I. Geburt und Kindheit.

Anhalt-Zerbst. April 1729. Erziehung und Unterricht. Reisen nach Eutin, Hamburg, Braunschweig, Zerbst, Berlin, Urteil der Baronesse von Prinzen.



Kap. I. In gegenwärtiger Zeit findet man nur noch auf ziemlich ausführlichen Karten von Deutschland die kleine Stadt Zerbst angegeben; im vorigen Jahrhundert war sie aber noch die Hauptstadt des Fürstentums von Anhalt-Zerbst und die Residenz des herabgekommenen fürstlichen Geschlechtes, eines der acht Geschlechter, in welche das Haus Anhalt zerfiel. Der letzte Repräsentant des Hauses Anhalt zu Zerbst starb schon im Jahre 1742 und die Ländereien gingen an die Seitenlinie Anhalt-Zerbst-Dornburg über, jedoch nur für kurze Zeit.


Das beinahe 200 Jahre bestehende fürstlich Zerbstsche Geschlecht zeichnete sich in keiner Weise durch etwas Hervorragendes, Bemerkenswertes aus. Alle Repräsentanten desselben führten das gewöhnliche Leben kleiner deutscher Regenten: in der Jugend führten sie Krieg, und zwar immer auf Rechnung eines mächtigeren Staates; in mittleren Jahren verheirateten sie sich mit deutschen Prinzessinnen mittleren Ranges und im Alter ließen sie sich auf dem Zerbstschen Stammschlosse nieder und verzehrten dort in Ruhe die geringen Einkünfte ihres Landes. Die Geschichte nennt keinen einzigen Fürsten von Zerbst, der sich über die Mittelmäßigkeit erhoben hätte, und hat nur das Andenken an die Prinzessin von Zerbst bewahrt, welche Kaiserin von Russland wurde.

Der Vater dieser Prinzessin, Fürst Christian August, von der Seitenlinie Zerbst-Domburg, wurde im Jahre 1690 geboren, trat als Jüngling in die Reihen der preußischen Armee, führte Krieg mit den Niederlanden, mit Italien, mit Pommern und auf der Insel Rügen, kämpfte gegen die Franzosen und Schweden, und war bereits im Jahre 1721 General-Major in preußischen Diensten und Kommandeur des anhalt-zerbstschen Infanterie-Regiments Nr. 8, welches in Stettin im Quartier stand.

Er war schon 37 Jahre alt, als er sich mit der sechzehnjährigen Prinzessin Johanna Elisabeth von Holstein-Gottorp, der jüngsten Schwester des Prinzen Carl August, verheiratete, welcher als Bräutigam der Cesarewna Elisabeth Petrowna in Petersburg starb. Die Prinzessin Johanna Elisabeth war schon Braut, als ihr Vater starb, und die Ehe wurde in Braunschweig, am Hofe des Herzogs August Wilhelm, ihres Onkels und Vormundes, vollzogen. „Kaiserliche Hoheit“ — schrieb der Neuvermählte am 12. November 1727 an den Kaiser Peter II. — „nehmen Sie es bei Ihrer weltberühmten Grossmut nicht schlecht auf, dass ich es wage, Ihnen in demütigem Respecte unterzubreiten, dass ich mich am 8. November, nach vorhergegangenem Verlöbnis, mit der jüngsten Schwester des unlängst in Petersburg verstorbenen Lübeckischen Bischoffs, der Prinzessin Johanna Elisabeth von Holstein-Gottorp im Lust-Schlosse Weeheln in Braunschweig-Wolfenbüttel, verheiratet habe.“

Das neuvermählte Paar ließ sich in Stettin ¹) nieder, wo das Infanterie-Regiment Nr. 8, dessen Kommandeur der Fürst war, stand, und anderthalb Jahre darauf wurde der Fürstin das erste Kind geboren. ²) Der Vater hatte einen Sohn gewünscht, welcher das erlöschende Geschlecht aufrecht erhalten sollte — allein es war eine Tochter.


¹) Noch im vorigen Jahrhundert fand sich in Stettin, bei dem Pastor Steinbrück, dem bekannten Sammler genealogischer Nachrichten, unter seinen Papieren die Aufzeichnung: „Die Prinzessin, nachherige Katharina II. wurde am 2. Mai 1729 in Domburg geboren. Dieses scheint durch den Umstand bestätigt zu sein, dass die Geburt und die Taufe der Prinzessin in keiner der Kirchen Stettins verzeichnet ist.

