Erste Fortsetzung

Nicht allzu lange sollte indes die Sonne ihre milden Strahlen über Israels Söhne in Polen herniedersenden, bald trübte sich der Himmel, und in der Ferne zogen gewitterschwüle Wolken auf. Das durch Abneigung und Missgunst schon früher oft getrübte duldsame Regime hörte mit dem sechzehnten Jahrhundert fast ganz auf. Nach Stefan Báthori (1576 — 1586) war der Jesuitenzögling Siegismund III. (1587 — 1632) auf den Thron gelangt. Obschon selbst, ebenso wie sein Sohn Wladyslaw, kein ausgesprochener Judenfeind, unterlagen beide ganz dem Einfluss der jesuitischen Fanatiker, die im Verein mit den Zünften und deutschen Pfahlbürgern die Giftsaat des Rassen- und Glaubenshasses ausstreuten und mit allen Mitteln der Gewalt den unwillkommenen jüdischen Konkurrenten aus Handel und Handwerk drängten. Nur der höhere Adel nahm sie noch unter seine schützenden Fittiche. Schwer rächten sich diese Vertrauensseligkeit an den Juden und die Folgen des Fanatismus der Jesuitenzöglinge an dem Lande. Die Verbitterung, welche diese Verhältnisse unter den kleinrussischen Bewohnern erregt hatten, wurde von dem Hetman Bogdan Chmielnicki zum Brande geschürt, aus dem es kein Entrinnen gab. In dem Kriege der Kosakenhorden gegen Polen standen die Juden zwischen Hammer und Amboss. Ein Gemetzel ward unter ihnen angerichtet, das selbst in den blut- und tränenreichen Annalen der jüdischen Geschichte seit der Zerstörung des zweiten Tempels und den Barkochbakämpfen nahezu ohne Beispiel dasteht. Etwa sechshundert Gemeinden waren dem Erdboden gleichgemacht, Tausende Judenleichen bezeichneten die Blutspuren einer vertierten Soldateska, viele, die, glücklich dem Tode entronnen, in die tartarische Gefangenschaft geraten waren, wurden auf den türkischen Sklavenmärkten von ihren Brüdern losgekauft. Trotz aller Leiden aber war der jüdische Geist noch lebendig geblieben, und erfüllt von dem heiligen Feuer der Gotteserkenntnis, gerüstet mit den Waffen der Torah, schritten die Gemarterten und Zertretenen an die Heilung der Wunden. Von den Königen in ihren Bemühungen gefördert, vermochten sie in kurzer Zeit die Gemeinden wieder herzustellen, die Lehrhäuser neu aufzurichten und die wirtschaftliche Lage des Volkes zu bessern. Allerdings, das alte Gleichgewicht war nicht wieder herzustellen, und zu dem einstigen materiellen Wohlstande konnten es die Juden Polens nicht wieder bringen. Trotzdem blieb nach wie vor der Schwerpunkt des in sich geschlossenen, ungebrochenen Judentums im Osten, und noch lange, lange Zeit hindurch wurde aus dieser Quelle das Judentum des Westens befruchtet, bis auch aus seinem Schöße neue schöpferische Erkenntnisse aufgingen.

Während in dem seinem unaufhaltsamen Verderben entgegeneilenden Polen der Widerstand gegen das jüdische Element immer unerträglichere Formen annahm, waren die geographischen Grenzen des Moskowiterreiches bis hart an die jüdischen Siedlungen herangerückt, und der Einfluss der noch tief in barbarischer Wildheit befangenen Russenpolitik auf die Geschicke des sinkenden polnischen Staatswesens hatte eine gewaltige Stärkung erfahren. An der Katastrophe, welche durch die Chmielnickische Erhebung über die Juden gekommen war, hatte der Zar Alexei Michailowitsch (1645—1676) seinen redlichen Anteil. Die moralische Verkommenheit der polnischen Gesellschaft, ihre völlige Blindheit gegenüber der Russengefahr rächten sich in furchtbarer Weise, und erst als der Moskowitertross seine blutigen Spuren auf den litauischen und weißrussischen Gefilden zurückgelassen und mit ungestörter Gelassenheit die kleinrussischen Provinzen am linken Dnjpr-Ufer annektiert hatte, musste auch dem politisch Stumpfesten Blick klarwerden, dass von diesem blutrünstigen Feind das Verhängnis drohe. Am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war auch der letzte Glanz der einstigen Herrlichkeit des Reiches dahingeschwunden, und die vom Protestantismus abgefallenen und zum Katholizismus neu bekehrten sächsischen Könige förderten diesen Prozess nur noch durch ihre Gleichgültigkeit gegen die wahren Landesinteressen. Der Glaubensfanatismus schoss üppig in die Halme, der Parteienhass peitschte die Bürger gegeneinander auf, Krämergeist und Fraktionsidealismus triumphierten über das Gemeinwohl; Bürgerkriege, Verrat und Zügellosigkeit vollendeten die Anarchie und Atomisierung der Gesellschaft. Dem Einfluss dieses Auflösungsprozesses vermochten sich auch die autonomen Einrichtungen der Juden nicht zu entziehen, sie verloren täglich an Boden und wurden schließlich von dem allgemeinen Orkan, welcher das Land durchbrauste, hinweggefegt. Gemeinden und Einzelpersonen lösten gewaltsam das Band mit dem Kahal und den Synoden, um ihren Sonderinteressen nachzuhängen, und solche Separationsgelüste wirkten schlimmer als alle Erniedrigungen und die Schmach, welche die Juden trafen, auf ihre Stellung im Lande. Fortgerissen von dem Wirbel, hatten die Juden die Macht, welche in ihrer Organisation lag, nicht zu nutzen gewusst und überließen ihr Geschick einer korrumpierten Oligarchie, die unverantwortlich schaltete und waltete. So war die Autonomie der polnischen Juden reif für den Untergang geworden, und der auf der Generalkonföderation zur Wahl des
letzten Polenkönigs Stanislaus Poniatowski gefasste Beschluss (1764), dass die den Judenältesten in Ansehung des Steuerwesens, insbesondere der Steuerverteilung, zustehenden Rechte den Regierungsbeamten zu übertragen sind und der bisher in einer Pauschalsumme erhobene Steuerbetrag nunmehr von jedem Individuum in bestimmtem Ausmaße zu entrichten sei, ward zum Grabesläuten der jüdischen Autonomie.


