Die Samojeden. (Der hohe Norden von Dr. Hartwig (Wiesbaden 1858). M. Alex. Castréns Reisen im Norden. Aus dem Schwedischen von H. Holms (Leipzig 1852).

Noch roher, unwissender und in tiefere Barbarei versunken als der Lappe ist fein Vetter und Nachbar, der Samojede; und dieses erklärt sich leicht, wenn man bedenkt, dass er in noch tiefere Einöden sich vergräbt und noch seltener mit gebildeten Völkern in Berührung kommt.

*) Der hohe Norden von Dr. Hartwig (Wiesbaden 1858). M. Alex. Castréns Reisen im Norden. Aus dem Schwedischen von H. Holms (Leipzig 1852).


Seine Wohnsitze sind die wildesten und unzugänglichsten Tundras (Moossteppen) und Wälder Nord-Europas und West-Sibiriens. Er durchwandert mit seinen Rentieren die baumleeren Wüsten von der Ostküste des weißen Meeres bis zu den Ufern der Chatanga, oder jagt in den unermesslichen Wäldern, die sich zwischen dem Ob und Jenisei erstrecken. Ein einsamer Nomade berührt er fast nie die Wohnsitze der Menschen und lernt sie auch dann nur von der schlimmsten Seite kennen — da er auf den Jahrmärkten solcher elenden Orte, wie Obdorsk und Pustosersk, nur zu häufig das Opfer ihres betrügerischen Sinnes wird. Wie sollte es ihm da möglich werden, sich aus den Banden der Finsternis und Wildheit zu befreien?

Zu dem Lappen sind edle Männer gedrungen, ihm die Segnungen des Christentums mitzuteilen. In seinem Lande sind, wenn auch durch weite Strecken von einander getrennt, doch überall Prediger angesiedelt, die durch Wort und Beispiel auf ihn wirken und ihn mit menschenfreundlicher Aufopferung in seinen Wildnissen aufsuchen, um ihn zu belehren und zu trösten — der Samojede ist nicht so glücklich, er hängt großenteils noch an seinem alten Heidentum und seinen falschen Propheten, den Schamanen, schenkt er blinden Glauben.

Diese Zauberkünstler sind über den ganzen hohen Norden der Alten und Neuen Welt verbreitet; der Schamane ersetzt dort den Priester. — Die Samojeden glauben zwar an die Existenz eines höchsten Wesens, den Num oder Jilibeambärtje, d. i. Hüter des Viehstandes, der in der Luft wohnt und von dort aus Donner und Blitz, Regen und Schnee, Wind und Wetter sendet. Sie nennen auch wohl den sichtbaren Himmel „Num,“ und die Sterne sind nur Glieder des Gottes, gleichwie sie sehr poetisch den Regenbogen den Saum seines Mantels nennen. Doch dieser Allgott steht ihnen zu fern und sie wenden sich lieber an ihre Fetische, die sogenannten „Hahe,“ die von Jedermann zu Rate gezogen werden können, während die „Geister“ oder „Tadebtsios“ sich nur den Zauberern oder Schamanen offenbaren. Diese zwingen die launenhaften Geister durch Zauberformeln und machen sie ihren Wünschen gehorsam.

Die meisten samojedischen Idole sind auf der Insel Waigaz zu finden. Das vornehmste Götzenbild ist ein großer Steinblock von menschenähnlicher Form mit spitzzulaufendem Kopf, Niemand weiß, wie dieser Stein dorthin gekommen; nach seinem Muster haben die Samojeden große und kleine Götterbilder aus Stein oder Holz geformt, die sie „Sjadäi“ nennen, d. h. mit menschlichem Antlitz begabt. Sie kleiden diese Götzenbilder in Rentierfelle und putzen sie auch wohl mit allerlei Flitter heraus. Doch es bedarf keineswegs immer der menschlichen Form, um einen Stein oder ein Holzstück zur Ehre des Fetisches zu erheben; es genügt oft schon die seltsame Form. Auf ihren Wanderungen führen die Samojeden ihre Hausgötter in einem besonderen Schlitten mit sich, damit sie, je nach Bedürfnis, ihnen Schutz im neu aufgeschlagenen Zelte, auf der Rentierweide, bei Jagd und Fischfang verleihen.

