Abschnitt 1

Erstes Kapitel.
Revolution und Invasion.


Nach dem Abschluß des Siebenjährigen Krieges verfielen die politischen Gebilde Europas in eine Art Erstarrung. Das ungeheure Ringen der sieben Jahre hatte ohne territoriale Veränderung in Europa und ohne Abwandlung in den Machtverhältnissen geendet. Die Mächte hatten erkannt, daß sie sich gegenseitig nichts anzuhaben vermöchten. Man suchte sich ohne Waffenentscheidung zu verständigen. Die erste polnische Teilung, die Westpreußen, Galizien und große östliche Grenzgebiete von Polen losriß, vollzog sich vermöge diplomatischer Verhandlungen. Was von der Politik gilt, gilt auch von der Strategie und vom Kriegswesen im allgemeinen. Wir haben gesehn, wie Friedrich der Große schon während des Siebenjährigen Krieges sich immer mehr dem Manöverpol näherte. Während der beiden letzten Feldzüge 1761 und 1762 und ebenso im bayerischen Erbfolgekrieg 1778 hat er keine Schlacht mehr geschlagen, 1762 obgleich er die numerische Überlegenheit, 1778 obgleich er etwa gleiche Kräfte mit dem Gegner hatte. Die Theorie ging denselben Weg. Man glaubte, von der Schlacht-Entscheidung ganz absehen zu können und bildete die reine Manöver-Methodik aus, wie sie ja auch schon früher hier und da angeraten war.


Fäsch, Regeln und Grundzüge der Kriegskunst, I, 213 (1771) zitiert aus Turpin de Criffé: „Ein General muß sich niemals zu einer Schlacht zwingen lassen, und solche nicht ohne Not liefern. Wenn er sich aber dazu entschließt, so muß er die Absicht haben, das Menschenblut vielmehr zu schonen, als solches zu vergießen.“

Der sächsische Hauptmann Tielcke lehrt (1776), daß nicht allein die Sitten durch die Wissenschaften verfeinert werden, sondern „daß, jemehr die Taktik ihre wahre Höhe und Vollkommenheit erreichen wird und die Offiziers in selbiger Einsicht und Stärke erlangen, je seltener werden die Schlachten, ja die Kriege selbst werden“.

General Lloyd, ein Engländer, der im französischen, preußischen, österreichischen und russischen Heer gedient, und das erste zusammenfassende und räsonnierende Werk über den Siebenjährigen Krieg verfaßt hatte, schreibt (1780): „Kluge Generale werden immer eher diese (Kenntnis des Landes, der Wissenschaft der Stellungen, des Lagerwesens, der Märsche) zur Grundlage ihrer Maßregeln machen, als die Sachen auf den ungewissen Ausgang einer Schlacht ankommen lassen. Wer sich auf diese Dinge versteht, kann Kriegsunternehmungen mit geometrischer Stren ge einleiten und beständig Krieg führen, ohne jemals in die Notwendigkeit zu kommen, schlagen zu müssen“). Lloyd war keineswegs etwa ein nicht weiter beachtlicher, unbedeutender Mann. Er legt z.B. sehr gut dar (I, 320), daß der einzig vernünftige Zweck alles Manövrierens sei, an einem Punkt mehr Leute ins Feuer zu bringen als der Feind.

Auch der geistreiche französische Militär-Schriftsteller Graf Guibert, der vielgelesene Werke über Taktik schrieb, von König Friedrich sehr freundlich aufgenommen wurde und 1773 den preußischen Manövern beiwohnen durfte, soll 1789 geschrieben haben (ich habe die Stelle jedoch nicht auffinden können), die großen Kriege seien zu Ende und man werde keine Schlachten mehr erleben.

