Geschichte der Juden in Sachsen - 04

Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland
Autor: Levy, Alphonse (1838-1917) deutsch-jüdischer Publizist, trat für die jüdische Gleichberechtigung ein und bekämpfte den Antisemitismus, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Juden, Judentum, Sachsen, Judenverfolgung, Mittelalter, Deutsche, Menschenrechte, Bürgerrechte, Staatsbürger, Religion, Glaubensgenossen, Heimat, Antisemitismus
Hatte Heinrich der Erlauchte den Juden in der Markgrafschaft Meißen durch die Judenordnung vom Jahre 1265 eine rechtliche Stellung gegeben, ohne dazu von dem Kaiser dem eigentlichen Schutzherrn der „kaiserlichen Kammerknechte," veranlasst worden zu sein, so wurde der Judenschutz in Thüringen, Meißen, dem Osterlande, sowie in den Reichsstädten Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen, laut Urkunden Ludwigs des Bayern aus dem Jahre 1328 und 1330, dem Markgrafen Friedrich dem Ernsthaften in aller Form vom Kaiser übertragen. Mehr als je bedurften die Wehrlosen eines wirksamen Schutzes. In jener Zeit des wüstesten Aberglaubens, der tiefsten Unwissenheit, des Faustrechts und des müßigen Mönchtums, gegen welches erst später Wiklef, Huß und Luther ihre Zeitgenossen aufriefen, bedurfte es keiner großen Anstrengung, um die leicht erregbaren Massen zu Freveltaten gegen hilflose Unglückliche aufzureizen. Das uralte, in allerneuester Zeit wieder mehrfach aufgefrischte Märchen des „Ritualmordes" bot dazu eine Handhabe; es verursachte im Jahre 1303 eine blutige Judenverfolgung in Weißensee. Im September 1303 ging Landgraf Friedrich im Auftrage seines Vaters dorthin, um den daselbst angeblich von den Juden an dem Knaben Konrad verübten Mord zu untersuchen. Der gleichzeitige Presbyter Siegfried von Klein-Balnhausen (Monum. Germ, hist., Script. XXV. 717) erzählt, die Juden hätten vor dem Passahfeste dem Schulknaben Konrad nach Öffnung aller Adern alles Blut ausgepreist und ihn grausam getötet. Ein andrer Beweis für die Schuld der Juden als die Wunder (die Juden seien nicht imstande gewesen, den Leichnam zu begraben usw.) wird nicht angeführt. Eine richtige gerichtliche Untersuchung hat nicht stattgefunden; „wohl aber sind am 14. März die Juden haufenweise getötet worden." Das Nürnberger Memorbuch hat die 120 Namen derselben aufbewahrt. (Salfeld 59.215— 217). Auch die Juden anderer Orte in Thüringen wurden von der damaligen Verfolgung getroffen.*) Dasselbe wäre den Juden in Erfurt geschehen, hätte sie nicht ihr vieles Geld bei den Rathsherren und den übrigen Besseren der Stadt verteidigt. — So erzählt das Petersburger Jahrbuch.**) In Erfurt hatte übrigens schon vorher, wie bereits erwähnt, im Jahre 1221, eine blutige Judenverfolgung stattgefunden.

*) Vgl. Oesterr. Wochenschr. 1899. Nr. 49, S. 929 f.-Strack, H. L. „Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit." 1900. S. 143.
**) Die Landgrafen von Thüringen v. Dr. C. Polack (Gotha 1865) S. 284.


Ein weit furchtbareres Unglück brach aber über die Juden im Jahre 1347 herein, als sich über ganz Europa eine zuerst in China aufgetauchte entsetzliche pestartige Epidemie verbreitete, die man „den schwarzen Tod" nannte. Diese Pest raffte Tausende und Abertausende hinweg, ohne dass man über die Entstehung der grässlichen Krankheit ins Klare kam. Da verbreitete sich zuerst in Südfrankreich die unheilvolle Fabel, die Juden (welche infolge ihrer Absonderung, ihrer mäßigen Lebensweise, vielleicht auch ihrer Enthaltung vom Schweinefleischgenuss von der Pest ziemlich verschont blieben) hätten das Massensterben durch Brunnenvergiftungen herbeigeführt. Nun begannen fast allerorten, wo die Pest wütete, grausame Judenverfolgungen, denen gegenüber selbst das Fürwort des Papstes Clemens VI. wirkungslos blieb. Gegenüber den aufs äußerste erregten Volksmassen welche ihr Elend an den daran völlig schuldlosen, unter ihnen lebenden Juden durch Mord und Brand rächten, vermochte auch der schwache Kaiser Karl IV. nichts auszurichten. Insbesondere waren es die halbwahnwitzigen, Deutschland durchziehenden Geißlerschaaren, welche einen Stolz darin setzten, „Judenschläger" zu sein*), den Glaubenseifer bis zur Raserei trieben und das Volk selbst gegen die Obrigkeit aufreizten, wenn sich diese der verzweifelten Lage der Juden erbarmte.

