Geschichte der Juden in Sachsen - 02

Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland
Autor: Levy, Alphonse (1838-1917) deutsch-jüdischer Publizist, trat für die jüdische Gleichberechtigung ein und bekämpfte den Antisemitismus, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Juden, Judentum, Sachsen, Judenverfolgung, Mittelalter, Deutsche, Menschenrechte, Bürgerrechte, Staatsbürger, Religion, Glaubensgenossen, Heimat, Antisemitismus
Während sich in Thüringen die Lage der Juden bereits im 13. Jahrhundert höchst ungünstig gestaltet hatte, scheint es bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts den Juden, die sich in Meißen und Freiberg angesiedelt hatten, ziemlich gut gegangen zu sein. In der Meißener Vorstadt „Neumarkt" besaßen sie nachweislich bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts Grundstücke und beschäftigten sich vielfach mit Feld- und Gartenbau. Als der Besitz von Grundstücken ihnen nicht mehr gestattet war, ist auch in Meißen das Grundeigentum der Juden auf Christen übertragen worden. Überall in Deutschland drängte man ihnen zur Zeit der Einführung des „Sachsenspiegels" das Geldgeschäft auf, weil auf Grund des kanonischen Gesetzes die Zinsnahme von geliehenem Kapital den Christen verboten war. Um die nun ausschließlich auf Handel und Wucher angewiesenen Juden wenigstens von den ihr Geldgeschäft beeinträchtigenden strengen Bestimmungen zu befreien, entschloss sich Herzog Heinrich der Erlauchte jene drückenden Bestimmungen durch eine besondere Judenordnung zu ersetzen.

Bis dahin hatten die Kaiser den „Judenschutz", der für sie eine ansehnliche Geldquelle darstellte, meistens selbst ausgeübt, aber in einzelnen Fällen auf die Landesfürsten, die Bischöfe oder die Städte übertragen. In besonders geldarmen Zeiten wurden von den Kaisern die von ihren sogenannten „Kammerknechten" zu erwartenden Einkünfte, die hohen Judensteuern, im Voraus verpfändet. Dieses „Kammerknechts-Verhältnis," das anfangs nichts Erniedrigendes für die Juden hatte, bot diesen mit der Zeit seitens der Kaiser keinen wirksamen Schutz mehr, der ihnen viel besser von den Landesfürsten gewährt wurde, denen diese Aufgabe später (im Jahre 1356) auch endgültig durch die „goldene Bulle" gesetzlich überwiesen wurde. Wenn schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Markgrafschaft Meißen ohne förmliche Übertragung durch den Kaiser der Judenschutz durch den Herzog Heinrich den Erlauchten ausgeübt worden sein sollte, ließe sich dies unschwer aus den damaligen politischen Verhältnissen erklären. Nach dem sogenannten „Interregnum" hat im Jahre 1287 Kaiser Rudolph wiederum den Erzbischof von Mainz über die Grenzen seines Reichs hinaus mit dem Judenschutz in Thüringen, der Ostmark und in Meißen beauftragt. Die Judenordnung vom Jahre 1265, eine der ältesten Spuren allgemeiner Territorial-Gesetzgebung in Meißen, war eine Art von Notstandsgesetz, kein Eingriff in kaiserliche Rechte und gereichte auch den Kaisern zum Nutzen; denn eine Sicherung und Regelung der Geldverhältnisse und des Handels war in der Hauptstadt der Markgrafschaft, in welcher die Reichseinkünfte und die Zehnten der Landbewohner zusammenflossen, im allgemeinen Interesse geboten.

