Die Juden in Rostock von 1279 (?) -1350

Rostock, die stolze Hansestadt, bietet in jüdisch-geschichtlicher Beziehung weit weniger des Interessanten als ihre Schwesterstadt Wismar. Obgleich letztere an Alter, Umfang, Reichtum, Handel und historischer Bedeutung übertreffend, so ist sie doch in diesem Punkte an geschichtlichen Fakten und Daten ärmer. War schon die jüdische Kolonie in Wismar eine verhältnismäßig schwache, so ist sie es noch in höherem Grade in Rostock. Dort waren es die kraftvollen Fürsten der Mecklenburger Linie, welche mit starker Hand die sich bäumenden Wismarer zügelten und durch ihren machtvollen Einfluss die Duldung einer gewissen Anzahl von Juden durchsetzten, daher auch diese oft Gegenstand von Verträgen zwischen Fürst und Stadt und dieser mit ihnen selbst, waren; hier war, namentlich seit Nikolaus dem Kinde (1282), eine schwache Regierung am Ruder, welche den Rostockern große Konzessionen machte und an Autorität immer mehr verlor. Diese konnte daher auch die Juden, so sehr es auch im fürstlichen Interesse selbst gewesen sein mag, nicht mit Nachdruck gegen den Handelsneid, die Missgunst und den Fanatismus von Rat und Bürgerschaft in Schutz nehmen. Und nun erst als Rostock im Anfange des 14. Jahrhunderts unter dänische Botmäßigkeit kam, fand sich gewiss Niemand vor, dessen Interesse es erheischt hätte, für eine freiere Ansiedlung von Juden eine Lanze zu brechen und sie zu begünstigen. Es ist jedoch auch möglich, dass die Bürgerkriege und innere Unruhen, welche die Stadt vom Ende des 13. Jahrhunderts in ihren Eingeweiden zerwühlten und die Sicherheit von Gut und Blut stets bedrohten, die Juden, wie ein Popanz, von Rostock abschreckten. War es doch bis in die neueste Zeit Sitte und Brauch bei allen leidenschaftlichen Volksbewegungen vor allem das „Nieder mit den Juden“ erdonnern zu lassen; waren doch diese bei solchen Gelegenheiten die nächste Zielscheibe eines fanatischen und raublustigen Pöbels gewesen.

Die ohnehin schutzlosen, der Willkür des niedrigsten Plebejers preis gegebenen Juden mochten in ein solches Wespennest nicht stechen und vermieden es von selbst sich zahlreich in Aufsehen erregender Weise niederzulassen.


Den ersten Anhaltspunkt für das Datum der Ansiedlung von Juden in Rostock, liefert nächst einer Privaturkunde, einem Pfandschein vom Jahre 1270,*) der nur das Dasein eines Juden bezeugt, eine offizielle Urkunde vom Jahre 1279,**) betreffend einen Vertrag zwischen der Stadt und den Juden, wegen Überlassung eines Grundstückes zum Begräbnisplatz; eine Tatsache, welche davon Zeugnis ablegt, dass sich bereits in diesem Jahre einige Judenfamilien in Rostock befanden. Auf die Größe ihrer Zahl lässt sich aus diesem Umstände kein Schluss ziehen, da auch schon wenige Familien dafür sorgen mussten, dass ihre dahingeschiedenen Lieben eine Ruhestätte finden sollten; und das um so mehr, da wegen der ungemein schlechten Verkehrsstraßen jener Zeit***) die Transportierung einer Leiche nach einer benachbarten Gemeinde mit den größten Schwierigkeiten verbunden war. Eben so aber wäre es ein Fehlschluss aus dem scheinbar kleinen Pachtzins von nur einer Mark jährlich (=16 Schill.), den sie der Stadt für den gemieteten Begräbnisacker zu entrichten hatten, den unbedeutenden Umfang desselben und aus dem schon damit befriedigten Bedürfnis, auch das Vorhandensein von nur sehr wenigen Juden herleiten zu wollen, da in jener Zeit das Geld einen enormen Wert hatte, und eine Bauerhufe, die im Jahre 1324 urkundlich nur 100 Mark Lüb. kostete, jetzt 500 Thaler und darüber kostet;****) somit konnte für eine Mark jährlichen Pachtzins schon ein ansehnliches Grundstück gepachtet werden.

*) Mecklenburger Urkundenbuch I. Nr. 2386.
**) a. a. O. B. II. Nr. 1508, III. Nr. 1626 und Note das.
***) Vgl. E. Boll Geschichte Mecklenburgs I. S. 420 s.
****) a. a. O. S. 425 f.; Beiträge zur (Geschichte Mecklenburgs, herausgegeben von Professor Schirrmacher: Geschichte Wismars von Schildt, S. 81 f.