Da der Krieg mit Manövrieren geführt werden sollte, so suchte man nach Grundsätzen, Regeln und Rezepten für diese Kunst. Man machte geographische Studien, um festzustellen, wo Stellungen zu finden seien, die für den Feind schwer angreifbar und zugleich für die Zufuhr der Bedürfnisse des eigenen Heeres gut zugänglich seien. Besonders vorteilhafte Stellungen dieser Art oder Festungen nannte man Schlüssel des Landes. Man stellte fest, daß Ströme oder Gebirge innerhalb der Länder „Abschnitte“ bildeten, an denen ein operierendes Heer sich erst sammeln müsse, ehe es sie überschreite. Man übertrug Formen und Regeln der Taktik und des Festungskrieges auf die Strategie. Die Länder wurden betrachtet wie Courtinen und Bastionen einer Festung und etwa der Satz, daß eine Truppe sich hüten muß, im Gefecht im Rücken angegriffen zu werden, auch auf die Strategie angewandt, wo unter Umständen das gerade Gegenteil gilt, nämlich dann, wenn die Möglichkeit vorliegt, den Feind auf der einen Seite zu schlagen, ehe er von der anderen Seite heran ist und eingreifen kann, während taktisch ein Angriff im Rücken sich stets unmittelbar geltend macht und so weit wirkt, wie die Kanonen und das Gewehr schießen. Da es im Kampf vorteilhaft ist, höher postiert zu sein als der Gegner, deduziert man daraus das strategische Prinzip, daß das Innehaben der Wasserscheiden von ausschlaggebender Bedeutung sei. Man nannte das Gebiet, aus dem ein operierendes Heer seine Bedürfnisse bezieht, seine Basis und suchte festzustellen, wie sich die Operation zu der Basis zu verhalten habe. Die einfache Wahrheit, daß, je näher das Heer seiner Basis ist, es sich desto leichter versorgt habe, wurde in gelehrte mathematische Formeln gekleidet. Die Linie, die von der Basis über das eigene Heer zum feindlichen führt, wurde Operationslinie genannt; wenn man die Spitze des operierenden Heeres mit den Endpunkten seiner als Linie gedachten Basis verbindet, so gibt das ein Dreieck; willkürlich, aber sehr bedeutsam klingend war es dann, wenn gelehrt wurde, die Entfernung des Heeres von seiner Basis dürfe nicht weiter sein, als daß der Winkel an der Spitze höchstens einen Winkel von 60° (keinen spitzeren) bilde.

Die „Geschichte der Kriegskunst“ von Joh. Gottfried Hoyer (1797), die im Übrigen als historisches Werk sehr wertvoll ist, kennzeichnet die Auffassung der Zeit dadurch, daß sie, in einem Sammelwerk über die „Geschichte der Künste und Wissenschaften“ als Unterabteilung der „Mathematik“ ausgegeben wurde. Die Kriegskunst wurde aufgefaßt als die praktische Anwendung gewisser von der Theorie festgestellter mathematischer Gesetze.

Der letzte Ausläufer dieser Richtung ist Dietrich Heinrich von Bülow, ein Bruder des späteren Generals Bülow von Dennewitz. Er zog die letzte Konsequenz aus dem Wesen der Manöver-Strategie, indem er feststellte, daß das Objekt der Operationen nicht das feindliche Heer, sondern dessen Magazine seien. „Denn die Magazine sind das Herz, durch dessen Verletzung man den zusammengesetzten Menschen, die Armee, zerstört“. Durch strategische Manöver in den Flanken und im Rücken des Feindes könne man jeden Sieg, den dieser mit den Waffen erfechte, unkräftig machen. Da man bei dem Fußvolk bloß schieße und die Schußlinien alles entscheiden, kommen die moralischen und physischen Eigenschaften nicht mehr in Betracht. „Denn ein Kind kann einen Riesen erschießen“.

So absurd die letzten Sätze sind, so ist doch immer zu beachten, daß der Grundbegriff, die reine Manöver-Strategie, das tatsächliche Ergebnis der voraufgehenden Kriegsepoche gewesen war, und daß diese systematisierenden Schriftsteller doch auch einige Begriffe geschaffen haben, wie „Operationslinie“ und „Basis“, die sich als sehr praktisch erwiesen haben und von den Kriegstheoretikern beibehalten worden sind.