M. B. Lindau, der im Gegensatz zu Sidori und anderen Schriftstellern die nicht nachweisliche Ansicht vertritt, dass dem Herzog Heinrich der Judenschutz von kaiserlicher Seite förmlich übertragen worden sei, schreibt darüber: ,, Kraft seiner Rechte als Schirmherr der Kirche war der Kaiser nach den Begriffen der damaligen Zeit zur Ausrottung der Juden und Einziehung ihrer Güter berechtigt. Die Juden waren dagegen schon damals überall tätig, wo ein Geschäftsleben vorhanden war oder sich zu entwickeln begann, und dass sie sich in dieser Beziehung mit glücklichem Erfolge zu rühren verstanden, beweist einesteils der Neid und der Hass, den das Volk, jederzeit zu grausamster Verfolgung bereit, gegen sie nährte, andernteils aber der Umstand, dass sie nicht selten diejenigen waren, die Rat schaffen mussten, wenn es den Fürsten an Geld fehlte. Statt sie auszurotten, zog es daher der Kaiser vor, sie seiner Kammer als Knechte unterzuordnen und ihnen für den Schutz welchen er ihnen angedeihen ließ, eine nicht unbeträchtliche und willkürliche Steuer aufzuerlegen. Waren demnach diese Kammerknechte — ein Name, der in der Sprache damaliger Zeit nichts Anstößiges haben mochte, — dem Kaiser unmittelbar untergeordnet, so scheint doch dieser sogenannte „Judenschutz" mit seinen einträglichen Revenuen gleich anderen Regalien weiter verliehen worden zu sein, und Heinrichs Urkunde beweist, dass er auch von den Meißen'schen Markgrafen schon frühzeitig ausgeübt wurde.*)

*) M. B. Lindau, Gesch. der Residenzstadt Dresden. S. 76.

Gleichviel ob aus eigener Machtvollkommenheit oder auf Grund einer früheren Übertragung ausgeübt, gereichte in der „kaiserlosen, der schrecklichen Zeit“ dieser tatkräftige landesfürstliche Schutz den Juden der Markgrafschaft Meißen zum Segen. Unter Hinweis auf den alten Meißener Chronisten Fabricius (Libr. I Annal. Urbis Misniae pag. 112) berichtet Johann Jacob Vogel: „Es hat auch Markgraf Heinrich in diesem Jahre (1265) gewisse Gesetze gegeben | nach welchen die Juden in diesem Lande | sie möchten gleich unter sich | oder mit Christen zu tun haben | sich richten sollten."*) Diese Gesetze kamen nicht nur den Juden in der Stadt Meißen, sondern in der ganzen Markgrafschaft, insbesondere auch den in und um Freiberg wohnhaften, zu statten. In den „Freibergischen Annales" von Dr. Andreas Möller (gedruckt im Jahre 1653 bei Georg Beuther in Freiberg) steht bei dem Jahre 1265 verzeichnet: 1265 sind den Juden | die zu Freiberg in der Vorstadt auf dem Jüdenberge und anderen Orten im Lande gewohnet | besondere statuta und Gesetze für geschrieben worden | die in Fabricii Annalibus Urbis Misn. angeführet worden."

Diese besonderen „Statuta und Gesetze" sind identisch mit dem Erlass Heinrichs des Erlauchten, durch welchen in 15 Abschnitten der Gerichtsstand der Juden, das Verfahren bei Geltendmachung ihrer Schuldforderungen und der Betrieb ihres Pfandgewerbes geregelt wurden. Der Erlass war offenbar von der Absicht getragen, nicht nur die strengen und für die Juden demütigenden Bestimmungen des in dem kurz vorher verfassten „Sachsenspiegel" enthaltenen sächsischen Rechts abzumildern, sondern auch den von ihren zahlreichen Schuldnern bitter gehassten „Kammerknechten" außer dem nur noch nominellen kaiserlichen Schutz einen vom Landesherrn ausgehenden wirksamen Rechtsschutz zu verleihen. „Dieses Gesetz" sagt Sidori, „durchweht der Geist eines seltenen Billigkeitsgefühls, aus welchem die Ungerechtigkeiten des „Sachsenspiegels" aufzuheben der Landesherr sich nicht scheute!"**) Wie der Charakter dieses Fürsten von seinen Zeitgenossen beurteilt wurde, zeigt eine Dichtung des Minnesängers Tanhäuser der von ihm sagte:

      Heinrich der Mizenere
      Der sin trewe nie zerbrach,
      Der ist alles wandels lere
      Er sollte des riches Krone tragen
      Der Vater mit den Kinden,
      Ich künde nie bi minen tagen
      Kein wandel an im vinden.***)

Um so höher war das Vorgehen Heinrichs zu schätzen, da es unmöglich aus eigennützigen Beweggründen hervorgegangen sein konnte. Der Markgraf bedurfte der Juden nicht; er war, wie der alte Freiberger Chronist Möller schrieb, so reich, dass, wie die alte Cellische und andre Chronisten melden ,,er viel Tonnen voll Gold und Silber beigesetzet | und ganz Böhmen mit barem Gelde hätte bezahlen können!"****)

*) Leipzigisches Geschichts-Buch, Oder Annales etc. ed. M. Jon. Jacob Vogel (Leipzig 1714) S. 30a
**) Sidori, Gesch. d. Juden in Sachsen, S. 13.
***) Manesse-Sammlung Th. II. S. 58.
****) Andreas Möller, Freibergische Theatri Cbronici 1656 Cap. I. 166.