Aber selbst diese Urkunde, welche den geliebten Toten eine friedliche Ruhestädte sichern sollte, enthielt indirekt eine finstere Drohung für die jüdischen Kontrahenten, welche sie daran mahnte, wie sie gegenwärtig sein müssten, auch von den Lieben da draußen auf dem Gottesacker zu jeder Stunde losgerissen zu werden, da laut einer Klausel die Lizenz nur so lange Rechtskraft haben sollte, als es der Stadt belieben werde, entweder - nach einer Lesart — ihnen den Friedhof zu lassen, oder — nach einer anderen Lesart — sie überhaupt in der Stadt zu dulden.

Der Friedhof lag vor dem Kröpeliner Tor am Voghen-Teiche, auf dem Wege nach Biestow, und kommt im Rostocker Stadtbuche öfters zur lokalen Bezeichnung einer neben ihm gelegenen Mühle vor. Nach Schröder hätte es auch 1286 in dem Rostock benachbarten, jetzt als Ostseebadeort bekannten Warnemünde einen jüdischen Friedhof und somit auch jüdische Familien gegeben, welche Annahme aber von Heister bestritten wird.

Um diese Zeit taucht im Rostocker Stadtbuch ein reicher jüdischer Bankier, Namens Salathiel, auf. Dieser erfreute sich des Privilegiums Grund und Boden besitzen, ein eigenes Haus bewohnen, ja sogar erbauen zu dürfen; war aber doch fortwährend von der Gnade der Ratmannen abhängig, da es diesen freistand, sobald es ihnen beliebte, ihm dieses Vorrecht abzunehmen. Auch waren ihm in dem Veräußerungsrecht seines Hauses die Hände gebunden, da er dazu erst die Konzession des Rates einholen musste.

Aber selbst dieses so karg zugemessene Recht war keineswegs ein Ausfluss der Toleranz, es geschah vielmehr, wie aus einem vom Rat an Salathiel ausgestellten Schuldschein vom Jahre 1283 hervorgeht, aus dem egoistischen Grunde den Juden zu Geldanlehen — wohl auch zu schweren Abgaben — auszubeuten: denn während seines kurzen Aufenthalts, wohl 1283-1287, werden von der Stadt bei ihm Anlehen von 300, 400 und 500 Mark erhoben, Summen, die bei dem damaligen äußerst hohen Geldkurs kolossal waren. Dafür werden ihm aber keine Zinsen, sondern nur Schutz und Unverletzlichkeit an Person und Eigentum, die nach seinem Tode auf Weib und Kind übergehen sollen, zugesichert. Zudem stand nicht dem Rat allein das Verfügungsrecht über Salathiels Aufenthalt zu, sondern es musste dieser auch von der Landesfürstin — wohl der Mutter des noch unmündigen Nikolaus des Kindes — einen Toleranzbrief erkaufen, und wird Salathiel, falls die Unterhandlungen mit derselben scheitern sollten, beim Wegzug Schutz und freies Geleite zugesichert.

Im Jahre 1288 war Salathiel nicht mehr in Rostock; entweder hatte er das Zeitliche gesegnet, oder vielleicht sich nach Schwerin begeben zum Grafen Helmold von Schwerin, dessen Geldgeschäfte er besorgte und unter dessen Schutz er stand, da zufolge einer Urkunde vom Jahre 1288 dieser Graf das Haus des Salathiel in Rostock für diesen seinen Juden an einen Dritten verkauft hatte. Vielleicht hatte der Rat das Konzessionsrecht, das ihm bezüglich der Veräußerung von Salathiels Hause zustand, zu dessen Nachteil gebrauchen wollen, und der ihm wohlwollende Graf schlug sich deshalb ins Mittel, es ist derselbe Graf Helmold, der, als er seine Stadt Boizenburg im Jahre 1267 mit dem Lüb'schen Recht bewidmete, neben seinen andern Beamten auch die Juden daselbst seiner unmittelbaren Gerichtsbarkeit unterordnete und von der städtischen eximierte.

War nun der Aufenthalt des reichen jüdischen Bankiers, dessen Kasse die Stadt so oft aus Verlegenheit zog, mit so vielen Beschwerlichkeiten, Verklausulierungen und Plackereien belastet, so wird gewiss die Lage der minder reichen Juden, deren Geldbeutel man nicht zu berücksichtigen brauchte, vollends eine unerträgliche gewesen sein. Wie rechtlos sie dastanden geht daraus hervor, dass im Jahre 1320 die Gebrüder Heinrich und Gottfried Skutten, rückfällige Verbrecher, welche nächtlicher Weile einen Juden und eine Jüdin beraubt und erstochen hatten, nur mit Verbannung bestraft wurden.

Als aber Rostock, das vom Jahre 1302 bis 1323 unter dänischer Botmäßigkeit gestanden, in diesem Jahre an den Herrn von Mecklenburg, Heinrich den Löwen, als erbliches Lehen überging, und an die Stelle der Anarchie und Bürgerkriege wieder Ruhe, Ordnung und gesetzliche Zustände einkehrten, wird auch die Stellung der Juden vielleicht eine verhältnismäßig bessere geworden sein. Im Jahre 1328, dem Todesjahre des genannten Fürsten, werden die Steuereinnehmer vom Rat autorisiert die renitenten Steuerzahler zu pfänden und für die Pfänder bei den Juden gegen Zins die betreffenden Steuersätze zu erheben.

