Zweite Fortsetzung

Aber nur diejenigen, welche treu zu ihrem Glauben und Volkstum stehen, sind außerhalb der Schranken von Gesetz und Recht gestellt, nur ihnen gegenüber ist jede Rechtsbeugung und Willkür erlaubt. Alles dies ändert sich mit einem Schlage, wenn der Jude an seinem Volke zum Verräter wird und sich unter die schützenden Fittiche der herrschenden Kirche begibt. Jetzt gilt er nicht mehr als Schädling, als zehrender Wurm am Mark des Gesellschaftskörpers, den man meiden oder zertreten muss, sondern als ein nützliches Glied der Nation, fähig, an den Geschicken des Staates als Freier und Gleicher mitzuwirken. Vom vierzehnten Lebensjahre ab darf er diese Entscheidung treffen, und mit peinlicher Sorgfalt achtet das Gesetz darauf, dass der jüdische Apostat nie den Weg zu seinem Volke wiederfindet, indem es nicht allein Privilegien auf die Taufe setzt, sondern auch für die Erziehung der aus Mischehen stammenden getauften Kinder im christlichen Glauben Garantien schafft. Das Senatsgutachten vom 24. Mai 1829 aus Anlass der Frage, ob ausländische und polnische Juden in Livland und Finnland wohnen dürfen, spricht die geheimen Motive der russischen Judengesetzgebung mit aller Deutlichkeit aus: „Bei der Gründung des jüdischen Komitees ist unter seinen Obliegenheiten namentlich festgesetzt worden, dass es Maßnahmen zu einer Verminderung der Juden im Reiche überhaupt, insbesondere jedoch an den Orten, wo sie sich noch nicht übermäßig vermehrt haben, ins Auge fassen soll. Das Komitee hat in den Thesen für ein neues Gesetzbuch solche Maßnahmen nicht außeracht gelassen, welche durchgeführt werden können und gleichzeitig ebenso gerecht wie vorteilhaft für die Juden sind“ . . . Wer würde nicht hinter dieser Tünche von Edelmut und Gerechtigkeitssinn die deutliche Erklärung wittern, dass mit den „Vorteilen“ die durch die Taufe entstehenden Vergünstigungen gemeint sind? An solcher, aus Unduldsamkeit und Rückständigkeit geborenen, mit eiserner Konsequenz festgehaltenen Politik sind die Zeiten fast spurlos vorbeigezogen. Während in den Staaten von Mittel- und Westeuropa die Lage der Juden unter dem Einfluss der umwälzenden Ideen des achtzehnten Jahrhunderts eine durchgreifende Wandlung erfahren hat, behaupteten sich in Russland die Maximen der judenfeindlichen Politik hartnäckig und unerschütterlich wie das reaktionäre Staatengebilde, der Despotismus und Sultanismus, und dieselben Grundsätze, welche vor mehr denn hundert Jahren in Geltung waren, stehen bis zum Ende des Zarismus fast ebenso unerschüttert wie ehemals da. Wenn sie zeitweise doch Abweichungen erfuhren, so war dies in erster Reihe auf gewisse äußere Einflüsse zurückzuführen. Nur selten erscholl eine warnende Stimme und wagte es, energisch gegen das verderbliche Regime Front zu machen. Die Mehrheit der maßgebenden Kreise erblickte in dieser Politik, die bald mit dem Deckmantel des Eifers für den christlichen Glauben, bald mit dem Warnruf vor dem gefährdeten Staatswohle ihre Einmengung in jüdische Angelegenheiten zu rechtfertigen suchte, eine Aufmunterung für ihre niedrige, von kleinlichem Vorurteile durchtränkte Anschauung über Juden und Judentum. Und so durfte der Jude, welcher naturgemäß eine Neuerung der Verhältnisse erstrebte, und, soweit er zu politischem Denken reif zu werden begann, vielfach mit allen Fasern seines Herzens den auf Umwälzung tendierenden Bestrebungen seine volle Sympathie schenkte, für jede Regung, die mit dem Odium des Fortschrittes behaftet war, verantwortlich gemacht und zum Staatsfeind in den fanatischen Kapuzinaden von den Kirchenkanzeln und den giftgetränkten Geistesprodukten roher Zeitungsschreiber gestempelt werden.