Die Zauberer, welche mit den neckischen, bösen Luftgeistern, den Tadebtsios, verkehren, heißen Tadiben; ihre Kunst ist in gewissen Familien erblich. Verlangt man ihren Dienst, so legen sie ihre höchst auffallende Kleidung an: ein Hemde von Sämischleder, Samburtsja genannt, mit einem Saum von rotem Tuch; auch die Nähte sind mit rotem Tuch geziert und rote Epaulets schmücken die Schultern. Über die Augen und das ganze Gesicht hängt ein Tuchlappen herab; denn nicht mit dem Auge, sondern mit dem inneren Blick dringt der Tadibe in die Geheimnisse der Geisterwelt. Der Kopf bleibt unbedeckt; nur der als Schleier dienende Tuchlappen wird durch zwei schmale, rote Tuchstreifen festgehalten, von denen der eine über den Scheitel, der andere um den Nacken geht. Über der Brust trägt der Tadibe eine Eisenplatte. Der Haupttadibe nimmt die Trommel, die mit Messingringen, Zinnplättchen und Tierschwänzen herausgeputzt ist, zur Hand; mit ihren Tönen weckt er die Geister aus ihrem Schlaf und holt sie aus ihrer Verborgenheit. Dann singt er einige einladende Worte*) in einer mystischen, schrecklichen Melodie. Sein Gehilfe stimmt ein und beide wiederholen singend dieselben Worte, jede Silbe lang dehnend. Der Meister, welcher anfangs die Trommel mit Heftigkeit geschlagen, lässt plötzlich nach, um den Worten der schon herbeifliegenden Tadebtsios zu lauschen; sein Jünger singt aber immerfort, was der Meister zuletzt gesagt hatte. Nachdem dieser sein stummes Gespräch mit de n Geistern geendet hat, brechen beide Tadiben aus in ein wildes Geheul, die Trommelschläge erschallen im forte und der Orakelspruch ertönt.

Wenn ein Kranker die Hilfe des Tadiben in Anspruch nimmt, so beginnt dieser — mag die Krankheit auch noch so gefährlich sein — die Kur keineswegs sogleich, sondern er wartet bis zur „ersten Morgenröte.“ Ist alsdann noch keine Besserung eingetreten, so erklärt der Tadibe, klug genug, dem Kranken sei nicht zu helfen, und macht gar keine Versuche zur Heilung. Sollte sich aber der Kranke in der verflossenen Zeit wirklich

*) Ist ein Rentier verloren gegangen, so ist das Gespräch etwa folgendes:
Kommet, kommet,
Zaubergeister!
Wenn Ihr nicht kommet,
Komme ich zu Euch.
Wachet, wachet,
Zaubergeister!
Ich bin gekommen,
Erwacht aus dem Schlaf!
Der Tadebtsio antwortet:
Sag' an, welchen Auftrag hast Du?
Weshalb kamst Du, die Ruh' uns zu stören?
Der Tadibe:
Zu mir eben
Kam ein Njenets (Samojede),
Heftig dieser
Mensch mich plaget;
Fort ist ihm sein Rentier,
Deshalb bin ich
Zu Euch gekommen.


gebessert haben, so stellt der Tadibe mit ihm ein Examen an; er fragt ihn zuerst, ob er nicht wisse, wer ihm die Krankheit angetan habe, ob er nicht mit Diesem und Jenem Zank und Schlägerei gehabt u. dergl. Kann der Kranke keine Auskunft geben, so werden die Tadebtsios gefragt und diese allenfalls durch Trommeln und Geheul gezwungen, für die Heilung Sorge zu tragen und der Person, welche an der Erkrankung Schuld ist, das gleiche Übel anzutun. Ist aber der allmächtige Jilibeambärtje selber die veranlassende Ursache der Krankheit, so kann Niemand gegen dessen Willen etwas unternehmen. Von eigentlichen Heilmitteln ist keine Rede, und nur die „Brennkur“ ist auch bei den Samojeden beliebt. Sie trocknen ein Stück Birkenschwamm, schneiden aus diesem kleinere Stücke heraus, zünden sie an und legen sie auf die schmerzhafte Stelle. Wenn der brennende Schwamm vom Körper hinwegspringt, nennen sie es ein gutes Zeichen; die Schmerzen sind dann zugleich mit fortgesprungen.

Wer Tadibe werden will, muss einen starken Körper und auch ein Talent dazu haben; die künstliche Aufregung, in welche sich der Zauberer hineinarbeitet, strengt die Nerven an und es erfolgt dann eine große Abspannung. Zu berühmten Schamanen begeben sich junge Leute in die Lehre; sie müssen durch Fasten und Einsamkeit sich vorbereiten und werden dann von ihren Meistern so lange bearbeitet, bis ihnen die Tadebtsios erscheinen. Wie alle Geisterseher sind sie halb Betrüger, halb Betrogene, die an ihre eigenen Phantasiebilder zuletzt glauben.

