Juden in Wismar von 1266-1302, Heinrich I. der Pilger

Nach der Ansicht des berühmten Orientalisten und Kenner des Rabbinischen O. G. Tychsen (v. 1734—1816) wäre ein Grabstein aus dem ehemaligen Judenfriedhof zu Parchim, der mit mehreren andern in die Marienkirche daselbst eingebaut worden, das älteste Denkmal jüdischer Ansiedlung in Mecklenburg, da er aus der lückenhaften Inschrift desselben, das Jahr der Welt 5018 = 1258, herausgelesen. In jüngster Zeit aber ist ein größerer Teil dieses Grabsteines bloßgelegt worden, und der erhaltene Rest des zu Tage getretenen Datums bezeichnet die Tychsen'schen Angabe als durchaus unzutreffend, da derselbe bloß im Allgemeinen das 6. Jahrtausend der Welt, nicht aber die zur genauern Fixierung der Jahreszahl noch erforderlichen einzelnen Daten zeigt.*) Vielmehr ist, soweit bis heute mit Sicherheit ermittelt worden, der erste redende Zeuge für die Sesshaftigkeit der Juden in Mecklenburg eine Urkunde, datiert aus Wismar, 14. April 1266,**) in welcher Heinrich I. der Pilger, Fürst von Mecklenburg, die Stadt Wismar mit dem Lüb'schen Recht bewidmet, ihren Besitz und den freien Handelsverkehr bestätigt und den Gerichtsstand der fürstlichen Diener ordnet. Hier geschieht nun auch der Juden Erwähnung, welche neben den Vögten, Münzmeistern, Zöllnern und Müllern den fürstlichen Beamten (officiales, amptlüde) beigezählt werden. Es wird in Bezug auf sie die Anordnung getroffen, dass Vergehen, innerhalb des fürstlichen Geschäftskreises von ihnen begangen, in keiner Weise vor die Schranken des Stadtgerichts und Rats gezogen werden dürfen, da die Inculpaten in solchen Fällen bloß der Person des Fürsten verantwortlich seien; wohl aber über Verschuldungen, die außerhalb der fürstlichen Interessen liegen, vom Rat; unter Zuziehung des fürstliche Vogts, abgeurteilt werden darf.***)

*) Vergl. im Anhang die Note A
**) Vergl. im Anhange die Note B
***) Vergl. Mecklenburger Urkundenbuch B. II., Nr. 1078, S. 294-295.


Dieses Klientenverhältnis der Juden zum Fürsten gereichte ihnen zum großen Vorteil, da sie dadurch der Willkür, den Bedrückungen und dem Fanatismus des Volkes entzogen und in der Eigenschaft fürstlicher Schützlinge kein Spielball seiner Laune und Wut wurden.

Ob Heinrich der Pilger, der ein edler Fürst, aber auch ein frommer Schwärmer war, der zu seinem Seelenheil mit dem Pilgerstab nach dem heiligen Lande zog; wo er 26 Jahre lang in der Gefangenschaft schmachtete — die Juden aus Edelmut und Gerechtigkeitsliebe, oder aus finanziellem Interesse in Schutz nahm, lässt sich nicht bestimmen. Ohne Zweifel entrichteten die Juden, wie überall in Deutschland, auch an ihn gewisse Abgaben; als Preis seiner Protektion.

Obgleich aber, wie die andern deutschen Fürsten, Vasall des deutschen Kaisers, wird den Juden nirgends der Charakter kaiserlicher Kammerknechte beigelegt. Es war dies durchaus nicht ihr Schaden, denn während ihre Glaubensbrüder im übrigen Deutschland den kleinen Landesfürsten und obendrein dem kaiserlichen Oberherrn den Geldsack füllen mussten, so oft sie in Geldverlegenheit waren — und sie waren dies nur zu oft — brauchten sie in Mecklenburg bloß nach einer Richtung hin die Erlaubnis, Leben und Luft atmen zu dürfen; für teures Geld zu erkaufen. Heinrich der Pilger mochte sie auch, vermöge ihres Handelsgeistes, als nützlich und brauchbar zur Verwertung der Bodenproduktion erkannt haben, die unter der Wendenherrschaft ganz vernachlässigt, von den deutschen Kolonisten sich einer größeren Aufmerksamkeit und Pflege erfreute. Sicherlich besorgten sie auch die Geldgeschäfte des Fürsten, und sie sollten in seinem Dienste, der in Handel erblühenden, aber auch zur Widersetzlichkeit geneigten Stadt Wismar in kommerzieller Beziehung die Waagschale halten. Diese Rivalität brachte den Juden von Seiten der Bürgerschaft eine große Antipathie ein, die sie teuer bezahlen mussten; machte sie aber den Fürsten um so unentbehrlicher; daher die stete Rücksichtnahme auf dieselben von Seite der letztern, in den mit Wismar getroffenen Vereinbarungen.