²) Die Mutter war damals noch nicht 17 Jahre alt; trotzdem war das Gerücht im Umlauf, dass nicht Christian August der Vater des ersten Kindes, der zukünftigen Katharina II, war, sondern J. J. Betzkoi. Zum ersten Male wird dessen erwähnt in der deutschen Übersetzung von Massons „Memoiren,“ wo es heißt: „Die grosse Gunst, in welcher der alte Fürst Betzkoi bei Katharina stand, die Ehrfurcht, welche sie ihm bewies, und die Nachsicht, mit welcher sie sich seinen Grillen unterwarf, waren Ursache, dass man am russischen Hofe einem Gerücht Glauben beimaß, nach welchem dieser Günstling der Vater der Kaiserin war. Mehrere Umstände trugen dazu bei, diese Sage glaublich zu machen. Die Hofleute hatten ausgerechnet, dass Betzkoi, als ein junger, schöner Mann, auf seinen Reisen sich einige Zeit an dem Zerbster Hofe aufgehalten hatte, und dass diese Epoche gerade in das Jahr vor der Geburt Katharinens fiel.“ (Geheime Nachrichten über Russland, Paris 1802, III. 2. T. 171). Der Autor dieser Bemerkung ist nicht bekannt; sie fehlt in der französischen Ausgabe von Massons „Memoiren“. J. J. Betzkoi ist wohl zum Fürsten erhoben, um das Gerücht glaubwürdiger zu machen. Diese Nachricht findet sich viele Jahre später in N. J. Gretsch „Memoiren“, mit einigen Variationen, wiederholt: „Die Matter Katharinens brachte den größten Teil der Zeit unter Vergnügungen und Zerstreuungen aller Art im Auslande zu. Während ihres Aufenthaltes in Paris, machte sie bei der russischen Gesandtschaft die Bekanntschaft eines jungen Menschen, Ivan Ivanowitsch Betzkoi, der schön, klug und gebildet war. Die Gesichtszüge Katharinens waren denen Betzkois sehr ähnlich. Die Kaiserin behandelte ihn wie einen Vater.“ (335.) Worauf sind solche Gerüchte begründet? Die Einen versetzen Betzkoi nach Zerbst zu der Fürstin; die Andern versetzen die Fürstin nach Paris zu Betzkoi! Und es wird dennoch solchen abgeschmackten Gerüchten Glauben geschenkt. In der deutschen Literatur ist die ebenso abgeschmackte Voraussetzung ausgesprochen worden, „dass die Beherrscherin des Knutenstaates nicht, wie alle Welt und sie selbst glaubte, die Tochter des Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst, sondern eine natürliche Tochter Friedrichs des Grossen war.“ Das glaubt und wiederholt jedoch niemand.

Die Geburt einer Prinzessin von Zerbst, Tochter eines preussischen Generals, war kein so ungewöhnliches Ereignis, dass es besondere Aufmerksamkeit erregt hätte; selbst der Vater, der unlängst noch dem russischen Hofe seine Verheiratung angezeigt, hielt es nicht für nötig, demselben diesen Zuwachs seines Hauses zu melden.

Ihre Geburt wurde erst viele Jahre später ein „Ereignis“, als sie Kaiserin von Russland wurde. Dann erst fing man an, sich genauer für die ersten Schritte der Kaiserin zu interessieren. Aber man konnte nirgends etwas darüber erfahren, — ihre Eltern waren schon längst nicht mehr am Leben; man wandte sich also an die Kaiserin selbst. Sie befriedigte ungern diese Neugierde. „In all diesem“ — schrieb Katharina — „sehe ich durchaus gar nichts Interessantes. Oder glauben Sie vielleicht, dass die Örtlichkeit irgend eine Bedeutung hat und Einfluss auf die Geburt tüchtiger Kaiserinnen haben kann?“ Katharina hatte Recht. Durch ihre Geburt und ihre erste Erziehung hat sie die Wahrheit bestätigt, dass grosse Menschen nicht geboren und nicht durch Erziehung vorbereitet werden; sie bilden sich vielmehr durch den ziemlich komplizierten Einfluss der sie umgebenden Verhältnisse, der durchlebten Eindrücke, der aufgenommenen Ideen, durch die Gesamtheit jener schwer zu erfassenden Tatsachen, welche den Charakter und den Willen ausbilden, die Energie stärken und der ganzen Tätigkeit eine bestimmte Richtung geben.