So war auch dieser letzte Halt der polnisch-litauischen Judenheit genommen; und ein müder, ins Innerste getroffener Organismus, machtlos gegen die Willkür der maßgebenden Kasten, ein Spielball für die Launen der Herrschenden, stand sie den weltgeschichtlichen Ereignissen gegenüber, welche am Ende des achtzehnten und an der Schwelle des 19. Jahrhunderts die Landkarte Europas umgestalteten. Nach der ersten Teilung wurden hauptsächlich die zahlreichen Juden Weißrusslands, zwanzig Jahre später die Juden Litauens, Wolhyniens und Podoliens der Zarenkrone einverleibt, so dass das Moskowiterreich mehr denn eine Million Juden zählte. Mit der Einrichtung von Kongresspolen ward die Konzentration der Juden in den Gebietsteilen des polnisch-litauischen Reiches zum Abschluss gebracht.

Am Ausgange des 18. Jahrhunderts wurden noch die Krim, die Gegend am Schwarzen Meere sowie das Herzogtum Kurland, später die mittelasiatischen Gebiete und der Kaukasus dem russischen Länderverband einverleibt und damit auch die Juden dieser Länder der Segnungen russischer Untertanenschaft teilhaftig.

Erst nach der Vollendung der Konzentrierung der Juden in Russland begann die Judenfrage ein ständiges Problem der inneren Politik zu werden. Anfangs bewegte sich die ganze Entwicklung wenigstens im Westen noch in den Bahnen des Polenreiches, und erst später traten neue Formen des sozialen Seins hinzu, welche durch die strenge Einsperrung in bestimmte Landesgrenzen und das Überwuchern der Kahalwirtschaft gekennzeichnet sind. Ihren krassesten Ausdruck fanden diese Verhältnisse in der russischen Judengesetzgebung, die, ein Gemisch von barbarischer Bosheit und starrem Traditionalismus, eines der denkwürdigsten Produkte des Menschengeistes darstellt. Ein unabsehbares Labyrinth von Gesetzen, Ukasen, Erlässen, administrativen Verfügungen, temporären und dauernden Maßnahmen, Statuten usw. umfasst dieser Zweig der Gesetzgebung, in welchem bei aller Willkür und Zerfahrenheit doch gewisse Grundsätze zum Ausdruck kommen. Aus dem Geiste des Byzantinismus geboren, blieb die russische Gesetzgebung nach den Maximen, auf denen das Staatsgebäude sich aufbaut, Autokratie, Kirchlichkeit im engsten Sinne des Begriffes und Zentralisation, orientiert. Was Zar Alexei Michailowitsch in der Vorrede zur ersten russischen Gesetzessammlung „Ulošenie“ verkündet: „Dieses ist zusammengestellt und aufgezeichnet worden unter der Leitung des Patriarchen und des Sobor nach den Normen des heiligen Apostel und städtischen Gesetzen der griechischen (byzantinischen) Kaiser“ ist stets das Leitmotiv des russischen Gesetzgebers geblieben. Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf die Judengesetzgebung ergab sich die Aufgabe, dieses Volk, wie alle nichtrussischen Nationalitäten und Konfessionen, dem Russentum zu amalgamieren, und unter Vorgabe verschiedener pseudoökonomischer und quasisozialer Motive wurden Lehre und Leben der Juden, ihr Charakter und ihre Wirksamkeit für die materiellen und moralischen Interessen des Russenvolkes schädlich erklärt. Und darum sollten die Juden der Gnade und Gunst des Gesetzes nur teilhaftig werden dürfen, wenn ihnen dazu eine besondere Erlaubnis gewährt wird, während der normale Zustand des bürgerlichen Rechtes doch alles gestattet, was nicht ausdrücklichem Verbote unterliegt. Der Jude aber gilt nicht als Inländer, er ist ein Fremdkörper, welcher wie Landstreicher und Nomaden einer Ausnahmegesetzgebung unterliegt, der Spross einer inferioren Rasse, die erst zu menschlicher Art erzogen werden muss. Daher alle die Zwangsmaßnahmen, die auf Vernichtung der jüdischen Selbstverwaltung, Einfügung in gewisse wirtschaftliche Formen, zwangsweise Aufklärung abzielen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Juden in Polen und Russland