Ein christlicher Samojede machte dem Reisenden Castrén die vertrauliche Mitteilung, er sei in seinem 15. Jahre zu Tadiben in die Lehre gegeben worden und zwar weil mehrere ausgezeichnete Schamanen in seiner Familie gewesen waren. Zwei Tadiben sollten seine Lehrmeister sein. Sie banden ihm ein Tuch vor die Augen, gaben ihm eine Trommel in die Hand und ließen ihn darauf los schlagen. Zugleich schlug ihm einer der Tadiben mit der Hand oben auf den Kopf und der andere auf den Rücken. Dies ward eine Weile fortgesetzt und sieh! nun ward es Licht vor den Augen des Lehrlings. Eine zahlreiche Schar von Tadebtsios zeigte sich dem Knaben, es war ihm, als tanzten sie auf seinen Händen und Füßen umher. Der Lehrling erschrak, lies davon und ließ sich sofort vom Priester taufen. Darauf, behauptete er, habe er keine Tadebtsios mehr gesehen.

Die Samojeden haben, gleich den Ostjaken und anderen sibirischen Völkerschaften, die Sitte, das Andenken an ihre Verstorbenen durch Opfer und andere Zeremonien zu ehren. Sie glauben nämlich, dass der Hingeschiedene, wenn auch gehörig bestattet, noch dieselben Bedürfnisse habe und denselben Beschäftigungen obliege wie bei Lebzeiten. Deshalb legt man teils in, teils neben sein Grab einen Schlitten, einen Speer, errichtet einen Herd, stellt einen Kochtopf, Messer, Beil, Feuerzeug und andere Gerätschaften auf, damit er sich Nahrung verschaffen und seine Mahlzeit sich bereiten möge. Sowohl bei dem Leichenbegängnis, als auch einige Jahre nachher werden an seinem Grabe von den Verwandten Rentiere geopfert. Stirbt eine höher geachtete Person, ein Starschina, der Besitzer von großen Rentierherden, so verfertigen seine nächsten Anverwandten ein Bild, welches im Zelte des Verstorbenen aufbewahrt wird und dieselbe Ehre genießt, die man dem Manne bei seinen Lebzeiten erwies. Bei jeder Mahlzeit wird das Bild hervorgeholt, jeden Abend wird es ausgezogen und zu Bett gebracht, jeden Morgen wieder angezogen und auf den Platz des Verstorbenen gestellt. Drei Jahre lang verehrt man das Bild in solcher Weise, dann senkt man es ins Grab. Man glaubt, dass unterdessen auch der Leib vermodert sei und damit hätte auch die Unsterblichkeit ein Ende. Nur die Schamanen und die eines gewaltsamen Todes Gestorbenen genießen das Vorrecht, nach dem Tode als unvergängliche Geister in der Luft zu schweben. Trotzdem und trotz der reichlichen Bissen, die ihnen bei jedem Opferschmaus zu Teil werden, sind die Schamanen doch höchst unglückliche Leute; der aufgeregte Zustand, in den sie sich häufig versetzen, zerrüttet ihre Nerven und umdüstert ihre Seele. Ihr blasses Antlitz, ihre matten Augen, ihr scheuer Blick, ihr unsicherer Gang zeugen von den Dämonen, welche ihr Inneres zerreißen.

Als eine Handlung von der höchsten religiösen Bedeutung betrachten die Samojeden wie auch die Ostjaken den Eid. Ist gegen einen Samojeden im Geheimen ein Verbrechen verübt worden und hat dieser Jemand im verdacht, so kann er ihn zum Eid fordern. Ist kein hölzerner oder steinerner „Hahe“ (Long bei den Ostjaken) bei der Hand, so formt er sich einen aus Erde oder Schnee, führt seinen Widersacher an das Bild, schlachtet einen Hund, zerstört das Bild und redet den Verdächtigen mit folgenden schrecklichen Worten an: „Hast du den Diebstahl begangen, so musst du verrecken wie dieser Hund!“ Die Eidesleistung soll bei den Samojeden so gefürchtet sein, dass der wirkliche Verbrecher es fast niemals zum Schlachten des Hundes kommen lässt, sondern lieber das Verbrechen gleich gesteht.