Die reiche Handelsstadt Stettin war erst im Jahre 1720 durch den Stockholmer Vertrag Preussen einverleibt worden; sie hatte daher eine verstärkte Garnison, deren einen Teil das 8. Infanterie-Regiment bildete. Der Regimentskommandeur ließ sich bald nach seiner Hochzeit mit seiner jungen Frau in der Hauptstrasse Stettins, der Domstrasse, Nr. 791 im Hause des Präsidenten der Handelskammer, von Aschersleben, nieder.

In diesem Hause erblickte am 21. April, um 2½ Uhr Nachts, die Prinzessin von Zerbst, spätere Katharina II, das Licht der Welt. Dieses „Ereignis“ wurde in der Folge der Stolz der Stadt Stettin, und ihre Bürger zeigten das Zimmer im zweiten Stock, — das zweite Zimmer links von dem Saale, — in welchem die „große Kaiserin“ geboren worden war. Selbst nachdem das Haus in den Besitz Doktor Lehmanns übergegangen war, hat sich auf der Diele dieses Zimmers ein schwarzer Flecken von der Kohlenpfanne erhalten, an welcher die Prinzessin von Zerbst gewickelt worden war ¹)

Am Abend des 23. April fand die Taufe der Prinzessin statt, bei welcher sie, ihren leiblichen Tanten zu Ehren, die Namen Sophie Auguste Friederike erhielt. Ihr Taufvater war Johann August, der regierende Fürst von Anhalt-Zerbst.

Der Fürst Christian August wurde später Kommandant der Festung und Gouverneur der Stadt und erhielt Wohnung in dem alten Stettiner Schloss, welches mehrere Generationen hindurch die Residenz der Pommerschen Herzöge war. Die fürstliche Familie nahm den linken Flügel des umfangreichen Schlosses, neben der Schlosskirche, ein. Der kleinen Prinzessin, welche von Allen „Fike“ — Abkürzung von Sophie — genannt wurde, wurden mit ihrer Wärterin und Gouvernante drei gewölbte Zimmer eingeräumt; ihr Schlafzimmer lag neben dem Glockenturme. Zwei, drei Mal am Tage lief das Kind zu seiner Mutter, welche die Gemächer am entgegengesetzten Ende des Flügels einnahm.

In diesem Stettiner Schlosse wuchs Katharina auf und wurde unter der Aufsicht ihrer Mutter, einer klugen, energischen und heiteren Frau, erzogen. ²) Wie alle klugen Leute, war die Fürstin Johanna Elisabeth ehrgeizig. Die Mutter hielt Sophie sehr einfach: das kleine Mädchen durfte mit den Kindern der Städter spielen; niemand nannte sie Prinzessin oder auch nur Sophie, sondern nur Fike; auf den Spaziergängen im Stadtgarten verlor sie sich in der Kinderschar, tummelte sich, und lief mit ihren Altersgenossinnen umher.

¹) Dieses Haus gehört jetzt dem Justizrat Dewitz. Vor dem Umbau desselben, im Jahre 1853, wurde durch einen notariellen Akt festgestellt, dass die von dem Kohlenbecken durchgebrannte Diele intakt geblieben war; sie wird bis jetzt den Neugierigen gezeigt. Die Wiege, in welcher das Kind geschlafen hat, wird in Weimar aufbewahrt. Es wird erzählt, dass die brennende Diele selbst die Wiege in Gefahr brachte, in welcher Katharina lag.

²) Katharina selbst machte einen Unterschied zwischen dem Orte ihrer Geburt und dem ihrer Erziehung: „Je suis née in Greifenheims Hause“ — sagt sie in einem Briefe an Grimm, und setzt hinzu: „J'ai demeuré et été élevée dans l`aile du château, lorsqu'on entre dans la grande place du château, à gauche.