Das seelenlos gewordene Kriegswesen, dessen Exponenten jene Schriftsteller sind, erzeugte auch jene Generale, wie Saldern, der Erwägungen darüber anstellte, ob die Infanterie in der Minute besser 75 oder 76 Schritt mache, oder Tauentzien, der mitten im Revolutionskrieg, 1793, verordnete: „Der Zopf muß hinten an den Schoß gehn und der Degen hoch über der Hüfte; zwei Hammelpfoten (Locken) mit einem Tuppé in der Frisur.“

Nach Hoyer hat das preußische Heer im Revolutionskriege insofern noch einen Fortschritt gemacht, als es von der dreigliedrigen Aufstellung der Infanterie zu der noch dünneren zweigliedrigen überging, aber eine wirkliche Schlacht haben die Preußen in den drei Jahren dieses Krieges – wenn schon mehrfach gefochten worden ist – nicht geschlagen. Wie wenig man von dem Heranwogen der neuen Zeit ahnte, erhellt nicht zum wenigsten daraus, daß mehrere von den angezogenen Werken erschienen, als sie eigentlich schon da war: Hoyers Geschichte der Kriegskunst 1797, Bülows „Geist des neueren Kriegssystems“ 1799.

Erst drei Jahre war es her, seit der große Preußenkönig verschieden war, als in Frankreich die große innere Bewegung ausbrach, die allmählich ganz Europa in ihren Strudel ziehen sollte. Den Ausschlag für den Sieg der Revolution gab der Abfall der Armee, ihr Übertritt von der königlichen auf die republikanische Seite, und dieser Sieg der Revolution hat wiederum nicht nur den Charakter der Armee, sondern auch die Taktik und schließlich die Strategie von Grund aus verändert und eine neue Epoche in der Geschichte der Kriegskunst heraufgeführt.

Die wiederholten Niederlagen der französischen Armee im Spanischen Erbfolgekriege haben ihr Gefüge doch noch nicht wesentlich erschüttert und Frankreich hat unter Ludwig XV. noch den größen äußeren Erfolg der Einverleibung Lothringens davongetragen. Dann machte es noch zweimal einen gewaltigen Anlauf, gleichzeitig zur kontinentalen Hegemonie emporzusteigen und in Amerika und Indien den Engländern die Kolonialherrschaft streitig zu machen. Das erstemal im Bunde mit Preußen, das zweitemal im Siebenjährigen Kriege im Bunde mit Österreich. Beide Male erfolglos. Die Armee war zahlreich und gut ausgerüstet; den Führern fehlte es auch nicht an persönlicher Tapferkeit und Geschick. Aber den ganz großen Entschlüssen, wie sie die Strategie verlangt, waren die Hofgenerale, die im Siebenjährigen Kriege die französische Armee kommandierten, nicht gewachsen. Ich glaube, man darf sagen, daß das Studium der Feldzüge des Siebenjährigen Krieges auf dem westlichen Kriegsschauplatze eine sehr gute Vorschule ist für das Studium der Genesis der französischen Revolution. Nicht in dem Sinne, als ob ungeheuerliche Mißbräuche oder Pflichtwidrigkeiten in der herrschenden Schicht und bei den leitenden Persönlichkeiten zu Tage träten. Der Hof und die Generale, so exklusiv adlig sie dachten, waren doch vorurteilslos genug, die wichtige Stelle des Generalintendanten der Armee einem bürgerlichen Beamten anzuvertrauen, Du Verney, dem Sohne eines Schankwirts, der, wenn auch über ihn geklagt wird, doch offenbar viel geleistet hat. Aber es sind allenthalben nur kleine Geister an der Spitze, und die Heerführung wird gehemmt durch persönliche Intrigen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4