Einleitung

Gleich einer wundersamen Pflanze fristet Israel in der endlos langen, sternenarmen Nacht des Exils sein Dasein. Ob auch Dornen und Disteln seine Pfade überwuchern, missgünstiges Unkraut ihm Luft und Licht versperren, hartes Gestein sein Wachstum zu verkümmern sucht, es lebt und überdauert Äonen und hält in übermenschlichem Ringen den Neidern seiner freudlosen Existenz in Kraft und Ausdauer stand. Anderen Völkern mag ein ungetrübter heiterer Himmel lächeln und ihre Erdentage verschönern, um nach flüchtiger Spanne in dem unvermeidlichen Grab der Vergessenheit zu versinken oder nur den Namen eines großen Seins als Erbteil zu hinterlassen. Israel will mehr als solches Eintagsgeschick, es ist an die Ewigkeit gebunden, und aus ihren Quellen schöpft es die Säfte zu unendlicher Verjüngung. Genährt von den geistigen Ausstrahlungen seiner Urheimat im Orient, befruchtet von den Errungenschaften seiner Umwelt, hat dieses Märtyrervolk in unwandelbarer Treue und Hingebung an seine national-religiösen Ideale alle Prüfungen als unabwendbares Verhängnis ertragen, Raum und Zeit wie ein allen Entwicklungsgesetzen hohnsprechender Überrest überdauernd, mit seinem eigenartigen Geistes- und Seelenleben den Nationen, die ihm bald gastlichen Herd boten, bald widerstrebend seine Mitbewerberschaft im Daseinskampfe duldeten, ein unentwirrbares Rätsel, das man staunend bewunderte oder rücksichtslos von sich stieß. Diese Tatsachen von ungeheuerster sozialer und psychischer Tragweite haben, seit sie in die Erscheinung getreten sind, fortgewirkt, und sie sind der Schlüssel zu tieferem Begreifen der jüdischen Martyriologie, die, wie alle Geschichte, kein Zufall, sondern ein organischer und vernünftiger Prozess ist.

Diese Tragik hat in keinem Lande der europäischen Diaspora so ergreifende Formen angenommen, nirgends so erschütternde Konflikte ausgelöst wie in jenen Gebieten, die, einstens wesentlicher Bestandteil des polnisch-litauischen Königreichs, bis zum Zusammenbruch des Zarismus zu engerem Verbände mit Russland verknüpft gewesen sind. Hier war im Laufe der Jahrhunderte die weitaus größere Hälfte der Gesamtjudenheit zusammengeströmt und zu einem Ganzen von individuellem Gepräge erwachsen, das in seiner charakteristischen Art sich sehr deutlich von dem äußerer Freiheit teilhaftigen Typus der westeuropäischen Länder abhebt. Diese Konzentrierung so gewaltiger jüdischer Massen auf einem relativ engen Territorium ist das Ergebnis von Wanderbewegungen, die teils von den kaukasischen Gegenden und von den Gestaden des Schwarzen Meeres, teils von West- und Mitteleuropa ihren Ausgang nahmen. Aus diesem Reservoir ergossen sich seit dem zwölften, sicherlich seit dem dreizehnten Jahrhundert in östlicher und nordöstlicher Richtung über die halbslawischen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien nach Polen und Litauen die Ströme der jüdischen Wanderung mit kurzer Unterbrechung in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und versiegten erst, nachdem das polnisch-litauische Reich als Pufferstaat zwischen Mitteleuropa und dem den Juden hermetisch verschlossenen Moskowiterreiche zu bestehen aufgehört hatte und „Kongresspolen“ als russisches Vasallenkönigreich kreiert worden war (1815). Damit war jener Konzentrierungsprozess, durch welchen das bis dahin fast judenreine Russland etwa zwei Dritteile des jüdischen Volkes als Untertanen übernahm, in seinen Hauptzügen zum Abschluss gebracht und blieb nur noch als ein innerrussisches Problem fortbestehen, das bis zum Ausbruch der letzten Revolution im Zarenreiche die brennendste Frage der russischen Judenpolitik bildete. Zugleich stellt dieser Prozess die Brücke zwischen der Geschichte der Juden in Polen-Litauen und in Russland dar, so dass diese ohne jene unmöglich denkbar und verständlich ist.