Diejenigen Personen, welche als Kind mit ihr gespielt hatten, erinnerten sich freilich, als sie russische Kaiserin geworden war, dass Fike schon bei den damaligen Spielen organisatorisches Talent zeigte, den Ton angab, und Anderen Befehle erteilte; mit den Jahren bemerkten ihre Spielgefährtinnen bei ihr eine Vorliebe für Vergnügungen, welche mehr Knaben, als Mädchen eigen waren, — Fike liebte z. B. Vögel zu schießen.

Die Gräfin Mellin, welche nur wenige Jahre älter als die Prinzessin war, hat uns ein Bild der kleinen Fike hinterlassen, wie sie dieselbe im Stettiner Schloss gesehen. „Sie war vortrefflich gebaut, zeichnete sich schon als Kind durch eine edle Haltung aus, und war groß für ihr Alter. Der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht gerade schön, aber angenehm; ihr offener Blick und ihr liebenswürdiges Lächeln gaben ihrer ganzen Person etwas sehr Anziehendes. Ihre Mutter erzog sie selbst, und zwar sehr streng; sie erlaubte ihr nicht die kleinste Äußerung des Stolzes, wozu das kleine Mädchen sehr geneigt war. Die Mutter ließ sie z. B. den vornehmen Damen, welche das Haus besuchten, das Kleid küssen“.

Zum Glück beschäftigte sich die Mutter mit jedem Jahr weniger mit der Erziehung ihrer ältesten Tochter. Sie hatte außer Fike noch vier andere Kinder, von denen drei schwächlich waren und großer Pflege bedurften; zudem liebte die Mutter, Besuch zu empfangen, Ausfahrten und Zerstreuungen. Sie hatte keine Zeit für die Erziehung ihrer Tochter, welche nur zwei bis dreimal täglich zu ihr kam. Das behütete die kleine Fike vor einigen, sehr wenig anziehenden Eigenschaften: Neid, Hang zur Intrige, Liebhaberei für Klatschereien und sogar Verleumdung — all diese Eigenschaften der Mutter vererbten sich nicht auf ihre Tochter.

Um jene Zeit war in allen bemittelten Häusern, geschweige denn an großen und kleinen Höfen, die Erziehung der Kinder gewöhnlich französischen Emigranten anvertraut, die sich, nach der Aufhebung des Edictes von Nantes, über ganz Deutschland verbreiteten und zugleich mit der französischen Sprache auch feinere Sitten, sanftere Manieren und jene „galanterie française“ verbreiteten, welche bei den Deutschen niemals zu finden war. Das französische Element war auch bei der Erziehung der kleinen Fike vorherrschend. Mademoiselle Cardel, der Hofprediger Pérard und der Kalligraphielehrer Laurent — waren Franzosen; der Tanzlehrer war wahrscheinlich ebenfalls Franzose. Von den Lehrern der Prinzessin sind nur drei Deutsche bekannt: Wagner, der Lehrer der deutschen Sprache, der lutherische Religionslehrer Pastor Dove und der Musiklehrer Kellig aus Zerbst.

Aller dieser Personen, ausgenommen den Prediger Pérard und den Religionslehrer Dove, erinnerte Katharina sich oft, und zwar eher mit Dankbarkeit und Vergnügen, als mit Groll oder Hass; in besonders gutem Andenken lebte ihre Gouvernante, Mademoiselle Cardel, bei ihr. Das war nach dem Zeugnis Katharinens eine lebhafte, kluge Französin. „Sie wusste alles, ohne etwas gelernt zu haben; sie kannte alle Komödien und Tragödien wie ihre 5 Finger und war sehr unterhaltend.“ Sie brachte der Prinzessin Geschmack für die Lektüre von Racine, Corneille und Molière bei, und lehrte sie im Gespräche mit dem Wort ,,monsieur“ nicht geizen — das würde der „Kinnlade keinen Schaden bringen“; sie war es auch, die ihrem Zögling das Misstrauen gegen die Ärzte beibrachte. Bald nach ihrer Ankunft in Petersburg erinnerte sich Katharina ihrer Gouvernante und schickte ihr einen kostbaren Pelz als Geschenk.