*) Grätz, Geschichte der Juden. VII, Seite 396.

Karl Große äußert sich über das Brunnenvergiftungs-Märchen in folgender Weise: ,,Es ist bemerkenswert, dass auch damals jene unglückliche, in aller Welt verstreute Nation, welche der hohe und niedere Pöbel unserer Zeit noch mit blutigem Hasse verfolgt, für verdächtig gehalten wurde, die Brunnen vergiftet zu haben und deshalb dem durch Hunger, Angst und Entbehrungen aller Art gestachelten Fanatismus der niederen Haufen preisgegeben ward. Wir haben dies auch in unserem Jahrhundert zur Zeit der Cholera erfahren müssen und gesehen, dass diese Verfolgungen namentlich dort statthaben, wo religiöser Fanatismus wütet, wo die Arzneikunde noch sehr im Argen liegt, oder die Juden eine einflussreiche Rolle spielen und auch als Ärzte auftreten. Es lag die Beziehung auf die Juden damals noch näher als jetzt, da die meisten Ärzte Juden waren und ihre Kunst sehr unvollkommen war.“ *) Als die Juden in Erfurt bei einer solchen Verfolgung im Jahre 1348 alle Hoffnung verloren sahen, verbrannten sie sich selbst in ihren eigenen Wohnhäusern. Den Anlass zu dem grauenvollen Untergang der dortigen großen Judengemeinde sieht Dr. C. Polack in der materiellen und sozialen Stellung der Juden zu den christlichen Einwohnern. Erstere hätten nämlich als kaiserliche Kammerknechte eine bevorzugte Stellung eingenommen und nur sehr wenig zu den städtischen Einnahmen beigetragen. **) Ähnliches ereignete sich auch in andern Städten. In Meißen, wo die Pest so arg wütete, dass im dortigen Franziskanerkloster nur drei Mönche am Leben blieben, übte der Bischof Johann I. zwar große Strenge gegen das Unwesen der Geißler; aber er zeigte sich gegen die Juden nicht minder unduldsam. Jedenfalls ist die Meißner Judengemeinde in den ersten Wochen des Jahres 1349 vollständig vernichtet worden, denn die Altzellaer Chronik berichtet, dass am 15. Februar 1349 alle Juden im Meißner und Thüringer Lande getötet wurden (Menken: 1349: In crastino Valentini interfecti sunt omnes Judaei in terra Misnensi et Thuringia). Der Leipziger Chronist M. Joh. Jacob Vogd berichtet: ,,In diesem Jahre hat eine erschreckliche und grausame Pestilentz | welche schon in die drey Jahre angehalten | allhier heftig grassiret | dass viele Menschen gestorben. Und weil man die Juden im Verdacht gehabt | ob hätten sie die Brunnen vergifftet | sind dieselben hefftig verfolget | getötet und in großer Menge umbbracht worden."***) In Fabric. Annal. Misniae 129: „Pestis regnavit, plebis quoque millia stravit, Insolitus populus flagellat se sensinudus. Condemnit tellus, populusque crematur Hebreus" (Dresseri Sach. Chronik fol. 339, Cabrisius 756a Trithem. in Chron. fol. 292.)

*) Gesch. d. Stadt Leipzig v. d. ältesten bis auf d. neuste Zeit. Von Karl Große (Leipzig 1842) S. 191.
**) Die Landgrafen von Thüringen. V. Dr. C. Polack (Gotha 1 B65) S. 348.
***) Leipzigisches Geschicht-Buch Oder Annales etc. ed. M. Joh. Jac. Vogel, Leipzig 1714, fol. 44b.


Diese traurige Mitteilung stimmt ziemlich mit der folgenden grässlich schlichten Bemerkung des sogenannten kleinen „Dresdener Chronicons" überein: „In den XLIX. Jare worden dye Juden gebrant zu vasnacht" — ebenso mit dem Berichte im „Chronicon Sanpetrinum Erfurtense," wonach die Juden in den meisten thüringischen Städten im Jahre 1349 zwischen Maria Reinigung (2. Februar) und der Fastenzeit getötet wurden. In Nordhausen geschah dies erst, nachdem Friedrich der Ernsthafte dies dem dortigen Magistrat in einem von Eisenach den 2. Mai 1349 datierten Schreiben dringend anempfohlen hatte. Die Handlungsweise dieses Markgrafen wird durch die Annahme des Dresdener Chronisten M. B. Lindau „da die Juden sich zeitweilig des Anspruchs auf landesherrlichen Schutz, den sie durch ein Jahrgeld zu erkaufen hatten, verlustig gemacht zu haben scheinen", sicher nicht entschuldigt. Lindau bemerkt, dass es damals gewiss auch in Dresden an Gräueln nicht gefehlt habe, obgleich nähere urkundliche Angaben über Anfang und Umfang derselben fehlen.*) Friedrich der Ernsthafte soll die Verfolgung und Hinrichtung der Juden und Einziehung ihrer Güter zum Besten des Rates gebilligt haben. Seine Handlungsweise glich derjenigen der andern Fürsten der damaligen Zeit; denn in vielen anderen Städten wurden die gleichen Grausamkeiten ruhig zugelassen, so u. A. in Mainz, Straßburg und Wien, wo ganze Gemeinden der entflammten Wut der Volksmassen elend zum Opfer fielen.

