Abschnitt 4

Zweites Kapitel
Die Revolutionsheere.


In Preußen dachte man natürlich ebenso. Sehr anschaulich sind diese Gedankengänge dargelegt in einer Denkschrift, wohl aus dem Jahre 1800, die General von FRANSECKY in einer Arbeit über Gneise nau 1856 (Beih. z. Milit. Wochenbl. S. 63) veröffentlicht hat. Hier heißt es: ‚Das Tiraillieren ist unter allen Fechtarten die natürlichste, d.h. sie entspricht dem Erhaltungsinstinkt in uns am allermeisten; daraus folgt keineswegs, daß sie die zweckmäßigste sei, wie Einige haben beweisen wollen. Der Krieg selbst ist ja der menschlichen Natur entgegen, ihn derselben übereinstimmender machen, heißt, ihn unkriegerisch machen, und das kann wenigstens kein Gegenstand der Kriegskunst sein. Es sagte einst Jemand sehr wahr: „das Tiraillieren nährt den natürlichen Hundsfott, der, wenn wir aufrichtig sein wollen, doch in uns allen steckt; und diesen muß man zu unterdrücken suchen.‘ Hier hören wir eine Menge Stimmen verwirrt sich durch einander gegen uns erheben. Die Großthaten der Französischen Armee! ruft man uns entgegen; die Verwegenheit ihrer Tirailleurs; ihre Stürme in geschlossener Kolonne in den Schlachten Italiens! beweisen alle diese nicht das Gegentheil? Wir antworten darauf ganz gelassen: für uns nicht. Wie viele Hochachtung wir auch für die Erfahrung haben, so halten wir doch viel zu wenig von dergleichen allgemeinen Citationen, um dabei unsere gesunde Vernunft gefangen zu nehmen. Diese aber lehrt uns, daß ein Mensch, der gewohnt ist, immer irgend eines Schutzes gegen die Gefahr zu genießen, furchtsam sein wird, wenn er, dieses Schutzes beraubt, ihr entgegen gehen soll. Wir wollen doch das Gewirr dieser Stimmen zu entwirren suchen, um zu sehen, was wir darauf zu antworten haben. Die, welche uns die französischen Großthaten entgegenrufen, wollen wir daran erinnern, daß die Franzosen in dem Feldzug von 93 eben so gut als 94, und in dem von 99 eben so gut als 1800 und daß sie aus Schwaben sich eben so gut heraus als hineintiraillirt haben. Man muß dergleichen Trivialitäten sagen, wenn man sieht, daß man diese Fakta nicht mehr denkt oder nicht mehr denken will. Über die Verwegenheit der Französischen Tirailleurs, wenn es anders eine wirkliche Verwegenheit ist, wollen wir folgendes bemerken. Jede Art von Gefahr hat ihre eigene Art von Muth. Der Holländer kann nicht begreifen, wie man seine Gebeine dem ungezähmten Mut eines wilden Rosses anvertrauen könne, dagegen befährt er mit der größten Gelassenheit die stürmischen Wellen des Ozeans. Ein in Reih und Glied zu stehen gewöhnter Mann wird sich ganz gewiß nicht so keck unter die Kanonen einer Festung heranschleichen, wie ein französischer Tirailleur, er wird sich besonders vor der Gefahr, gefangen genommen, oder von Kavallerie niedergehauen und geritten zu werden, fürchten; dagegen wird ein Tirailleur, des gewohnten Schutzes seiner Hecken, Gräben, Löcher usw. beraubt, meinen, es sei nichts anderes zu thun, als davon zu laufen, und jenen Schutz zu suchen.“