Unter seinem Sohn Albrecht dem Großen, der die teilweise Tolerierung von Juden in der mit ihm auf gespanntem Fuße stehenden Stadt Wismar durchsetzte, werden gewiss die Bürger seiner „geliebten Stadt“ Rostock, schon ihm zu Liebe, Juden geduldet haben. Und in der Tat ist in einer Aufzeichnung eines Liber proscriptorum (Buch der Geächteten) vom Jahre 1337 von dem Hause des Juden Salomon die Rede, vor welchem eine Mordtat geschehen. Es ist derselbe Salomon, dessen Sohn — wie schon oben mitgeteilt — von seinem Wismarer Glaubensgenossen Danitze eine so derbe Lektion an Arm und Bein erhielt, was den Herzog so sehr aufbrachte, und wo auch die Rostocker Bürgermeister als versöhnende Mittler auftraten. Seine Zeitgenossen in Rostock waren die reichen Bankiers Jacob und dessen Bruder Mossekin, Söhne des früher in Wismar wohnhaften Salomon. Wir haben bereits oben gesehen, dass diese und Salomon aus unbekannten Gründen sich bewogen fanden, (Rostock zu verlassen und in Wismar ein Heim zu gründen, und auch auf Vermittelung des Herzogs Albrecht hin (1341) von der Stadt eine Konzession für einen zwölfjährigen Aufenthalt erhielten.

Wir finden aber Jacob und Mosseke 1346 in Rostock wieder. Von hier aus ist bis zum Jahre 1350 eine große Anzahl von Schuldscheinen datiert, welche der in seinen Vermögensverhältnissen zerrüttete Adel, an dieselben ausstellte. Aus diesen geht auch hervor, dass ein Schwager von ihnen, ein gewisser Isaak, damals in Wismar wohnte.

Mit dem Jahr 1350 verschwindet die letzte Spur auch dieser Paar Juden in Rostock: denn Der schauerliche Wahn der Brunnenvergiftung durch Juden grassierte auch hier, spukte auch in dieser Hansestadt, wie in den Schwesterstädten Wismar, Lübeck, Stralsund und Wisby, in den Köpfen von Rat und Bürger. Dies geht nicht bloß hervor ans dem oben angeführten, vom Rat der Stadt Lübeck an den Herzog von Braunschweig-Lüneburg gerichteten Sendschreiben, in welchem auf der wegen der angeblichen Brunnenvergiftung stattgehabten Konferenz, neben dem Rat von Wismar und Stralsund, auch der von Rostock erscheint, sondern wird noch durch ein spezielles Zirkular dokumentiert, welches der gedachte Rat in dieser Angelegenheit in Umlauf setzte.

Er legt in diesem einen von der einst reichen und mächtigen Hansestadt Wisby, auf der schwedischen Insel Gothland, an ihn gerichteten Brief vor. In diesem weiß der Rat von Wisby, fußend auf Aussagen eines Delinquenten, die schauerlichsten Sachen zu erzählen über die, außer schlechten Christen und verkappten Geistlichen, auch den Juden in die Schuhe geschobene Brunnenvergiftung. Der Rostocker Rat, darauf Bezug nehmend, empfiehlt dies zur Nachachtung und warnt zur größten Vorsicht.*)

*) Anzeiger des Germanischen Museums 1860, Nr. 9, 10; korrekter im Mecklenburger Urkb. Bd. VIII. Vgl. Anhang unter G.

Es unterliegt daher keinem Zweifel dass auch Rostock, dem Beispiel der Schwesterstädte folgend, selbst den spärlichen Rest von Nachkommen Jacobs, dem es innerhalb seiner Mauern, freilich unter dem größten Drucke, Luft zu atmen gegönnt hatte, im Jahre 1350 hinauswies. Es wird wohl schwerlich Blut dabei geflossen sein. Es entbehrt daher die unter den Juden zirkulierende Sage, der zufolge die „Blutstraße“ in Rostock von einem Judengemetzel ihren Namen erhalten haben soll, aller historischen Basis. Bei den blutigen Bürgerkriegen, die in Rostock wüteten, ist die Quelle dieses Namens gar bald gefunden.

Wie Wismar hat auch Rostock seit 1350, über ein halbes Jahrtausend, keine einzige jüdische Familie unter seiner Bevölkerung gezählt. Der Geist moderner Toleranz war auch hier spurlos vorübergegangen. Erst der norddeutsche Bundestag hat auch hier 1867 in dem Freizügigkeitsgesetz den Schlüssel hergegeben, mit welchem Rostocks Tore auch den Juden geöffnet wurden. Während aber Wismar noch immer nur eine handvoll Juden hat, haben sich deren in Rostock bereits einige zwanzig Familien angesiedelt, die sich mit dem Plane herumtragen, eine Synagoge, in größerem Maßstabe zu erbauen.