*) M. B. Lindau, Gesch. der Residenzstadt Dresden S. 110.

Rühmlich für diese Opfer einer entsetzlichen Zeit klingt das nachstehende, sich auf ernste geschichtliche Forschungen stützende Zeugnis des Dr. Leicht-Meißen: „In den Berichten über den Untergang der Judengemeinden finden wir übereinstimmend, dass die Juden auch in der Gefahr einander nicht verließen und gemeinsam starben."*) In Hingst’s Chronik von Döbeln und Umgegend wird behauptet, dass zwischen Zschaitz und Döschitz in den ehemals dichtbewaldeten Schluchten nördlich von Döbeln zahlreiche den Verfolgungen in den Städten entronnene Judenfamilien eine zeitweise Zuflucht fanden.**) Die Freiberger Juden müssen im Jahre 1349 Schutz erfahren haben, da sie erst im Jahre 1411 ausgetrieben wurden. Bei den erwähnten Gütereinziehungen in Dresden, Meißen u. a. O. ist es vielfach zu Streitigkeiten gekommen. Nach längeren Auseinandersetzungen wurde die (erst 1430 abgebrochene) Meißner Synagoge dem dortigen Pfarrer von St. Nicolai, der Bürgerschaft Meißens aber Grund und Boden zugesprochen, auf dem die Judenhäuser am Neumarkt gestanden hatten.***) Angeblich sollen auch die Meißner Juden, als sie keine Rettung mehr für möglich hielten, ihre Häuser selbst durch Feuer zerstört haben. Den ehemaligen jüdischen Friedhof erhielt die Stadt Meißen ohne jeden Streit sofort als Besitztum. Die darüber ausgestellte Urkunde, in welcher Markgraf Friedrich der Meißner Stadtgemeinde „den Judenberg da selbins mit allem dem daz darzu gehoret" zu freiem Eigentum überlässt, ist schon vom 7. März 1349 datiert. †) Die Umfassungsmauern des Friedhofes und die Grabsteine wurden als Baumaterial verwendet. Ein im Klostergarten zu Altenzelle bei Nossen stehender jüdischer Leichenstein, der mehrfach als derjenige des zeitweilig (1493 — 1522) bei dem Abt Martin von Lochau als Lehrer der hebräischen Sprache aufhältlich gewesenen Prager Rabbiners Anton Margarita angesehen wurde, soll nach Leicht's Ansicht ein einfacher Grabstein des Meißner Judenfriedhofs sein, der mit anderen Bausteinen nach Altenzelle gelangte. ††) Unerfindlich ist es, wie der ausdrücklich der Meißner Stadt gemeinde überlassene Judenfriedhof wieder in landesfürstlichen Besitz gelangte.

*) Mitteilungen des Ver. für Gesch. d. Stadt Meißen 2. Bd. 4. Heft S. 450.
**) Chronik von Döbeln und Umgegend S. 456.
***) Codex dipl. Sax. Reg. 4. Nro. 53 vom 15. Nov. 1377.
†) Codex dipl. Sax. Reg. II 4 Nr. 38.
††) Beyer, das Zisterzienser Stift und Kloster Altzella, Seite 81.


Urkundlich steht aber fest, dass Kurfürst Friedrich II. „seinem Diener und lieben getreuen Nickel Frawenstein uud dessen Leibeserben den Judenkirchhof, der für Mießenn gelegen ist" in Lehen gab.*)

In Dresden, wo am „Jüdenhofe" und zwar an der Stelle der jetzigen Freitreppe des „Johanneums" eine Synagoge gestanden hat **) und die heutige Frauenstraße, die lange Zeit nachher noch die Judengasse hieß ***), wohl nur von Juden bewohnt war, verschwand von den letzteren seit dem Jahre 1349 jede Spur. Ein Schriftsteller äußerte sich darüber wörtlich: „Hodie quidem nihil restat praeter nomen des Jüdenhofs." Die Dresdener Synagoge entging damals der Zerstörung; sie wurde erst 1411 vom Rate erworben, lange zu allerhand gewerblichen Zwecken benutzt und erst im 16. Jahrhundert niedergerissen. Wie es mit den Besitztümern der 1349 „abgeschafften" Juden getrieben wurde, geht aus einer Bemerkung in Haschee Urkundenbuch hervor, wonach der Ratsherr Matthias Mohr (Aethiops) und dessen Bruder Peter Mohr bei der Einziehung der Güter der Juden sich eigennütziger Unterschlagungen schuldig gemacht hat.

*) Cod. diplom Sax. Reg. 4 Nr. 108, vom 10. März 1455.
**) Hasche, Beschreib. Dresdens I S. 274.
***) Richter, Verfassungsgesch. d. Stadt Dresden, 1885, S. 221.