Tatsächlich hat er die reichen Schätze, die ihm die Freiberger Erzgruben und das unter ihm erst fündig gewordene Bergwerk zu Scharfenberg bei Meißen lieferten, zur Hebung der Baukunst und Bildhauerei, sowie zu andern edlen Zwecken trefflich verwendet. Die „Goldene Pforte" am Dom zu Freiberg zeugt heute noch von der Blüte der Kunst unter der Herrschaft dieses milden und hochgebildeten Fürsten. Der Schutz, den er den Juden gewährte, war aber nicht nur eine Folge seiner Herzensgüte, sondern auch ein Akt der Staatsklugheit; denn das Geldgeschäft, das den Juden aufgedrängt worden war, als man ihnen jeden anderen Erwerbszweig entzog, war damals nicht zu entbehren, wenn es auch den Darleihern den ärgsten Hass der sich als bewuchert erachteten Darlehnsnehmer zuzog. Nach dem Ausspruch Döllingers wurde im Mittelalter „das Geld nicht nur der Schutzengel, sondern auch der Würgengel der Juden." Bei wem anders konnte damals der verarmte Edelmann und der mittellose Handwerker borgen? Mit Rücksicht auf das unentbehrliche Darlehnsgeschäft erbaten sich damals sehr oft die größeren Städte von dem Kaiser oder denjenigen Landesherren, welche im Besitze des „Judenschutzes" waren, das Recht, eine Anzahl Juden „halten" zu dürfen. Der hohe Zinsfuß, den diese nahmen, erregte aber bald Hass, der mühelos erworbene Reichtum Neid. Die Folge war gewöhnlich eine Judenverfolgung, meist vom niederen Volke ausgehend, aber vielfach von fanatischen Geistlichen geschürt und von den Behörden kaum gehindert, oft sogar unterstützt, denn die Habe der vertriebenen oder gar erschlagenen Juden fiel an die Behörden. Dennoch machte sich immer wieder in kurzer Zeit das Bedürfnis geltend, Kapital auch ohne hypothekarische Sicherheit aufzunehmen. So wurden aufs neue Juden herbeigerufen; sie kamen aber nur, um alsbald Ähnliches zu erfahren und zu erleiden. *)

Die zur Milderung der Verhältnisse 1265 erlassene Judenordnung für die Markgrafschaft Meißen enthielt folgende Bestimmungen **): „Wenn ein Jude bei einer Schuldforderung oder anderen Angelegenheit gegen einen Christen Zeugnis ablegen wollte, so waren hierzu zwei Christen und ein Jude nötig, die sämtlich als wahrheitsgetreu und als Leute von gutem Rufe anerkannt sein mussten und vor welchen die Christen auf ihre Weise, der Jude aber auf ein Buch (den Pentateuch) zu schwören hatten. Bei dem Zeugnis eines Christen gegen einen Juden bedurfte es zweier Juden und eines Christen, wahrheitsgetreuer und gut beleumdeter Leute. Kein Jude sollte verbunden sein, einem anderen als seinem eigenen Richter sich zu stellen, welchen der Markgraf den Juden anwies. Der Jude konnte jedes Pfand ohne Zeugenzuziehung annehmen, Kirchenschmuck und andere Kirchensachen ausgenommen, bei deren Annahme er stets zwei Christen und einen Juden, die guten Leumunds waren, zu Zeugen haben musste.

*) Hermann Knothe: Zur Gesch. d. Juden in der Oberlausitz Neues Archiv der Sachs. Geschichte und Altertumskunde 2. Band 1. Heft S. 52.)
**) Struve, Histor. politisches Archiv 5 S. 306.