Der fürchterlichste Eid jedoch wird auf die Schnauze eines Bären geleistet, den alle sibirischen Völkerschaften von den Kamtschadalen bis zu den Samojeden als einen mächtigen Gott verehren.

Der Bär ist im Grunde kein Tier, sondern verbirgt unter seiner zottigen Kleidung eine menschliche Gestalt samt göttlicher Kraft und Weisheit. Der Ostjak macht ihn außerdem noch zum Wächter der gesamten niederen Geisterwelt. Vom Bären wird natürlich immer nur mit heiliger Verehrung gesprochen; man nennt ihn nicht anders als das „schöne Tier“, „den Nagelgreis“, „den Pelzvater“, und wenn man ihn auch bei Gelegenheit mit einem Pfeil oder einer Büchsenkugel begrüßt, so werden ihm dabei so viele Komplimente gemacht, dass er es unmöglich übel nehmen kann.

Wild und finster wie die Tundra und der Urwald, in dem er mit seinen Rentieren umherschweift, ist auch das Äußere des Samojeden. Er ist klein von Statur, sein Kopf hat breite Wangen, dicke Lippen, kleine Augen, eine niedrige Stirn, platte Nase mit großen Nasenflügeln, schwarzes borstiges Haar; sein Gesicht hat dunkle Farbe, der Bart ist dünn. Von seinem Rentierpelz, in welchem er schwerfällig einhergeht, verlangt er nur Schutz gegen Kälte und Regen, um den Schnitt kümmert er sich nicht, und nur einzelne Aristokraten, wie es deren auch unter den Samojeden gibt, tragen mit Tuch überzogene und bunt verbrämte Pelze. Das schöne Geschlecht, so lange es noch nicht unter das Joch der Ehe geraten, weiß freilich auch hier sein Äußeres durch Putz zu heben. Die kurze Jacke von Rentierfell schließt eng an den Oberkörper, erweitert sich aber unten und endigt an den Knien mit einer Verbrämung aus Hundefell. Die Strümpfe von Rentierhaut sind bunt. Die doppelten, mit Band zusammengeflochtenen und mit Flitter bedeckten Haarflechten reichen zuweilen bis an die Fersen. Denkt man sich zu diesem Staat ein kleines rundes Gesicht, volle rosenrote Wangen, eine weiße Stirn, schwarze Locken und kleine muntere Augen, so hat man das Bild einer geputzten famojedischen Schönheit, wie ein feuriger Anbeter sie gern mit einer ganzen Herde von Rentieren bezahlt. Bei den Samojeden denkt nämlich kein Vater daran, seiner Tochter eine Aussteuer mitzugeben; er erwartet vielmehr von ihrem Freier einen Ersatz für das Mädchen, eine Entschädigung für die Dienste, die er nun verlieren soll.

Wenn ein Samojede sich verheiraten will, so sucht er zuerst einen Fürsprecher aufzufinden und begibt sich mit diesem nach der Wohnung der Eltern seiner Auserkorenen. Er geht aber nicht hinein, sondern verweilt vor der Hütte, an seinem Schlitten, bis der Fürsprecher seinen Auftrag ausgerichtet hat. Bringt dieser verneinende Antwort, so kehrt man sofort zurück; im anderen Falle wird weiter über den Preis der Braut verhandelt, und hat man sich geeinigt, dann betritt auch der Bräutigam das Zelt, besucht jedoch nach der Verlobung seine Braut nicht weiter. Kurz vor der Hochzeit begeben sich die Anverwandten der Braut zum Bräutigam, der sie gut bewirtet; dann schirrt der Fürsprecher vier Rentiere hinter einander an, hängt ein Glöckchen an ihren Hals, bedeckt die zwei Vordersten mit einem roten Tuche und fährt mit ihnen drei Mal um das Zeit des Bräutigams. Desgleichen wird auch das Zelt der Braut drei Mal umfahren und auch dort ein Schmaus gehalten, nach dessen Beendigung erst der Bräutigam eintreten darf. Es wird nun tüchtig Branntwein getrunken, gekochtes Rentierfleisch herumgereicht und dem Bräutigam das Herz des Tieres gegeben. Dann hört jede Zeremonie auf; jeder trinkt so viel Branntwein, als er vermag, und die Betrunkenen taumeln nicht selten im Schnee umher und erfrieren. Der Bräutigam bleibt bis zum nächsten Morgen im Hochzeitszelt; sodann besteigt die Braut den Schlitten, und ihre Rentiere werden von der Mutter des Bräutigams gelenkt, welche drei Mal um dessen Zelt herumfährt. Dort wird abermals geschmaust, man singt, zankt und schlägt sich.

