Vorwort zur ersten Auflage

Wie der eigentliche Wert und die Bedeutung der als Wissenschaft wiedergeborenen Geographie darin besteht, dass sie die Erde als ein Organ des Menschenlebens kennen lehrt, das die menschliche Wirksamkeit eben so bedingt, wie es von dieser bedingt wird, so besteht der eigentliche geistige Gewinn, den unsere Schüler aus dem geographischen Unterrichte ziehen sollen, darin, dass sie einen Blick bekommen für die Wechselwirkung des Erd- und Menschenlebens und in dieser Anschauung ihr eigenes Weltbewusstsein entwickeln. Dieses Ziel kann aber nur dann erreicht werden, wenn wir die Fundamente des geographischen Lehrganges so anlegen, dass sie alle auf ihre gemeinsame Spitze, die Kulturgeographie, die Richtung bekommen, dass die einzelnen Teile des geographischen Lehrstoffes hierin ihren Mittelpunkt, ihre vereinende und belebende Seele finden. Dies ist nun freilich leicht gesagt, doch schwer zu machen. Die Volksschule und das Jugendalter bis zum 14. Jahre überhaupt bewegt sich auf der psychologischen Stufe der Anschauung, und da ist es unmöglich, die Gesetze der Wechselbeziehung zwischen Natur und Mensch in wissenschaftlicher Allgemeinheit als solche — etwa wie sie Kohl in seinem Buche „Über den Verkehr und die Ansiedelungen der Menschen“ zusammengestellt hat — zum Bewusstsein zu bringen, so gründlich auch zuvor die mathematische, physikalische und was man politische Geographie nennt, die Hilfswissenschaften der Geschichte, Naturkunde usw. absolviert sein mögen. Wir werden so lange vergebens danach ringen, jene oberste Spitze des geographischen Lehrgebäudes zu erreichen, als es an geographischen Charakterbildern fehlt, welche das Menschenleben mit seiner Sitte, Geselligkeit, Religion, Staatsverfassung im Reflex des Grund und Bodens, worauf es erwachsen, des Klimas, worin es sich bewegt, der Tier- und Pflanzenwelt, die es umgibt, vor die Anschauung stellen, und auf konkretem Wege das geographische Gesetz zur Darstellung bringen. Diese „Charakterbilder“ müssen einerseits ganz individuelle, für sich abgerundete Einzelbilder sein, kleine Monographien, und andererseits in einem inneren Zusammenhange zu dem Lehrgange stehen, indem sie die geographischen Hauptexistenzen zum Vorwurf nehmen, typisch in dem Besondern das Allgemeine darstellen, also Gattungsbilder sind. Die menschliche Kultur in der Polar- wie in der tropischen Zone, in ihrem Embryo bei dem Australneger wie auf ihrem Gipfel europäischer Zivilisation, in der nordamerikanischen Ansiedelung und in der englischen Weltstadt usw. prägnant und lebendig zu schildern, das ist ihr Zweck, und sie unterscheiden sich dadurch von den bloßen „Landschaftsbildern“*), die schon in früheren Kursen (bei der sogenannten physikalischen Geographie) herangezogen werden können, dass sie auf jedes Landschaftsbild den Menschen stellen, der im Vordergrund stehend den Hintergrund erklärt und verständlich macht und zugleich von demselben die Beleuchtung und das Relief empfängt. Eben darum aber, weil sie den Menschen und die Natur in ihrer Einheit auffassen, muss Naturkunde und Naturlehre, welche überwiegend auf das Physische den Ton legen und als Elemente der physikalischen Geographie behandelt werden müssen, sowie die Geschichte, welche die Kulturstufen der Menschheit im Nacheinander der Zeit anschaulich macht und überwiegend auf das Ethische den Ton legt, vorhergegangen sein — sie bilden die einzelnen Momente, welche die Kulturgeographie als der letzte Kurs in Eins zusammenfasst. Darum haben die Kulturbilder auch eine tüchtige Vaterlandskunde zur Voraussetzung, und die Zeit wird hoffentlich nicht mehr fern sein, wo ein vaterländisches Lesebuch, wie das von Curtman, in keiner Volksschule fehlen wird.

