Geschichte der Juden in Sachsen - 11

Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland
Autor: Levy, Alphonse (1838-1917) deutsch-jüdischer Publizist, trat für die jüdische Gleichberechtigung ein und bekämpfte den Antisemitismus, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Juden, Judentum, Sachsen, Judenverfolgung, Mittelalter, Deutsche, Menschenrechte, Bürgerrechte, Staatsbürger, Religion, Glaubensgenossen, Heimat, Antisemitismus
Milder als Johann Georg IV. zeigte sich der 1694 auf den sächsischen Thron gelangte Churfürst Friedrich August 1. (August der Starke), welcher nach seinem Übertritte zur katholischen Kirche 1697 auch zum König von Polen gekrönt wurde. Bereits am 12. Februar 1696 hatte dieser Fürst dem Rate zu Leipzig befohlen, seinem Hofjuden Berend Lehmann aus Halberstadt und dem hannoverschen Hofjuden Leffmann Berentz sowie den beiden Söhnen des letztgenannten in Messezeiten freie offene Gewölbe zu gestatten und von ihrer Ware nicht mehr Steuern zu verlangen, als andere Kaufleute gaben. Erst nach wiederholter Einschärfung schenkte jedoch der Rat zu Leipzig diesem Churfürstlichen Reskript Beachtung. Als der Churfürst dem Rate zu Leipzig am 6. April 1698 die Anordnung zugehen ließ, der Judenschaft während der Messe zu gestatten „ihren Gottesdienst in ihren Logiamentern zu verrichten und ihre Leichen gegen Zahlung von 12 Thalern unbehindert abzuführen," wurde der Leipziger Rat dagegen am 10. Juni 1698, unter Berufung auf das uralte Herkommen, ernstlich vorstellig. Da das Oberkonsistorium und der Geheimrat im Jahre 1699 denselben Standpunkt wie der Rat zu Leipzig vertraten und auch die Stände die Abstellung des jüdischen Gottesdienstes während der Messezeiten verlangten, gab Friedrich August I. schließlich nach und entschied am 14. Dezember 1703 in diesem Sinne. Ein am 4. Januar 1704 erlassenes Churfürstliches Patent verbot den Juden, „ihren Gottesdienst | wie sie sonst in Mess-Zeiten getan hatten | zu halten."*) Die Leipziger Messe und die Nähe Böhmens führte immer wieder vereinzelte Juden durch Dresden. Daselbst hielten sich im Jahre 1704 aber nur drei böhmische Juden dauernd auf. Jochim Zschie aus Raudnitz, Elias Nicolsberg aus Prag und Simon Nasse aus Teplitz. Trotzdem beklagten sich im Jahre 1705 die Dresdner Krämer und Handelsleute über „aufhältliche" Juden und deren Handel. Die Krämer erinnerten in ihrer Beschwerdeschrift den Churfürsten von Sachsen daran, dass sein Vorfahr Johann Georg IV. im Jahre 1693 die Aufnahme von Juden verboten habe, dass sich sonst kein Jude außerhalb der Neu- und Altdresdner Jahrmärkte in Dresden aufhalten durfte — und dass sie jetzt, 1705, fast täglich auf allen Gassen und Straßen herumlaufen und ihren Handel öffentlich und ohne Scheu treiben. „Unterstehen sie sich doch," heißt es da weiter, „ordentliche Logiamenter gegen Entrichtung jährlichen Zinses zu mieten, ja gar Gewölbe und Niederlagen einzurichten und mit Waren und Jubelen zu handeln, als ob sie angesessene Bürger wären." Und „sämtliche Verwandte der Gold- und Silberinnung allhier" beschwerten sich gleichzeitig darüber, dass die Juden gute Groschen und Thaler auswechseln, auch Silberwerk aufkaufen."**)

*) Leipzigisches Geschicht-Buch Oder Annales etc. ed. M. Joh. Jacob Vogel, Leipzig 1714, S. 957b
**) Emil Lehmanns „Gesammelte Schriften" 1899, S. 40.