Die Gründe, welche in dem angedeuteten Zeitraum bei den Juden des westlichen Europas immer von neuem den „Drang nach dem Osten“ weckten und wachhielten, waren zwiefacher Art: Zunächst die zahlreichen Verfolgungen und Ausweisungen, welchen die Juden in den deutschen Ländern, in dem Habsburgerreiche, in Spanien und schließlich zeitweise in Litauen ausgesetzt waren, sodann der weitere Spielraum, welcher sich der Entfaltung des jüdischen Volkstums in Polen-Litauen darbot. Die Gunst der
Polenfürsten und des Adels, welcher ein lebhaftes Interesse daran hatte, geeignete Pächter für seine Ergiebigkeiten und Einkünfte und seinen Vorteil wahrende Verkäufer zu gewinnen, lockte in die Weichsel- und Njemen-Gegenden große Scharen von deutschen Juden herbei, auf welche die sich immer günstiger gestaltende Wirtschaftslage doppelte Anziehungskraft ausübte. Denn die Juden jener Zeit erfreuten sich, wie aus zeitgenössischen Berichten deutlich hervorgeht, in Litauen und Polen eines relativen Wohlstandes, durch den sie über das Niveau ihrer engeren Heimatsgenossen sich erhoben. Sie bildeten einen Mittelstand zwischen Grundherren und Bauern; die meisten waren Kaufleute und Pächter, nur verhältnismäßig wenige Handwerker. Die Pacht erstreckte sich auf allerlei Produkte und Abgaben, und die Macht mancher Pächter stieg im Laufe der Zeit so sehr, dass sie für Frieden und Wohlfahrt der Bevölkerung nicht ganz unbedenklich erschien und die Judenlandtage zu vorbeugenden Maßnahmen veranlasste. Der Handel, hauptsächlich der Kleinhandel, unterlag vielfachen Beschränkungen und konnte sich nur mühsam entfalten. Gleichwohl lag fast der ganze Transithandel von Polen und Litauen in jüdischen Händen, und auf den Märkten und Messen spielten sie eine große Rolle, wenngleich naturgemäß der Großhandel nur einer Minderheit Wirkungsmöglichkeiten bot. Auch die Entwicklung des Handwerks unter Patronanz des Kahal kam über gewisse enge Grenzen nicht hinaus und trug nur viel zur Verschärfung der Gegensätze zwischen den patrizischen und niederen Bevölkerungsschichten bei. Ganz besonders lockend erschien den vertriebenen und verfolgten Juden Mitteleuropas die in Polen und Litauen installierte kulturelle Autonomie des Judentums. Sie baute sich auf dem zuerst in den Städten mit Magdeburger Recht entstehenden, dann auch in den kleinen Ortschaften erwachsenden Kahal auf, der wegen seiner vielfachen Vorteile in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht lange Zeit hindurch als Wohltat empfunden wurde, bis eine begüterte Minderheit die Gegensätze zwischen reich und arm. Gelehrten und Unwissenden zu ihren Gunsten auszubauen verstand und die Führung an sich riss. Die Vertretung in den beiden Zentralkörperschaften, dem „Waad arba arazot“ und dem „Waad ha-kehilot ha-roschijot be-midinat Lito“ in Litauen krönte das Werk der Volksorganisation. Von der Regierung mit wichtigen Prärogativen ausgestattet, brachte sie einen höheren Zug in das jüdische Gemeinschaftsleben Polens und behütete es vor frühzeitigem Zerfall. Ihre Autorität verlieh mitunter auch über die engeren Landesgrenzen hinaus jedem Beschlüsse das Gepräge nationaler Willensäußerung und unterdrückte wenigstens für einige Zeit das Überwuchern des kleinlichen, zänkischen Kehillageistes, ohne auf die Dauer die allgemeine Desorganisation hindern zu können. So ermöglichte die glückliche Vereinigung günstiger äußerer und innerer Momente den Juden unter Wahrung ihrer nationalen Individualität ein geschlossenes Kulturleben zu entwickeln, dessen Spuren so tief in der Volksseele wurzelten, dass sie noch heute allen Versuchungen und Gefahren in ungeminderter Kraft zu widerstehen vermögen. Neue Ströme von Zuzüglern aus dem im Pfuhle Religionskriege steckenden Deutschland überfluteten das Land, und zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges nahm die Zuwanderung solche Dimensionen an, dass auf einer der litauischen Synodalversammlungen im Jahre 1623 von einem übermäßigen Einströmen der „fremden“ Elemente in etwas engherziger Weise die Rede sein konnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Juden in Polen und Russland