Die niederdrückenden Gesetzesbestimmungen und das Vorurteil der Gesellschaft waren gewissermaßen eine Rechtfertigung für die von der Regierung und ihren Organen inspirierte geistige Bevormundung. Das intimste Seelenleben der Nation ward zum launischen Spiel in den Händen einer geistlosen, von skrupelhaften Bedenken freien Bureaukratie, die, mit den Scheuklappen altererbter Vorurteile und kirchlichen Fanatismus behaftet, ihre Kenntnis des Judentums am liebsten aus den trüben Quellen hasserfüllter Schmähschriften und grober Fälschungen gewissenloser Ignoranten und Apostaten schöpfte. Geborgen im Schutze der Staatsautorität, wagte sie es, maßgebende Ansichten über jüdische Tradition und das Religionsgesetz zu entwickeln und die jüdische Religion zur Irrlehre zu stempeln. Jahrhunderte hindurch hatten die Juden in verhältnismäßiger Freiheit während der Polenherrschaft der geistigen Bevormundung entraten können, der Staat stand ihrem Innenleben neutral gegenüber und fand keinen Anlass zu einer Einmengung in das anders geartete Wesen dieses Volkes.


Jetzt erforderte es die Staatsraison, dass zuerst zögernd, dann immer kühner und rücksichtsloser jegliche seelische und geistige Regung der jüdischen Untertanen amtlich gestempelt und beschnüffelt, die jüdische Erziehung von Staats wegen geregelt, die Leitung der Rabbinerschulen und Lehrerseminare christlichen Direktoren anvertraut, Vorschriften über jüdische Dogmatik von russischen Kanzleibeamten erlassen, das Studium der Bibel, des Talmud und der hebräischen Sprache Beschränkungen unterworfen werden mussten. Die einstmals wenigstens innerlich freien, nach dem Sturm und Drange der äußeren Geschicke einen Ruhepunkt in ihrem Geistesleben ersehnenden Juden mussten diese Vergewaltigungen mit dem Verlust ihres seelischen Gleichgewichtes bezahlen. Wie ein Bleigewicht lastete dieser Druck auf ihren Seelen, und bei jedem Schritt, den sie unternahmen, mussten sie sich der möglichen Konsequenzen für das Wohl und Wehe der ganzen Gemeinschaft bewusst sein. Sie ermangelten der ungehemmten, natürlichen Bewegungsfreiheit des Geistes, die Einfachheit und Ungebrochenheit des jüdischen Lebens wurde getrübt, und ihre Seele spaltete ein unheilbarer Riss. Der religiöse Zwiespalt mit seinen weittragenden Differenzen, zersetzenden Kämpfen und sozialen Gegensätzlichkeiten machte die schweren Wunden noch weiter klaffen.