Über jene mit der Religionsveränderung des Herrschers offenbar zusammenhängenden widerspruchsvollen Verhältnisse sagt Sidori: „Während die Stände ihre Aufmerksamkeit verdoppeln zu müssen glaubten, weil sie nur als die Wächter der Landesreligion sich betrachteten, die stets den Kampfplatz gegen Andersglaubende zu behaupten hätten, ward die Regierung immer nachsichtiger gegen die Ansässigkeit der Juden. Eine Familie Lehmann war die einzige, welche diese Duldung gegen den Anfang des 18. Jahrhunderts zuerst in Anspruch nahm.*) Dazu wurde diese Familie dadurch ermächtigt, dass der 1659 in Halberstadt geborene Berend Lehmann, welcher vorher schon durch den Oberhoffaktor Liepmann in Hannover mit mehreren andern deutschen Fürsten Geldgeschäfte abgeschlossen hatte, in die Lage gekommen war, auch dem sächsischen Churfürsten Friedrich August I. (August dem Starken) wichtige Dienste zu leisten. Lehmann beschaffte nicht nur die zur Erlangung der polnischen Krone, sondern auch die zur Krönung in Warschau erforderlichen Geldmittel. Zu diesem Zweck vermittelte er den Verkauf der Erbvogtei Quedlinburg an Brandenburg für 340.000 Thaler im Jahre 1697. In einem Briefe der Gräfin Königsmark drückte diese sich unwillig über den „Monsieur Lehmann" aus und beklagte, „dass ein Jude das Geschäft gemacht.“ **) Nach einer Behauptung Vehses hat aber Lehmann nicht nur 1697 den Verkauf Quedlinburgs vermittelt, sondern auch 1706 die Anleihe beschafft, welche nach dem Einfall des Schwedenkönigs Karl XII. in Sachsen dringend gebraucht wurde.***) Anlässlich seiner Geldvorschüsse und der Wiedereinlösung des Amtes Borna wird der Hofresident Berend Lehmann in den Akten des Landtages vom Jahre 1708 ausdrücklich erwähnt. Von der guten Meinung des Königs zeugt der ganze Ton des Schreibens, †) in welchem der sächsische Churfürst und König von Polen am 23. September 1707 vom Statthalter und Geheimrat ein Gutachten über die von seinem Residenten Berend Lehmann und dessen Familie für Dresden und Leipzig erbetene Niederlassung forderte. In diesem Schreiben rühmt der König die „treuen Dienste" Lehmanns, sowie „sein treues und billiges Gemüt."

*) Sidori, Geschichte der Juden in Sachsen, S. 55, 56.
**) Gretschel, Gesch. d. sächs. Volks und Staats II. S. 575
***) Vehse, Gesch. d. Höfe des Hauses Sachsen, V. S 137.
†) Emil Lehmann, Der polnische Resident Berend Lehmann. S. 13.


Eben so wohlwollend lautete der vom König am 27. März 1708 vollzogene Schutzbrief, unter dessen Ägide auch Berend Lehmanns Schwager und Bevollmächtigter, Jonas Meyer aus Hamburg, und Berend, Lehmanns ältester Sohn, Hoffaktor Lehmann Berend aus Halberstadt mit Familie und Dienerschaft nach Dresden zogen. „Die Entstehung dieses Schutzbriefes", schreibt der Nachkomme Berend Lehmanns, Emil Lehmann, „gibt ein bezeichnendes Zeitbild. Die Akten melden sie getreulich. Der Kabinettssekretär August des Starken berichtet in denselben, er habe diesen Schutzbrief „auf vielfältiges Anregen des Residenten Lehmann und auf hohe Erinnerung" des Königs „endlich" entworfen. Aber Geh. Rath von Hoymb habe Bedenken getragen, ihn zu signieren. Er wolle sich vorher mit den beiden Vorsitzenden Kabinettsministern vernehmen. Dies geschah. Se. Exzellenz stand an, die (zu) besorgende künftige Verantwortung allein über sich zu nehmen." Die Minister beschlossen, dem König vorzustellen, er möge sich die Sache anderweit überlegen. „Der König verblieb aber demunerachtet bei seiner Resolution." Da geriet man auf das Auskunftsmittel: das Konzept vom König selbst signieren zu lassen, nachdem ihm zuvor nochmals dagegen Vorstellung gemacht worden war. Der Kabinettssekretär erzählt nun, wie er dem König das Konzept des Schutzbriefes vorlegte und ihm dagegen vorstellig machte, dass, weil sich die Gold- und Silberarbeiter-Innung hier über die Juden und deren Aufkauf des ausgebrannten und gebrochenen Goldes und Silbers beschwert, es wohl nötig sein dürfte, dem Juden Lehmann einen Revers abzufordern, damit er die Freiheit nicht missbrauche. ,,Der König hat aber" — berichtet der Kabinettssekretär wörtlich — „das Konzept dennoch signiert, zugleich aber befohlen, man solle mit Lehmann deswegen reden und zu dem vorgeschlagenen Revers anhalten." In der Tat trägt das Konzept des Schutzbriefes die eigenhändige Randbemerkung August des Starken: „fiat Augustus Rex.“ Unter dem Konzept steht die Registratur des Kabinettssekretärs, welche die geschilderten Vorgänge erzählt. Am 27. März 1708 ward das vom König vollzogene Original des Schutzbriefes dem Residenten Lehmann ausgehändigt, während er einen Revers dahin vollzog, „die Freiheiten nicht zu überschreiten."*)

Da ein Reskript August des Starken zu Gunsten Berend Lehmanns und des hannoverschen Hofjuden Leffmann Berentz bezüglich Erleichterung ihrer Messegeschäfte zunächst in Leipzig unbeachtet blieb, schärfte der Churfürst am 8. Mai 1708 ein, der betreffenden Verordnung „ohne Exzeption gehorsamst" nachzukommen.

