Die Ostjaken von Obdorsk

Ganz wie die Samojeden zerfallen auch die Ostjaken in eine Menge Stämme und Geschlechter, oder richtiger Gemeinden, die familienweise zusammenhalten. Die Ostjaken, welche in dem Marktflecken Obdorsk zusammenkommen, zeigen eine entschiedene Verwandtschaft mit Finnen und Magyaren; sie haben bisher dem Bekehrungseifer der russischen Priesterschaft hartnäckig widerstanden und erhalten ihre alte patriarchalische Verfassung aufrecht. Jedes Geschlecht besteht aus einer Anzahl Familien, die sich als näher oder ferner verwandt betrachten. Gewöhnlich halten alle zu Einem Geschlecht gehörigen Familien, selbst während des Nomadisierens, eng aneinander, und es ist hergebrachte Sitte, dass in einer solchen Gemeinde der Reichere mit dem Armen seine Glücksgüter teilt. Da aber die Ostjaken im Ganzen ein armes Volk sind, das von der Hand in den Mund lebt, so besteht die Hilfe, welche einer dem anderen gewähren kann, nur darin, dass er die Beute des Tages brüderlich mit ihm teilt.

Die Ostjaken von Obdorsk teilen sich in Fischer und Rentierjäger. Die ersteren halten sich an den Flüssen, namentlich am Ob und Nadim auf; die letzteren nomadisieren einen Teil des Jahres auf den Tundras und leben in stetem Verkehr mit den Samojeden. Die Zahl derjenigen Ostjaken, die sich ausschließlich mit der Rentierzucht beschäftigen, ist sehr gering. Der größte Teil ernährt sich vom Fischfang, und hält nebenbei sich einige Rentiere. Die, welche sich des Besitzes dieses unschätzbaren Tieres erfreuen, richten im Sommer zwei Wirtschaften ein, von denen die eine sich bei der Fischerei aufhält, die andere aber den Rentieren auf ihren Irrfahrten folgt. Es liegt in der Natur des Rentieres, dass es sich während der wärmeren Jahreszeit nach den Meeresgegenden hinzieht, weil es mit seinem dicken Pelze einer kühleren Atmosphäre bedarf und außerdem dort weniger von den Mücken geplagt wird, welche gerade in der Zeit, wo die Haare wechseln, für das Tier eine große Qual sind. Die Ostjaken treiben, wie die Samojeden, an der Meeresküste Fischfang, toten Seehunde, Walrosse, weiße Bären. Doch gehen die wenigsten bis ans Eismeer; die andern bleiben auf den nördlichsten Tundren. Die letzteren ziehen sich, sobald die Luft kühler wird und die Mücken verschwinden, nach den Waldgegenden am östlichen Ural, wo sie Füchse jagen. Mit der ersten Spur des Winters brechen auch die am Meer nomadisierenden Ostjaken und Samojeden nach den Waldgegenden auf, hauptsächlich um Schutz gegen die entsetzlichen Stürme zu suchen. Die Reise geht in kurzen Tagereisen vor sich, man macht oft Halt, um zu jagen. Jedes Geschlecht hält sich zusammen und zieht mit seinem Fürsten oder Ältesten an der Spitze weiter. Gegen Ende des Dezembers treffen alle diese nomadisierenden Scharen auf dem Markte zu Obdorsk ein. Von Amtswegen müssen sämtliche Fürsten und Ältesten dort anwesend sein, weil es ihnen obliegt, jeder in seinem Geschlecht die Steuern einzutreiben und Sorge zu tragen, dass alle die Arten von Tierfellen, welche man als Steuer festgesetzt hat, in voller Anzahl eingehen. Die Steuer besteht in zwei grauen Felsenfuchsfellen für jede Mannsperson, doch kann statt dessen auch anderes Pelzwerk geliefert werden.