In einem ganz anderen Lichte schilderte Katharina den ehrenwerten Wagner: das war ein einfältiger Pedant, der die Prinzessin mit seinen „ennuyeuses Prüfungen“ langweilte; sie erkannte indessen die unwandelbaren Wahrheiten seines Unterrichtes an, und das bewog sie, ihm aus Petersburg 1000 Dukaten zu schicken. Der Schullehrer Laurent war „leer und einfältig, empfing jedoch das Geld für seine Kalligraphiestunden nicht umsonst.“ Ganz ohne Erfolg blieben nur die Musikstunden: trotz aller Bemühungen Kelligs, gewann seine Schülerin die Musik niemals lieb, und gestand ein, dass sie kein Verständnis für deren Zauber hatte.

Ob die Prinzessin von Zerbst noch andere Lehrer gehabt hat, und welche es waren, — ist unbekannt; für jene Zeit indessen sind die angeführten schon vollkommen hinreichend.

Es ist jetzt unmöglich zu sagen, welcher von diesen Lehrern bei der Prinzessin den Geschmack für die Lektüre geweckt hat; sie las schon in jungen Jahren viel und gern. Es ist sehr möglich, dass vor Allem der Mangel an Zerstreuungen, die ihrem Alter eigen sind, die Prinzessin auf das Lesen hinwies. Sie erinnerte sich der Besuche des Schlosspredigers Mockler, als eines besonderen Ereignisses, welches die Einförmigkeit ihres Lebens im Stettiner Schlosse unterbrach. „Dieser Mockler, welcher Mademoiselle Cardel, besonders des Sonntags, besuchte, war der Schwager des Historikers Rapin Toiras, und wenn ich nicht irre, der Herausgeber seiner „Histoire d`Angleterre.“ Er war der Freund und Ratgeber Mademoiselle Cardel. Sein Sohn war Regierungsrat in Stettin. Die ganze Familie war sehr befreundet mit Mademoiselle Cardel und interessierte sich für ihren Zögling.

Der „Zögling“ vergaß auch nicht die Besuche einer sehr alten Verwandten, welche fortwährend Zitate aus Luthers „Tischgesprächen“, die sie sehr liebte, anführte. „Sie führt sie bei jeder Gelegenheit an, ich aber nahm auf meine eigene Weise auf, was mir gelehrt wurde. Das geschah fast täglich Mademoiselle Cardel und Wagner gegenüber. Man weiß nicht immer, was Kinder denken; es ist schwer, sie zu verstehen, besonders wenn eine strenge Erziehung sie an Gehorsam gewöhnt hat und die Erfahrung sie ihren Lehrern gegenüber verschlossen macht.“ Diese Neigung der Prinzessin, das eine zu hören und das andere dabei zu denken, missfiel Mademoiselle Cardel sehr; sie nannte die Prinzessin wegen dieses Mangels an Autoritätsglauben ,,esprit gauche“. Hierin zeigt sich indessen schon in jungen Jahren der selbständige, denkende Geist, der sich kritisch zu allem verhält.

Als ein wichtiges Hilfsmittel der Erziehung erwiesen sich die Reisen in andere Städte. Die Prinzessin war oft mit ihren Eltern, besonders mit ihrer Mutter, in Zerbst, lebte längere Zeit in Hamburg und Braunschweig und besuchte auch Eutin und Berlin. Über diese Reisen und über die Kinderjahre der Prinzessin überhaupt sind gar keine Nachrichten erhalten, weder in dem fürstlichen Anhalt-Zerbstschen, noch in dem Staatsarchive der Anhaltischen Länder, welches unlängst in Zerbst gesammelt worden ist. Sie haben wahrscheinlich gar nicht existiert. Wer sollte sich auch für die Reisen der Frau und der kleinen Tochter eines preussischen Generals, um in anderen Städten Verwandte zu besuchen, interessieren? An dem „winzig-kleinen“ Zerbstschen Hofe kannte man das Journal der Kammerfouriere nicht, und die Zeitungen jener Zeit hielten es für unmöglich, ihren Lesern solche Kleinigkeiten mitzuteilen. Von diesen Reisen wissen wir nur, was Katharina selbst aufgezeichnet hat, und sie erinnerte sich natürlich nur derjenigen Reisen, welche besonderen Eindruck auf sie gemacht und sich deshalb ihrem Gedächtnisse eingeprägt hatten.