Übrigens standen sie auch mit dem Rat zu Wismar in geldgeschäftlichen Verbindungen, wie dies aus den Aufzeichnungen der Wismar’schen Kämmerei in den Jahren 1290 und 91 erhellt,*) denn auch hier war, wie überall in Deutschland, neben Handel das Geldleihen und Pfandnehmen ihr Hauptbetrieb, zu dem sie die Engherzigkeit drängte.**) Es wurden ihnen aber darin mancherlei Beschränkungen auferlegt. So z. B. durften sie letztere nur offen und des Tages vornehmen.***)

*) Mecklenburg. Urkundenbuch B. II. Nr. 2090.
**) A. a. O. Nr. 1278, S. 447.
***) S. weiter.


Auch die Anschauung, dass Juden nicht in nachbarlicher Gemeinschaft mit den Christen wohnen dürften, sondern von diesen ausgeschieden einen besondern, und zwar den vernachlässigtesten Stadtteil bewohnen müssten, war hier zu Hause. Sie bewohnten die Altböterstraße, welche den Namen Platea Judaeorum*) führte, wo sie auch eine Synagoge hatten, die domus Judaeorum**) genannt wurde.

*) Judengasse.
**) Judenhaus. Vgl. Schröder, Beschreibung der Stadt Wismar 1743.


So lange Heinrich der Pilger unter seinen Untertanen weilte, wurde der Schutz, den er den Juden in seiner Residenz Wismar angedeihen ließ, von der Stadt respektiert. Sie wagte es nicht unter seinen Augen seine Schutzbefohlenen anzugreifen. Als aber der Fürst 1271 eine Wallfahrt nach Palästina unternahm, dort in moslemische Gefangenschaft geriet, sein Name eine Zeit lang ganz verschollen war, und die Zügel der Herrschaft in den schwachen Händen einer Frau ruhten, wobei sich das mittlerweile zu einer mächtigen Hansestadt emporgeblühte Wismar unterfing, die Stadt mit einer Mauer zu umgeben, aber mit Ausschluss der fürstlichen Burg, da machten Rat und Bürgerschaft auch ihrer Gehässigkeit gegen die Juden, gegen die sie schon längst in Handelsneid erglühten, Luft. Sie mochten auch nicht, bei ihrer oppositionellen Stellung dem Fürstenhause gegenüber, Leute innerhalb ihrer Mauern dulden, deren Interesse und Wohlfahrt mit der Macht der fürstlichen Regierung verwachsen war. Daher übertrugen sie den gegnerischen Geist, der sie gegen den Fürsten beseelte, auch auf seine Schützlinge. Dazu gesellten sich noch religiöses Vorurteil und Fanatismus. So kam es, dass die Juden aus der Stadt (1290) gewiesen wurden.*) Nach erfolgter Rückkehr Heinrichs (1298), söhnte sich der greise Fürst mit der Stadt aus und schloss (1300) einen Vergleich, in welchem er sie unter Anderem auch wegen der Austreibung der Juden begnadigte, ohne auf ihre Wiederaufnahme zu bestehen.**)

*) Vergl. Latomus Geneal. Chron. ad a. 1301.
**) Mecklenbg. Urkundenb. B. III., Nr. 2603.


Doch kommen 1303 wieder Juden in Wismar zum Vorschein. In diesem Jahre nämlich beurkunden die Juden Lazarus und Salomon, Söhne des Zacharias, in Gegenwart des Rats, den Empfang ihres Teiles der väterlichen Erbschaft von den Juden Mordacheus und Cholde.*) entweder nun, dass das Missgeschick der Vertreibung nicht alle Juden betroffen, und einige weiter geduldet wurden, namentlich die, welche die Stadt der Geldanleihen wegen nicht gut entbehren konnte;**) oder dass ihnen mit der Thronbesteigung Heinrich II., des Löwen, die in dieses Jahr fällt, wieder die Tore von Wismar geöffnet worden.

*) Mecklenbg. Urkundenb. B. V., Nr. 2840.
**) Vgl. „Zur Geschichte der Juden in Mecklenburg“, von K. v. Heister, mit Susanen von Dr. F. Wedemeier, im Archiv für die Landeskunde Mecklenburgs, Jahrg. 1865, S. 375.