„Allein dieser Mangel an Muth, welcher aus gegenseitiger Unbekanntschaft mit der Gefahr entspringt, würde noch nicht beweisen, was wir oben behauptet haben, daß das Tiraillieren den Muth überhaupt, oder vielmehr die Verachtung der Gefahr schwächt. Um hiervon zu überzeugen, geben wir folgendes zu bedenken. Wenn der Tirailleur immer dreister wird, so kommt dies daher, weil er einsehen lernt, die Gefahr ist nicht so groß als er sich gedacht hat; und weil er täglich listiger und reicher mit Hilfsmitteln wird. Es wächst also nicht seine Verachtung der Gefahr, sondern er lernt sie bloß geschickt bekämpfen. Da, wo er dies nicht kann, wo er ihr nichts als die Verachtung derselben entgegenstellen kann, da wird es sich zeigen, wie sehr der natürliche Hundsfott indeß in ihm genährt und gewachsen ist.“

„Was endlich die Italienischen Schlachten betrifft, in denen die Franzosen unsern eben gemachten Folgerungen so ganz entgegen, mit außerordentlicher Verachtung der Gefahr, in geschlossenen Angriffen unbedeckt dem Tode entgegen gingen, so ist darauf folgendes zu antworten. Erstens, kennen wir diese Gefahren viel zu wenig, um zu wissen, welchen Grad von Muth und Tapferkeit die Franzosen dabei gezeigt, und welchen Widerstand sie zu überwinden gehabt haben. Alle Beschreibungen dieser Gefechte sind reich an pomphaften Tiraden und arm an Detail. Im allgemeinen muß man den Muth, welchen die Truppen gegenseitig im Gefecht bewiesen haben, nach der Anzahl der Todten und Verwundeten abmessen, und da ist nach sehr bekannten Resultaten der Französische Revolutionskrieg in keine Vergleichung mit dem siebenjährigen Kriege zu stellen. Zweitens, es ist hier nicht von jenem ungestümen Muth die Rede, der die Menschen beim Chock wie eine Art von Leidenschaft beseelt, und der eine natürliche Aussteuer der Franzosen ist, weil sie lebhafter sind, als andere Nationen: sondern von der kalten Verachtung der Todesgefahr, die im anhaltenden Gefechte Ordnung und Ausdauer erhält, und die wir bei den alten Spanischen Banden in der Schlacht von Rocroy, und bei dem von Leopolds Geist gebildeten Preußischen Heere bei Mollwitz in einem so ausgezeichneten Grade finden. Unser Resultat steht daher fest.“

„Der Tirailleur verliert durch die Gewohnheit seiner Fechtart den Muth, welcher zum geschlossenen Gefecht erfordert wird. Hieraus folgt, daß Linieninfanterie nie tirailliren muß, wenn sie nicht von ihrer Brauchbarkeit als Linieninfanterie verlieren soll.“

„Diejenigen, welche das Tirailliren einführen wollen, behaupten, man könne in einem durchschnittenen Terrain nicht anders als tiraillirend fechten. Hier liegt ein Hauptirrtum zum Grunde.“

„Wenn man mit einem Bataillon, welches nie tirail lirt hat, sondern sklavisch an seine Rotten hält, durch ein Holz, es sei so dicht als möglich, geht, um den Feind durch den Anlauf anzugreifen, so kann man nicht in Reih und Glied marschiren, wie sich das von selbst versteht, sondern müssen beide sich etwas öffnen, und die Leute einzeln durchgehen. Heißt das nun tiraillieren? – Keineswegs! Will man denn in diesem Augenblick tirailliren? Noch viel weniger? Geht denn hier das Wesen des geschlossenen Angriffs verloren? Auch nicht! – Man will auf den Feind anlaufen und ihn umrennen, wie dies eigentlich bei allen Angriffen der Fall ist. Ein Bataillon, welches in der schönsten Ebene eine Batterie stürmt, wird wahrhaftig nicht bis auf den letzten Augenblick in Reih und Glied bleiben, darum bleibt doch der Geist des geschlossenen Angriffs.