Ungeachtet all der Wolken des Hasses und der Erniedrigungen, die auch kaum eine Spanne weit den über den Juden des russischen Reiches sich wölbenden Himmel heller erscheinen ließen, ungeachtet der Verachtung und des Hohnes, welche die Großen und Kleinen an ihre Spuren hefteten, ungeachtet all der seelischen Schädigungen durch Verrat und Niedertracht, welche ab und zu sich auch in der eigenen Mitte einnisteten, hatte die russisch-polnische Judenheit eine Eigenkultur geschaffen, die an Widerstandskraft und reichen Zukunftsmöglichkeiten nur von wenigen Schöpfungen der Diaspora überboten wird. Wohl ermangelt sie des hohen Himmelsflugs, der Urwüchsigkeit und intuitiven Größe anderer Nationalkulturen, wohl haften ihr deutlich die Merkmale des demütigenden Höllenlebens ihrer Schöpfer, der administrativen Willkür und anderer äußerer Einflüsse an, aber sie war und ist doch der tiefste und schönste Ausdruck der nationalen Individualität und bildet noch heutigen Tages die unverbrüchlichste Garantie für den Fortbestand der jüdischen Volkspersönlichkeit. Nicht ohne schwere Kämpfe hat sie sich durchgesetzt. Von der an strenger Tradition festhaltenden talmudischen Richtung, deren Anhänger späterhin auch das Studium der Profanwissenschaften nach der logischen Methode des Wilnaer Gaon Rabbi Elijahu für erlaubt betrachteten, sagte sich die höchste Ausdrucksform der jüdischen Mystik, der Chassidismus, mit seinen Unterströmungen, dem supernaturalistischen Zaddikismus in Wolhynien und Podolien und dem halbrationalistischen Chabadismus in Litauen und Weißrussland, los. Beide Richtungen negierte die auf dem Umweg über Galizien eindringende Berliner Aufklärung, die Haskalah. Mit den Zwangsmaßnahmen der Behörden zur Organisierung der jüdischen Erziehung laufen die inneren Strömungen parallel, die eine Reformierung im Geist der westlichen, vor allem der deutschen Judenheit fordern. Wie das staatliche Zwangssystem selbst, so gehen sie an der eigenen Sterilität und naiver, unpsychologischer Erfassung der inneren Zusammenhänge des Volkstums zugrunde und machen freierer, differenzierterer, darum auch tieferer Erkenntnis der Dinge Platz. Während die Politik durch freiheitlichere Regungen und vorübergehende Zugeständnisse eine Änderung und Besserung erstrebt, beginnen die einen in der rückhaltlosen Anpassung an die russische Kultur, andere in sozialer Arbeit mit den revolutionierten und noch zu revolutionierenden Schichten des Volkes ein neues Ideal zu erblicken. Aber schon machen sich Symptome bemerkbar, die eine Selbstbesinnung der Geister auf die eigenen nationalen Anlagen erkennen lassen. Das Wachstum der hebräischen und jüdischen Presse und Literatur, die bewusste Theorie vom jüdischen Volkstum mit allen Konsequenzen sind die ersten Anzeichen nationaler Gesundung. Trotz der von der russisch-jüdischen Publizistik propagierten Assimilation erwacht, befeuert und gesteigert durch furchtbare Volkskatastrophen, die palästinophile Bewegung und mündet in den neuzeitlichen Zionismus. Aber sie bleibt trotz allem und, obwohl vielleicht die konkreteste Willenskundgebung der nationalen Wiedergeburt, nur auf einen Bruchteil des Volkes beschränkt und muss die Lösung der großen nationalen Probleme auf sozialem, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiete der mehr auf die Aussöhnung mit den. Zuständen des Exils gerichteten inneren Politik überlassen.

Wer heute an der Wende der Völkergeschicke Israels Leidensweg überschaut und die wunderbare Kraft erkennt, mit der es all dem Druck und den abnormen Lebensbedingungen zum Trotz seine Individualität gewahrt, die Urwüchsigkeit seiner Anlage gestählt und mit einem köstlichen Schatz von Erfahrungen bewappnet, immer wieder die Grundlagen zu einem edleren und höheren Dasein zu schaffen beginnt, der wird aus der Geschichte der russischen Judenheit Trost und Hoffnung für die Zukunft des wandermüden, nach einer Ruhestätte lechzenden Volkes schöpfen. Tief verwurzelt mit seinem erhabenen Geschichtsleben, geläutert und gestählt durch die Erkenntnis, dass dieses großartige Martyrium nicht umsonst gewesen sein kann, will Israel noch einmal in Berührung mit der heimatlichen Väterscholle gleich jenem Riesen Antäos aus der Muttererde seine Auferstehung feiern, an jener Stätte, von der sein erhabenes Schrifttum ausging und seine Lehre die Welt mit einem Palladium gegen Barbarei und Fäulnis beglücken wollte. Hier werden noch einmal seine Denker aus den Schächten der alt-neuen Kultur verborgenes Edelgestein ans Licht ziehen, seine Dichter die Harfen zu neuem Sange von verschollener Pracht und glücklich gesundeter Gegenwart rühren, seine Bürger durch Fleiß und Umsicht Handel und Gewerbe neu beleben und die schwieligen Fäuste der jüdischen Bauern dem widerstrebenden Boden reiche Nahrung abringen. Weit, weit ist der Weg zu diesem herrlichen Ziele, das die Krönung des nationalen Erwachens bilden muss. In brüderlicher Eintracht mit den gleichgestimmten Genossen der westlichen Länder wird ihn die russische Judenheit beschreiten, ihr selbst zu unsterblichem Ruhme, dem ewigen Volke Altisrael zu beglückendem Wollen, der Menschheit zum Segen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Juden in Polen und Russland