Mit der Ankunft der Ostjaken beginnt ein neues Leben in der kleinen Stadt Obdorsk. Täglich strömen neue Scharen dieser schwerbepelzten Söhne und Töchter der Tundra in den Ort, schreiten langsam durch die Straßen und schauen die hohen Häuser an. Man sieht es ihnen gar nicht an, dass sie gekommen sind, um zu kaufen und zu verkaufen, denn sie bringen ihre Ware nicht auf den Markt. Aber unter ihren weiten Pelzen haben sie die schwarzen und blauen Fuchsfelle und andere Pelzkostbarkeiten verborgen. Die Käufer schleichen sich mit ihnen zu irgend einem guten Freunde, lassen sie von diesem gut bewirten und schließen dann in aller Stille den Handel ab. Der Wilde sieht wohl ein, dass er durch diese geheimnisvolle Art des Handels verliert, aber sein zaghaftes Gemüt scheut die öffentliche Versteigerung, und dann steht es selten in seinem freien Willen, seine Ware an den Meistbietenden zu verkaufen. Unter den Tausenden von Eingebornen, die sich jährlich aus weit entlegenen Gegenden auf dem Markte von Obdorsk einfinden, sind nur Wenige, die sich bei den Bürgern, Kaufleuten oder Kosaken mit größeren Summen verbucht ständen, als sie besitzen. Sollten sie sich nun erdreisten, sich mit ihren Waren an einen Andern als an ihren Gläubiger zu wenden, so würde dieser sich nicht scheuen, Besitz von dem ganzen Eigentum des Wilden zu nehmen und ihn selbst obendrein zu seinem Sklaven zu machen.

In noch schlimmerer Lage sind die armen ostjakischen Fischer am Ob. Den Stör und die verschiedenen Lachsarten wagen sie nicht zu genießen, denn diese bilden die Handelsartikel; dagegen verzehren sie samt ihren Hunden den Hecht, Barsch, Kaulbarsch, die Plötze — Fische, die nicht wandern. Nicht selten fühlt der Barsch, wenn er kaum aus dem Wasser gezogen ist, schon die Zähne seines Fängers. Denn für einen hungrigen ostjakischen Magen würde das Kochen noch zu lange dauern.

Im Frühjahr, wenn der Ob und seine Nebenflüsse ihre Eisbanden sprengen und die Ufer weit überfluten, ist zunächst noch gar nicht ans Fischen zu denken. Ist das Wasser ungewöhnlich hoch, so sehen sich viele Familien gezwungen, ihre Wohnstätte zu verlassen und in öde Wälder zu flüchten, wo nur wenige Hasen ihnen eine spärliche Nahrung gewähren — und während dieser ganzen Hungerzeit wimmeln die Gewässer von Fischen.

Endlich erheben sich die niedrigen Sandufer über die Wasserfläche, und nun errichtet der Ostjake seine Sommer-Jurte in der Nähe des in sein Bett zurückgezogenen Flusses. Sie hat gewöhnlich eine viereckige Form, niedrige Wände und ein hohes, spitziges Dach, dessen Gerippe aus Weidenstämmen besteht, über welches mit biegsamen Weidenreisern Borkenscheiben angebunden sind. Diese werden erst durch Kochen erweicht und in die Form gewöhnlicher Teppiche zusammengenäht, so dass man sie leicht zusammenrollen und transportieren kann. Die Feuerstätte, eine mit Steinen umgebene Grube, liegt in der Mitte, und der Rauch geht durch ein Loch im Dach. Um die meisten Jurten trifft man außerdem noch kleine Verwahrungshäuser von Balken gezimmert und auf hohen Pfählen aufgestellt, wie in Lappland; denn es gilt, die Vorräte gegen den Vielfraß, den Wolf und die eigenen Hunde zu sichern.

Obgleich der Ob und seine Nebenflüsse — der Irtysch, der Wach, der Wasjugan — den Ostjaken ihre Gaben in reichlichem Maße spenden, so sind doch diejenigen unter ihnen, welche bloß vom Fischfang leben, in die größte Armut versunken, die meist mit Faulheit, Trunksucht und sittlicher Verderbnis vereinigt ist. Die pfiffigen, russischen Kolonisten haben sie ganz in ihre Gewalt bekommen, indem sie ihnen die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse auf Kredit geben und somit ihre Schuldenlast von Jahr zu Jahr steigern, da die Arbeitskraft der Verschuldeten durchaus nicht zunimmt. Für ein Quantum Roggenmehl verpflichtet sich der Ostjake dem russischen Kaufmann, im folgenden Jahre so und so viel Fische zu liefern. Den ganzen Sommer treiben sich diese russischen Spekulanten aus Obdorsk, Beresow und Tobolsk in ihren Lodjen auf dem Ob umher, eignen sich den Fang der Ostjaken zu und salzen selbst die erhaltenen Störe und Lachse ein, welche sie bis auf Weiteres in ihren, an den Ufern des Flusses erbauten Magazinen aufbewahren. Bei Eintritt des Herbstes kehren sie, nachdem sie das mitgebrachte Mehl mit großem Nutzen verkauft haben, reich mit Fischen beladen wieder heim. Andere treiben selbst Fischfang im Ob, und zwar mit besserem Erfolg als die Ostjaken, weil sie über weit größere Gerätschaften und mehr Leute verfügen können. Den Ostjaken ist zwar von der Regierung alles Land am untern Ob und Irtysch zuerkannt worden, aber die Russen wissen ihnen doch die besten Stellen abzupachten; hier wie überall zieht Unwissenheit und Dummheit den Kürzeren.