Für die Messegeschäfte der damaligen Zeit war die Strenge bedeutsam, mit welcher in Leipzig alle Wechselsachen nach der Wechselordnung des Jahres 1699 entschieden wurden. Danach waren z. B. die Juden gehaltenen dem Verfalltage ohne Erinnerung den Christen das Geld in das Haus oder in das Gewölbe zu bringen. Bei Unterlassung war zu gewärtigen, dass von den Christen wegen nicht geschehener Zahlung protestiert wurde. Ausdrücklich war ihnen verboten, von jungen Leuten Wechselbriefe und Schuldverschreibungen anzunehmen, bei Verlust dessen, was sie an Geld und Geldeswert gegeben und bei Wiedererstattung dessen, was gutwillig bezahlt worden, benebst den Interessen, auch noch hierüber mit einer Geldstrafe, wenigstens den vierten Teil von dem vorgestreckten Geld und der kreditierten Ware betrug, aber wohl gar nach Beschaffenheit mit Gefängnisstrafe. Außerdem sollte in Ansehung der Wechsel, die von ihnen ausgestellt wurden, die größte Vorsicht angewendet werden, damit kein Betrug damit vorgehe. Jeder Wechsel sollte von dem jedesmaligen Professor der hebräischen Sprache durchgesehen und von diesem dessen Richtigkeit beurteilt werden."**) Die ersehnte Kultusfreiheit konnten die Juden selbst während der Messe in Leipzig damals nicht erlangen.

*) Emil Lehmann, Gesammelte Schriften, 1899, S. 137,
**) Pragmatische Handelsgesch. d. St. Leipzig. Leipzig 1772. (Ed. Dr. Georg Ferd. Franz) S. 283.


Ebenso ungünstig lagen die Dinge für sie in Dresden, wo sich am 12. Dezember 1705 die Krämer und Handels leute bei dem Stadtrathe beschwerten „dass die Juden ihre eigenen Handwerksleute von ihrer Sekte bei sich haben und dass sie ihre Zusammenkünfte und Zeremonien halten." Eine bald darauf (am 23. Dezember 1705) von dem Rat aufgenommene Spezifikation ergab, dass sich damals im Ganzen 15 Juden in Dresden befanden *) Das kleine Häuflein ließ sich aber jedenfalls den Gottesdienst nicht gänzlich nehmen, da Sidori Folgendes berichtet: „Da der Gottesdienst bei jeder Vereinigung von Glaubensgenossen, am Meisten aber bei den Israeliten im Exil, ein Bedürfnis ist, so organisierte sich bald in Dresden ein solcher in einer sogenannten Betstube." — Dies erweckte aber bei den Ständen große Unzufriedenheit und veranlasste die im Landtagsabschiede von 1711 von dem König abgegebene beschwichtigende Erklärung: „dass er denen Juden ihren angemaßten Cultum in keinem Wege gestatte." Von dem wohlwollenden Monarchen wurde aber zu Gunsten der Familie Lehmann eine Ausnahme stipuliert, denn er erklärte in einem vom 25. April 1711 datierten Reskript: „dass es dem Resident Lehmann nebst seinem Gevollmächtigten Jonas Meyer freigelassen werde, in einem Hause dieser Stadt Dresden, welches sie jetzund bewohnen oder künftig bewohnen werden, den Gottesdienst nach jüdischer Art, jedoch in aller Stille und ohne Geschrei für sich und die Ihrigen zu verrichten. Auch sind Meyer Gebetbücher und Tische und was sonst aus dem Hause genommen ohne Verzug zu restituieren."

*) Emil Lehmann, Der polnische Resident Berend Lehmann. S. 13.

Von der vorurteilsfreien Gesinnung, die sich damals Bahn brach, zeugt auch ein 1714 in der Sache der Blutbeschuldigung abgegebenes Gutachten der Leipziger Universität. Dasselbe bezeichnete unter Hinweis darauf, dass selbst der Judenfeind Eisenmenger in Heidelberg von solchen „Mährlein" nichts wissen wolle, die Fabel von Ritualmord als ein Erzeugnis von Unwissenheit und Leichtgläubigkeit. Dieses Gutachten der theologischen Fakultät zu Leipzig vom 8. Mai 1714, bricht schon in seinen ersten Sätzen der Anklage, dass die Juden aus religiösen Motiven Christenblut brauchen, die Spitze ab: „Ist diese dem Jüdischen Volck beygemessene schwere Klage eine bis in das 13. Seclum nach Christi Gebuhrt unerhörte Sache, und würde mann, da mann doch sonst der Jüdischen Nation nichts geschencket, in Keinen einzigen Document dergleichen weder von denen Juden in gantz Orient noch occident Bejahet finden. Warum sollten aber die Juden diese gantze Zeit über diese grausamkeit unterlassen und erst nach diesem angefangen haben? Warum solten Sie bey dem anfangenden Wachstum, des auff ihren ruin sich gleichsam auffrichtenden Christentum, da die Eifersucht und Bitterkeit weit größer gewesen, dergleichen nicht gethan haben? Warum solten sie zu denen Zeiten der Heydtnischen Kaiser, da es mit mehrerer Sicherheit geschehen können, solches unpracticiret haben?" u. s. w. Wenn man am Eingang des 18. Jahrhunderts schon so unbefangen urteilte, dann ist es kaum zu verstehen, dass solche ,, Mährlein" noch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts die Gemüter verwirren können!