Der Jude konnte durch einen Eid sich reinigen, wenn ein in seiner Hand befindliches Pfand von einem Christen als ein gestohlenes bezeichnet wurde; dagegen hatte der Jude nicht nötig zu schwören, wenn er Zeugen beibringen konnte. Betraf jedoch der Fall Kirchenschmuck und andere Kirchensachen, dann war der Jude verpflichtet, drei gut beleumdete Zeugen, zwei Christen und einen Juden, zu stellen, wenn er nicht des Darlehns und des Pfandes verlustig gehen wollte. Wenn der Jude den Besitz eines solchen Pfandes ableugnete, solches aber nachher bei ihm gefunden wurde, verlor er Pfand und Darlehn gleichfalls, hatte aber keine weitere Strafe zu erleiden. Verlor ein Jude das bei ihm niedergelegte Pfand mit seinen übrigen Habseligkeiten durch Feuer, Diebstahl oder gewaltsamen Raub und konnte er dies durch einen Eid oder durch glaubwürdige Menschen bestätigen, so war er nicht verpflichtet das verlorene Pfand zu ersetzen. Wurde von den Juden Bürgschaftsstellung verlangt, so hatte er vor dem kaiserlichen Gericht eine Mark Goldes, vor dem Markgrafen ebenfalls eine Mark Goldes, vor dem markgräflichen Kämmerer eine Mark Silbers, vor jedem niederen Richter aber ein Pfund Pfeffer niederzulegen, der überhaupt bei mancher Gelegenheit statt des Silbers galt. Wer gegen einen Juden klagbar werden wollte, hatte seine Sachen bei dessen eigenem Richter und bei der Synagoge anzubringen, während der Markgraf sich dagegen für solche Fälle, welche in diesen Bestimmungen nicht vorgesehen waren, seine besondere Entscheidung vorbehielt."

„Bemerkenswert" sagt darüber der wenig judenfreundliche Dresdener Chronist M. B. Lindau „ist in dieser Urkunde der dreifache Gerichtsstand — vor dem Kaiser, dem Markgrafen und dessen Kämmerer. Ferner ergibt sich aus derselben zur Genüge, dass die Juden, namentlich als Pfandleiher und auch in anderer Beziehung besonderer Vorrechte und Rechtsfreiheiten sich erfreuten, welche, anfänglich von ihnen benutzt, wahrscheinlich dazu beigetragen haben, jenen Hass der Christen zu nähren, von dessen Gewalttätigkeit auch die Dresdener Geschichte zu erzählen weiß.“

Die in dem Erlass vorkommende Pfefferzählung hat den Biographen Heinrichs des Erlauchten, Tittmann, zu der Annahme veranlasst, dass die Juden damals den Gewürzhandel in Händen gehabt hätten. Dr. Leicht-Meißen *) verweist dagegen auf Auslassungen Stobbes **) und auf Grimms Wörterbuch, wonach zu jener Zeit Leistungen in Pfeffer, teils als Abgaben, teils als Buße bei Rechtsverletzungen, nichts Ungewöhnliches waren. Dr. Leicht sagt ferner: „In diesem Gesetz wird der Juden nur als Pfandverleiher und Wucherer gedacht. ***) Ihre Ausschließung von allen anderen Erwerbszweigen war aber schon damals auch in der Mark Meißen erfolgt, und dass sie auf dem ihnen eingeräumten Gebiete solche Vorrechte genossen, gereichte ihnen in keiner Weise zum Segen. In den Meißener Annalen des Fabricius wird erzählt, dass die Stadt Meißen, als in den Jahren 1271 bis 1274 Teuerung und Hungersnot herrschten, von den Juden 1560 Gulden lieh und dass das Domkapital im Jahre 1276 diese Summe für die Bürgerschaft bezahlte (Fabric. Annal. Misn: „Canonici satisfecerunt Hebreis, et foenore sumptam pecuniam tempore cavitatis solverunt pro civibus, nempe mille quingentos et sexaginta florenos.") In dem von E. G. Gersdorf im Auftrage der Kgl. Sächsischen Staatsregierung abgefassten „Urkundenbuch der Stadt Meißen" (im Codex diplomaticus Saxoniae regiae) ist übrigens kein urkundlicher Nachweis für diesen Bericht des Meißener Chronisten Fabricius zu finden.

*) Mitteilungen des Vereins f. Gesch. d. Stadt Meißen, 2 Bd. 4. Heft S 431.
**) Stobbe, Geschichte der Juden in Deutschland im Mittelalter. S. 266.
***) Mitteilungen des Vereins f. Gesch. d. Stadt Meißen, 2. Bd. 4. Heft S. 432.