Nachdem die Russen den Ob verlassen, fahren die Ostjaken noch mit ihrem Sommerfischfang fort. Einen Teil der erbeuteten Fische setzen sie in Landseen oder Teiche, von wo sie später mit Netzen herausgeholt und dem Frost ausgesetzt werden. Bei der Ankunft des Winters stellen sich wiederum Russen ein, um die gefrorenen Fische einzukaufen, von welchen jedoch auch ein Teil von den Ostjaken selbst auf den Markt zu Obdorsk gebracht wird.

Ehe der kalte Frost am Ob entschieden die Oberhand gewinnt, ist Wetter und Gegend fürchterlich. Der Regen gießt in Strömen, die Winde des Eismeers heulen mit dem Wolf um die Wette, nächtliche Nebel umhüllen die Luft, Regenbäche brausen auf dem erweichten Boden. Dann gibt es Nächte, von welchen die sibirischen Wilden erzählen, dass die Verstorbenen in ihren Gräbern keine Ruhe finden, und wo die blutdürstigen Geister der Schamanen um die Lager der Menschen schweben, Verderben sinnend.

Der Ostjake muss seine lustige Sommerwohnung verlassen, er zieht sich in die Wälder zurück, wo zugleich die Jagd der Pelztiere anlockt. Doch er braucht auch im Winter Nahrung, und von Zobeln und Eichhörnchen kann er keine Mahlzeiten halten. Darum wählt er zu seinem Wohnsitz gewöhnlich einen höheren, vor Überschwemmungen geschützten Ort in der Nähe eines kleinen Nebenflusses, wo er unter dem Eise mit Reusen, Netzen und Angelhaken seine dürftige Nahrung erbeutet.

Die Winterjurte ist von einer etwas festeren Bauart, als die Sommerwohnung, da sie nicht wie diese mit jedem Jahre neu entsteht und vergeht; doch ist sie immer noch elend genug. Man denke sich eine kleine, sehr niedrige Erdhütte mit einem offenen, aus Lehm gemachten Herd im Winkel. Als Fenster dient ein Loch in der Wand oder im Dache, das mit einem Eisstück den Winter über geschlossen wird. In den besseren Jurten ist der Raum längs einer oder mehrerer Wände mit geflochtenen Rohrmatten behangen und dort ist die Schlafstätte. Zuweilen findet man vor dem Eingange in die Jurte eine kleine Vorhalle, die zur Aufbewahrung von Kleidungsstücken und Hausgerät dient.

Jedes Geschlecht besitzt seit uralten Zeiten seine eigenen Götterbilder, die oft in einer besonderen Jurte aufbewahrt werden und von sämtlichen, zu dem Geschlecht gehörenden Gliedern durch Opfer und andere Zeremonien verehrt werden. Diese Götter-Jurten stehen unter der Aufsicht eines Schamanen, der ein hohes Ansehen genießt. Außerdem hat mancher Ostjake noch seine besonderen Schutzgötter, deren Bilder ihn auf seinen Wanderungen begleiten. Sie werden, wie bei den Samojeden, in besonderen Schlitten verwahrt und sind mit Ostjakenanzügen bekleidet, mit rochen Bändern und anderem Schmuck geziert. Will man sie günstig stimmen, so bedenkt man sie mit einem Opfer; dies besteht darin, dass man ihre Lippen mit Fischtran oder dem Blut des zu ihrer Ehre geschlachteten Tieres bestreicht und ihnen eine Schüssel mit Fischen oder Fleisch vorsetzt.