So zum Beispiel ist Katharina eine Reise nach Eutin dadurch besonders erinnerlich, weil sie dort zum erstenmal den Holsteinischen Prinzen Peter Ulrich, ihren künftigen Gemahl, den Kaiser Peter III., sah „Ich sah Peter III. zum erstenmal, als er 11 Jahre alt war, in Eutin, bei seinem Vormunde, dem Fürstbischof von Lübeck, einige Monate nach dem Tode seines Vaters, des Herzogs Carl Friedrich.“

„Der Fürstbischof lud im Jahre 1739 alle Glieder der Holsteinischen Familie zu sich ein, um ihnen seinen Zögling vorzustellen. Meine Großmutter, die Mutter des Fürstbischofs und meine Mutter, seine Schwester, kamen mit mir aus Hamburg dorthin. Ich war damals 10 Jahre alt. Dort waren auch der Prinz August und die Prinzessin Anna, Bruder und Schwester des fürstlichen Vormundes und Administrators von Holstein. Hier hörte ich die versammelten Verwandten untereinander davon sprechen, dass der junge Herzog Neigung zum Trunke habe und seine Umgebung ihm nicht erlaubte, sich bei Tisch zu betrinken; dass er eigensinnig und heftig sei; dass er seine Umgebung, besonders Brümmer, nicht liebte; dass er ziemlich lebhaft, aber schwächlich gebaut und kränklich sei. Seine Umgebung wollte ihm das Ansehen eines Erwachsenen geben und zwängte ihn ein, um ihm eine gerade Haltung zu geben; das musste sowohl seinem Charakter als seinem Äußeren eine schiefe Richtung geben.“

Ein Jahr später, im Jahre 1740, war die Prinzessin von Zerbst mit ihrer Mutter bei ihrer Großmutter, der Witwe des Bischofs von Lübeck; dort versorgte der Kammerjunker am bischöflichen Hofe, von Brümmer, die kleine Prinzessin mit Büchern, mit denen Fike sich die Zeit vertrieb. Sie erinnerte sich dieses Besuches bei der Großmutter, „weil der Graf Hallenborg in Hamburg, als er sah wie wenig, oder vielmehr gar nicht, meine Mutter sich mit mir beschäftigte, ihr sagte, sie täte nicht Recht daran, mir nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da ich ein für mein Alter sehr entwickeltes Kind sei.“

In Braunschweig muss die Prinzessin von Zerbst oft gewesen sein, da der Pastor Dove ihr dort Religionsunterricht gegeben hat. „Im Jahre 1742 oder 1743 war ich mit meiner Mutter in Braunschweig, bei der verwitweten Herzogin, welche meine Mutter erzogen hat, zum Besuch. Die Herzogin sowohl als meine Mutter waren aus dem Hause Holstein. Es traf sich, dass zu derselben Zeit der Bischof de Corbai mit einigen seiner Domherren dort war. Unter denselben war einer aus dem Hause Mengden. Dieser beschäftigte sich mit Prophezeiungen und Chiromantie. Als er von meiner Mutter gefragt wurde, ob die Prinzessin Marianne von Bewern, mit welcher ich sehr befreundet war, und die durch ihre Schönheit und ihren Charakter allgemein beliebt war, — nicht dereinst, ihren Verdiensten gemäss, eine Krone tragen würde, — wollte er nichts über dieselbe sagen. Endlich sagte er meiner Mutter: „Auf der Stirne Ihrer Tochter sehe ich Kronen, zum wenigsten 3 Kronen.“ Meine Mutter nahm es als Scherz auf. Allein er sagte ihr, sie möchte durchaus nicht daran zweifeln, und führte sie fort, an das Fenster. Sie hat mir mit dem höchsten Erstaunen erzählt, dass er ihr Wunderdinge mitgeteilt, von denen zu sprechen sie ihm verboten hatte, und dass seine Prophezeiungen bereits anfingen sich zu verwirklichen. Mehr konnte ich nicht von ihr erfahren.“

In Zerbst ist die Prinzessin oft gewesen. Dort ist wahrscheinlich auch im Jahre 1740 von Rosina Lischtschenko das erste Bild von ihr gemalt worden. Obgleich die Unterschrift besagt, dass die Prinzessin „als Kind“ dargestellt sei, so ist das durchaus nicht der Fall, auch scheint sie sehr geschmeichelt zu sein. Die Prinzessin hat gewiss auch den Festlichkeiten in Zerbst beigewohnt, als im Jahr 1748 die Regierung an ihren Onkel Johann Ludwig überging, der ihren Vater, den Fürsten Christian August, zum Mitregenten machte.