*) Nur einige wenige sind — zur bessern Beleuchtung ihrer Umgebung — davon mitgeteilt.


Da meine „Charakterbilder“ einen gründlichen geographischen Unterricht fordern und methodisch gewandte Lehrer voraussetzen, so brauche ich wohl kaum bemerklich zu machen, dass nicht mit den komplizierten Kulturverhältnissen Europas der Anfang gemacht werden darf, sondern mit den einfachsten einer Polarszene, einer Wüstennatur, einer Steppe, wo das Wechselverhältnis zwischen Boden, Pflanze, Tier und Mensch leicht in die Augen springt. Wenn ich Verwandtes zusammenstellend doch im Allgemeinen den Rahmen der Erdteile beibehalten habe, so mag man das entschuldigen, da diese Anordnung das Aufsuchen des jedes mal Notwendigen nicht eben erschweren wird. Indem ich viel entschiedener die ästhetische Rücksicht verfolgt habe, als es bisher in ähnlichen Werken geschehen, so habe ich auch überall ein in sich vollendetes abgeschlossenes Gemälde — nicht bloße Exzerpte — aufgestellt. Dabei habe ich aber so viel als möglich die lebendige Schilderung des Reisenden unverändert gelassen, da jede Darstellung um so eingreifender wirkt, als sie von der lebendigen Persönlichkeit getragen wird. Dass ich überall bedeutende Persönlichkeiten herangezogen, solche, die mit wahrhaft historisch-geographischem Sinne geschrieben, und dass ich nur klassische Darstellungen ausgewählt habe, das hielt ich für eine der Hauptrücksichten, die ich bei Entwurf der Arbeit nehmen musste. Dass ich auch aus der fremden Literatur Wertvolles benutzt habe, namentlich aus der englischen und französischen, die an charakteristischen gelungenen Reiseskizzen sehr reich sind, wird man gewiss billigen. Wo mir die Übersetzung nicht genügte, habe ich mit besonderer Rücksicht auf die ästhetische Abrundung von Neuem übersetzt, zugesetzt, weggelassen, anders gruppiert, wie es der Zweck des Buches erheischte. Je weniger dabei meine Arbeit auffällt, desto lieber soll mir es sein.

Man wird vielleicht schon nach zwei Dezennien wunderbar finden, wie es „einst“ möglich war, dass vierzehnjährige Schüler wohl die Namen russischer Flüsse und Provinzen aufzuzählen wussten, aber von der russischen Kirche und dem griechischen Kultus kein Wort gehört hatten, und wie der geographische Unterricht wohl die Namen sämtlicher Residenzstädte auf dem weiten Erdenrund dem Gedächtnis einprägte, aber das Wesen und die Bedeutung auch nicht einer zur Anschauung brachte. Es ist indes hohe Zeit, dass die Errungenschaften, welche die Wissenschaft durch den Genius Karl Ritters gewonnen, auch den niederen Schulkreisen zu Gute kommen. Dies wird mit Erfolg aber erst dann geschehen, wenn wir, über die abstrakte Scheidung des geographischen Lehrstoffes in topische, physikalische und. politische Geographie hinausgehend, die lebendige Einheit der Kulturgeographie zu gewinnen trachten.

In der Hoffnung, mit dieser Arbeit einen nicht unwichtigen Beitrag zu der Methodik des weltkundlichen Unterrichts geliefert zu haben, und im Bewusstsein von der Schwierigkeit einer Aufgabe, die auf einem noch wenig betretenen Felde gelöst werden musste, empfehle ich meine „Charakterbilder“ den Freunden der Geographie zur gütigen Aufnahme, wie den sachverständigen Methodikern zur nachsichtsvollen Beurteilung.
Hard bei Bregenz, im Januar 1850.
A. W Grube.