Muß man mit Linien-Infanterie nicht tirailliren, so braucht man derselben das Tirailliren auch im Frieden nicht zu lehren, ja man muß es ihr nicht lehren, aus eben dem Grunde, warum man es im Kriege da nicht erlauben muß, wo es, als Maßregel betrachtet, wenigstens unschädlich sein könnte.“

„Es ist wahrlich kein Wunder, wenn die französischen Tirailleurs, so wie sie zu Hunderttausenden sich aus dem Innern des Reichs ergossen, unter alten Grundsätze mit hinweggeschwemmt haben. Allein man darf wohl vor so einer Erscheinung erschrecken und ein wenig den Kopf verlieren, man muß doch aber zu sich selbst kommen, wenn man ein Mann heißen will.“

Nach ihren Niederlagen kamen auch die alten Mächte zu besserer Einsicht und nahmen die neufranzösische Fechtweise an. Auch bei ihnen hatte es ja schon in den leichten Truppen und den den Kompagnien zugeteilten Büchsenschützen Ansätze dazu gegeben und hier vollzog sich nun die Fortbildung naturgemäß auf dem Wege neuer, reformierter Reglements, zuerst bei den Österreichern, 1806, dann in Preußen 1809 und 1812. Wären zufällig nur die französischen und preußischen Exerzier-Reglements erhalten, so würde man glauben, den urkundlichen Beweis in Händen zu haben, daß die Tirailleur-Taktik im Jahre 1812 von den Preußen erfunden worden sei; und man würde das um so eher glauben, wenn jemand aufspürte, daß schon im Jahre 1770 Friedrich der Große in seiner Schrift „Eléments de castrametrie et de tactique“ vorgeschrieben hat, daß beim Angriff der ersten Staffel der Linie ein Tirailleur-Treffen von Freibataillonen vorangehen solle, und daß der große König noch kurz vor seinem Tode die Errichtung von Bataillonen leichter Infanterie verfügt hat. In Wirklichkeit sind diese Freibataillone nicht bestimmt, positiv zu wirken, sondern nur das feindliche Feuer auf sich abzulenken und die leichte Infanterie haben wir kennen gelernt nicht als eine reformierte Infanterie, sondern als eine Nebenwaffe. Um die neue Taktik zu schaffen, dazu gehörte der neue Staat. Die zufällig erhaltenen Einzelnachrichten können immer dann erst als beglaubigt angesehen werden und ein richtiges Bild geben, wenn man feststellen kann, daß sie sachlich mit der Gesamtrichtung der Entwickelung in Übereinstimmung sind. Auf dem Gebiete der Geschichte der Kriegskunst ist diese Methode der Kritik von besonderer Bedeutung. Was ist die Forschung hier genarrt worden durch jene Angabe bei Livius (VIII, 8), daß die Römer schon in uralter Zeit verstanden hätten, sich in ganz kleinen taktischen Körpern zu bewegen und zu fechten, oder durch jene zufällig erhaltenen Kapitularien aus den letzten Jahren Karls des Großen, aus denen man schließen zu müssen glaubte, daß damals das Lehnswesen eingeführt worden sei! Auch umgekehrt, negativ kann man diese Analogien anrufen. Die tiefgreifende Abwandlung, die die antike Taktik erfahren hat, war der Übergang von dem Massendruck der Phalanx in die Treffenaufstellung im Fortgang des zweiten punischen Krieges. Aber Polybius, der Zeitgenosse der Scipionen, erzählt uns davon so wenig, wie Hoyer, der Zeitgenosse Bonapartes, von der Umwandlung der Linear-Taktik in die Tirailleur-Taktik, obgleich wir den einen wie den andern als fachmännisch gebildeten Beobachter von hohem Range anerkennen müssen. Auch über den Ursprung des Lehnswesens entbehren wir einer quellenmäßigen Erzählung. Mit dem Übergang der römischen Legionen im dritten Jahrhundert der Kaiserzeit ist es nicht anders. So grundstürzend derartige Abwandlungen sind, so vollziehen sie sich doch in gewissen Übergängen, die sie den Augen der Zeitgenossen verbergen und die Zufälle bei der fragmentarischen Erhaltung der Traditionen oder Mißverständnisse eines fachunkundigen Erzählers (wie Livius) bringen dann Wirrnisse hervor, die die Kritik erst in der Arbeit von Generationen aufzuräumen vermag.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4