Castrén wohnte einer samojedischen Hochzeit bei und berichtet darüber: „Bei unserer Ankunft im Hochzeitszelte lagen einige von den Hochzeitsgästen schon ohnmächtig auf dem Felde. Sie lagen dort mit entblößtem Haupte, die Köpfe tief in den Schnee gedrückt und die Gesichter vom Winde mit Schnee bedeckt. Doch sieh'! dort kommt ein Ehemann, tappt von einer Leiche zur andern, erkennt endlich seine Frau, ergreift sie an dem Zopfe, wendet sie mit dem Rücken gegen den Wind und wirft sich endlich neben sie hin. Dort läuft ein anderer mit der Kaffeekanne umher, sucht seine Geliebte, findet sie und gießt ihr etwas Branntwein in den Hals. Hier stößt Jemand auf seinen Feind, versetzt ihm einige hinterlistige Schläge und entfernt sich. — Wir traten ins Zelt, wo nebeneinander Männer, Weiber, Kinder, Greise und junge Mädchen lagen und saßen. Unter den ganz Berauschten war auch der Bräutigam. Ich nahm Platz und trank nun mit dem Wirt und dem Fürsprecher Tee. Nur mit vieler Mühe gelang es mir, den Wirt zu bewegen, dass er auch meine Begleiterin, die Frau Pastorin, einlud, in unsern Kreis zu treten.

„Nach dem Tee befahl der Wirth, ein Rentier zu schlachten. Ein leiser Schlag mit dem Beil gegen die Stirn warf das Tier zu Boden. Hierauf stach man ihm ein Messer ins Herz und nahm die Luftröhre heraus. Um diese entstand aber ein gewaltiger Kampf unter den Anwesenden, der endlich dahin geschlichtet wurde, dass die nächsten Anverwandten des Brautpaars sie unter sich teilen und auf der Stelle verzehren sollten. Dem Rentier wurde die Haut abgezogen, der Bauch aufgeschnitten, das Ungenießbare weggeworfen und das Tier auf den Rücken gelegt. Es bot den Anblick eines großen ovalen Gesäßes dar, in solchem die Lunge, Leber und andere Leckerbissen in einer ansehnlichen Blutmasse umherschwammen. Der Wirt ergriff meine Hand, führte mich an das Rentier heran und bat mich, die Mahlzeit zu beginnen. So deutlich er diesen Wunsch aussprach, so war ich doch einfältig genug, ihn nicht zu begreifen, und blieb somit ganz und gar untätig vor dem Schlachtopfer stehen. Unterdessen versammelten sich die Hochzeitsgäste um das Tier, zogen ihre langen Messer hervor und schnitten sich Stücke des warmen rauchenden Fleisches ab, tauchten sie dann ins Blut, führten sie mit der einen Hand an den Mund, kauten, indem sie das Gesicht nach oben kehrten, und schnitten während des Kauens einen Teil des Fleischstückes ab. Das abgeschnittene Stück wurde wieder in Blut getaucht und in den Mund gesteckt. Das Blut lief an den Mundwinkeln und am Halse herab! Lunge und Leber wurden als Nachkost verspeist. Während dieser widrigen Mahlzeit sangen die Mädchen samojedische Lieder, ihrem Inhalt nah schön, aber zu einer Melodie, die fast dem Quaken der Frösche glich. Der Gesang und das Mahl wurden durch einen tragischen Auftritt unterbrechen. Ein Samojede mit einem sehr spitzigen Gesicht guckte durch die Tür des Zeltes herein und bat mit kreischender Stimme, an der Hochzeitsfreude Teil nehmen zu dürfen. Einige der Gäste hießen ihn eintreten und er kam sogleich der Aufforderung nach. Dies geschah jedoch ohne Wissen des Wirtes. Als dieser den ungebetenen Gast gewahrte, befahl er, ihn herauszuwerfen. Mehrere bereitwillige Hände beeilten sich, dem Befehle zu gehorchen, andere wiederum erhoben sich, den Gast zu verteidigen. Der Wirt und der Fürsprecher packten einander an, und ich wurde jämmerlich zwischen ihnen eingezwängt. Im Zelte entstand ein großer Tumult, man schrie, fluchte und schlug um sich; Kessel, Kaffeekannen, Fleischtöpfe und andere Gesäße wurden umgeworfen und flogen hin und her. Die Geschichte endete damit, dass der Samojede hinausgeworfen wurde — Gegen Abend nahm die Kampflust zu. Wohin man schaute, sah man Menschen, die einander zu Leibe gingen. Das struppige schwarze Kopfhaar war gewöhnlich dem ersten Angriff ausgesetzt, hernach schlug man sich mit den Fäusten, und nicht selten griff man zu einem Knochen oder anderen Überbleibseln der Mahlzeit. Der Kampf begann ohne alle Veranlassung. Wenn zwei Personen sich begegneten, lagen sie sich auch sofort in den Haaren, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Hier wurde Pardon weder verlangt, noch gegeben, jeder schlug um sich und wehrte sich nach Kräften. Der Besiegte blieb gewöhnlich auf dem Schnee liegen und der Sieger schritt weiter, um neue Heldentaten zu vollbringen. — Dieses Schauspiels überdrüssig, begaben wir uns beim Einbruch der Finsternis auf die Rückfahrt.“

