machte er es auch im nächsten Jahr, als er die Preußen in Thüringen angriff, nicht in der Richtung vom Rhein her, sondern vom oberen Main aus; er umging sie so vollständig, daß die Schlachten bei Jena und Auerstädt mit verkehrter Front geschlagen wurden: die Preußen mit dem Gesicht, die Franzosen mit dem Rücken gegen Berlin. Wären die Franzosen in dieser Aufstellung geschlagen worden, so hätten sie einen noch schlechteren Rückzug gehabt als die Preußen; sie hätten, gegen das Erzgebirge und die österreichische Grenze gedrängt, vernichtet werden können. Aber seines Sieges gewiß, wagte Napoleon es daraufhin und konnte nun die von ihrer Basis abgedrängte preußische Armee auf ihrem Rückzug vollständig aufreiben.

Der preußische General v. Grawert soll die Operation Napoleons 1806 richtig vorausgesagt und sie dahin ausgelegt haben, „daß der Feind unseren linken Flügel umgehe und uns von der Elbe, von allen unsern Hilfsquellen, d.h. von der Oder, von Schlesien abschneiden werde“. Man kann den Unterschied zwischen der älteren und neueren Strategie nicht besser charakterisieren, als durch den Vergleich dieser Auslegung mit der wahren Absicht Napoleons. Grawert hat alles richtig gesehn im Sinne der Friderizianischen Strategie. Napoleon aber lag gar nichts an dem „Abschneiden“ von den „Hilfsquellen“, was die preußische Armee zurückmanövriert und ihm ein Stück Land überliefert haben würde, sondern er legte sich auf die Rückzugslinie der Preu?en, um sie selber abzufangen.

Auch Napoleons Plan für den Herbstfeldzug 1813 gehört hierher. Er wollte sich mit seiner Hauptmacht zunächst dem böhmischen und schlesischen Heer gegenüber defensiv verhalten, bis die Nordarmee unter Bernadotte geschlagen und das Land bis Danzig in seiner Hand war. Dann sollte die große Offensive in der Richtung von Norden nach Süden einsetzen, die die Russen von der Verbindung mit ihrem Lande abdrängte. Der Plan scheiterte, weil die Nordarmee, von Bernadotte vorsichtig, aber wohlüberlegt geführt, die französischen Heere bei Groß-Beeren und Dennewitz zurückschlug.

Erst seit dem Wiederausbruch des allgemeinen Krieges im Jahre 1805 ersteigt Napoleon die volle Höhe nicht nur seines Ruhmes und seiner Größe, sondern auch seiner Strategie. Die Unordnungen der Revolution sind überwunden; die große Masse, der patriotische Geist, die neue Taktik sind in Disziplin genommen; der Kaiser Napoleon ist in der Lage, unbehindert von anderen Potenzen auszuführen, was er für richtig erkannt hat.

Das eigentliche Geheimnis des großen Feldherrn ist die Vereinigung von Kühnheit und Vorsicht. Wir finden sie bei Alexander, wenn er, ehe er den Feldzug in das innere Persien antritt, sich erst den Rücken deckt durch die Eroberung von Tyrus und Ägypten und sein Heer wesentlich verstärkt. Wir finden sie bei Hannibal, wenn er statt der Belagerung von Rom sich die Loslösung der italienischen Bundesgenossen von der Kapitale als Ziel setzt. Wir finden sie bei Scipio, wenn er es zwar auf die Entscheidungsschlacht ohne Rückzug ankommen läßt, aber vorher die Verstärkung durch Masinissa heranzieht. Wir finden sie bei Cäsar, der sich erst gegen das Heer ohne Feldherrn und dann gegen den Feldherrn ohne Heer wenden will. Wir haben sie gefunden bei Gustav Adolf und Friedrich. Wir finden sie auch bei Napoleon. So verwegen er das Schicksal immer wieder herausfordert, so stürmt er doch keineswegs ins Grenzenlose, sondern weiß, wo er Halt machen muß, fällt aus der Offensive in die Defensive, läßt es darauf ankommen, ob der Feind seinerseits ihn angreifen wird und sucht zugleich seinen Sieg durch Politik zu ergänzen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4