Sophie ist auch in Berlin gewesen, wohin ihr Vater oft in Geschäften reisen musste, und wo ihre Mutter gewöhnlich die Weihnachtszeit zubrachte. Dort, in Berlin, hat sie auch Friedrich II. gesehen, aber, wie sie selbst ihm später schrieb, „in einem Alter, wo die Ehrerbietung die Stelle vernünftigen Verständnisses vertritt.“ ¹)

¹) Das beweist natürlich nicht, dass Katharina Friedrich II. gerade in Berlin gesehen. Sie konnte ihm auch in Hamburg oder Braunschweig begegnet sein. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass die Tochter des preussischen Feldmarschalls in Berlin gewesen ist. Ganz unrichtig ist aber die Behauptung, dass Katharina am preussischen Hofe erzogen wurde: Katharina hatte von ihrer Jugend an die tiefste Verehrung für Friedrich II., an dessen Hofe sie erzogen war. (Dohm IV. 259.)

In Berlin ist am Ende des Jahres 1742 oder im Anfange 1743 von dem Hofmaler Paine das Porträt der Prinzessin gemalt worden.

Diese wenigen Reisen ausgenommen, brachte die Prinzessin Sophie alle die Jahre ihrer Kindheit entweder in dem Stammschlosse in Zerbst oder in Stettin, in dem Pommerschen Schlosse in der Festung zu. Eine Überlieferung sagt, dass die Prinzessin im Jahre 1740 auf einem der Festungswälle eine Linde gepflanzt habe, welche später die „Kaiserlinde“ genannt wurde, und deren Geschichte bis auf den heutigen Tag verfolgt werden kann.¹)

¹) Als im Jahre 1840 die Berlin-Stettiner Eisenhahnlinie angelegt wurde, fiel die „hundertjährige“ Kaiserlinde derselben zum Opfer, um diesem lebenden, historischen Denkmal Achtung zu erweisen, ließ die Eisenbahnverwaltung die Linde vor dem Festungswall auf den Platz vor dem Vauxhall versetzen, wo sie jedoch alsbald verdorrte. Im Jahre 1854 bestellte die Eisenbahnverwaltung bei dem Berliner Möbelfabrikanten Wichmann u. A. zwei Tische, von denen der eine der Königin Elisabeth, der andere der Kaiserin Alexandra Feodorowna dargebracht wurde. Dieser Tisch befindet sich wahrscheinlich in einem der Schlösser in Petersburg, wenn nicht in dem Lustschlosse von Tsarskoje Sselo, dem Lieblingsaufenthalt Katharinas II.

Was war nun das Resultat dieser Erziehung im elterlichen Hause? Das ist uns aus Katharinas eigenem Geständnis und aus dem Zeugnis Anderer bekannt. Alle Mängel ihrer ersten Erziehung erkennend, sagt Katharina: „Was war dabei zu tun, Mademoiselle Cardel konnte mich nicht mehr lehren. Sie war eine alte Französin und hat mich hinreichend ausgebildet, um, mit irgend einem unserer Nachbarn verheiratet, zu leben.“ Die Baronesse von Prinzen, das Kammerfräulein der Fürstin Johanna Elisabeth von Zerbst, sagte zu dem Berliner Professor Thiebaud: „Die Prinzessin Sophie ist unter meinen Augen geboren, aufgewachsen und erzogen; ich war Zeugin ihres Schulunterrichtes und ihrer Fortschritte und habe ihr bei der Abreise nach Russland geholfen, ihre Koffer zu packen. Ich genoss in einem Grade ihr Vertrauen, dass ich wohl glauben konnte, sie besser als irgend jemand zu kennen, und dennoch habe ich nicht geahnt, dass es ihr beschieden war, eine so grosse Berühmtheit zu erlangen. In ihrer Jugend bemerkte ich nur an ihr einen ernsten, berechnenden, kalten Verstand, der aber so weit von allem Hervorragenden, Glänzenden, wie von Allem entfernt war, was als Verirrung, wunderliches Wesen und Leichtsinn angesehen wird. Mit einem Worte — ich hatte mir von ihr die Ansicht gebildet, sie sei eine gewöhnliche Erscheinung.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte Katharina II. Band 1 Abteil. 1