Durch solche Szenen könnte man sich leicht veranlasst fühlen, den Samojeden für einen viel wilderen, unbändigeren Gesellen zu halten, als er wirklich ist. Gutmütigkeit, Melancholie, Phlegma bilden den Grundton seines Charakters. Er hat zwar wenig Begriffe von Recht und Unrecht, Gut und Böse, dagegen ist er bereit, den letzten Bissen mit seinem Freunde zu teilen, und sein hilfreicher Sinn offenbart sich unter Anderem auch darin, dass er, wie der Lappe, seine armen Anverwandten aufnimmt und pflegt. Grausamkeit, Rachsucht, Mordlust, die dunkleren Laster, die so manches Volk der tropischen Zone beflecken, bleiben ihm fremd. In stetem Kampfe mit einem fürchterlichen Klima, ein Opfer der Unwissenheit und der Armut muss er zwar auf viele uns unentbehrliche Genüsse verzichten. Dagegen besitzt er den Vorteil, die meisten Dinge des Lebens mit der vollständigsten Gleichgültigkeit betrachten zu können. Eine gute Mahlzeit geht ihm natürlich über Alles, doch wenn seine Bequemlichkeit ins Spiel kommt, kann er auch der Ruhe zu lieb hungern und dursten. Nur selten flammt sein Gemüt in wilder Leidenschaft auf und erinnert an die Gluten der südlicheren Sonne, die einst seine Vorväter beschien.

Ein gemeinsamer Zug im Charakter aller Samojeden ist eine finstere Anschauung des Lebens und seiner Verhältnisse. Ganz wie die Außenwelt trägt auch ihre Innenwelt die Farbe der Nacht. Wahre Eis- und Schneemenschen leben sie in negativer Ruhe dahin und verlassen ohne Überwindung und Reue ein Leben, das sie kaum lieben können, da es ihnen der Entbehrungen viele, der Genüsse und Freuden nur wenige darbot. Sie sind misstrauisch und verschlossen wie alle Völker, die von weltklügeren und tatkräftigeren Nachbarn viel zu leiden haben. Ihren alten Gewohnheiten hartnäckig ergeben, sträuben sie sich gegen alle Neuerungen, wodurch ihr Loos verbessert werden könnte, und nur die große Lehrmeisterin, die Not, vermag sie zum Besseren zu wenden.

So z. B. raste auf der Timanschen Tundra während der Jahre 1831 und 1833 eine Seuche, die ungefähr 20.000 Rentiere tötete und die Bewohner in Armut stürzte. Der größte Teil der dortigen Samojeden selbst kam durch die Seuche um, weil sie das Fleisch der hingerafften Rentiere verzehrten. Nach dieser Prüfung sind die Samojeden der Timanschen Tundra ein frommes und sanftmütiges Volk geworden und haben sich in großer Anzahl dem Christentum zugewendet. Zwar schauen auch sie das Leben in finstrer Färbung an, aber die wilde Leidenschaft hat aufgehört. Ihr Herz ist weich, ihr Gemüt sanft, der Kummer wohnt in der Tiefe.

Nach Köppen beträgt die Zahl der Samojeden in Europa 4.500 Individuen beiderlei Geschlechts, und im Gouvernement Tobolsk 5.054. Bulgarin schätzt die asiatischen Samojeden auf 70.000; da aber Köppen für ganz Westsibirien nur 66.684 Eingeborne beiderlei Geschlechts rechnet, den welchen die Ostjaken wenigstens die Hälfte ausmachen, so ist die Angabe Bulgarins jedenfalls viel zu hoch.