Flüsse und Wasserfälle

Von allen Gegensätzen, welche Norwegen zu andern Gebirgsgegenden darbietet, ist wohl die Häufigkeit fließender Gewässer das Überraschendste. Flüsse von hellem und funkelndem Grün brausen in den Tälern nach allen Seiten hin. Das Wasser stürzt über Felsklippen häufig in einem einzigen Strahl hinab, zuweilen und dann noch mehr Wirkung hervorbringend, hüpft es in einer Reihe einzelner Fälle, während es sich mehr und mehr ausbreitet, je tiefer es kommt, indem es für lange Zeit die Einbildungskraft fesselt, welche versucht, den sich mehr und mehr verästelnden und teilenden Wasserstrahlen zu folgen. Der dadurch verursachte Ton ist weniger ein Murmeln als ein Rauschen und Brausen, so zerteilt sind die Ströme und so zahlreich die mit Schaum bespritzten Felsabhänge, von einer üppigen Vegetation von Erlen und Birken überwölbt, welche keineswegs durch den heftigen Luftzug zurückgedrängt wird, der höhere Wasserfälle stets begleitet. Es spannen sich auch wohl einzelne Fäden schneeweißen Wassers an einem jähen Abhang von 2.000 Fuß Höhe vom Fjelde bis zum tiefen Tale. Sie sehen so dünn aus, dass man sich wundert, wie sie in dem weiten Raume die Gleichförmigkeit und reine Weiße behalten können. Das Wasser zerteilt sich eben so wenig in der Luft, als es unter Felstrümmern verschwindet. Naht man sich aber diesen scheinbaren Fäden, so erstaunt man über ihren Umfang und ihre Masse, welche gewöhnlich so bedeutend ist, dass man unterhalb des Wasserfalles nicht von einem Ufer zum andern gelangen kann.

Der Ursprung solcher Wassermenge erklärt sich aus der eigentümlichen Bildung der Oberfläche des norwegischen Gebirgslandes. Die Berge bilden weite, flache Plateaux; die Täler sind tief und entfernt von einander gelegen. Die Oberfläche der ersteren nimmt den Regen auf und sammelt ihn, worauf er in den schmalen Kanälen der letzteren abfließt. Da sich die Täler selten in Zweige teilen, sondern gewöhnlich Einer Richtung folgen, und da sie ferner von den Fjelden gänzlich durch steile und jähe Felswände getrennt sind, so folgt daraus, dass der einzige Fluss, welcher durch solche Täler strömt, das Wasser weiter Flächen in sich sammelt und hauptsächlich von Bächen genährt wird, welche einen langen Lauf über die Fjelde machen und sich zuletzt in Form von Wasserfällen zu jenem in das tiefe Tal hinabstürzen. Das System lässt sich in einfacher Weise vergleichen mit dem Dach der Häuser einer altmodischen Stadt, welches das Regenwasser in Rinnen sammelt, woraus es durch eine lange nach der Straße hin vorstehende Röhre auf diese hinabstürzt.


Doch ist noch ein anderer Grund der überraschenden Wassermenge zu beachten. Der Regenfall ist über einen großen Flächenraum Norwegens bedeutend, wenn nicht geradezu übermäßig zu nennen. Auch ist er ohne Zweifel auf den Fjelden noch stärker, als in den Tälern des Innern. Die Oberfläche der Hochebenen ist während zwei Drittel des Jahres mehr oder weniger mit Schnee bedeckt. Während dieses Zeitraums sind die Flüsse in vielen Fällen fast trocken, die Wasserfälle verschwunden. Die bedeutenden Schneeanhäufungen des Herbstes, Winters und Frühjahres werden durch die anhaltende Wärme der langen Sommertage getaut. Nur zu dieser Zeit werden die inneren Teile Norwegens besucht und wir haben dann die großen Wassermassen gerade in dieser kurzen Zeit vor Augen. Ohne Zweifel sind in den Alpen ähnliche Ursachen wirksam, jedoch die verhältnismäßige Seltenheit von Wasserfällen erklärt sich dort durch den vollständigen Mangel an Hochebenen und den Charakter der Täler, welche bis ins Unendliche verzweigt sind. In den Pyrenäen, welche mehr durch Gebirgsrücken oder Ketten charakterisiert sind, kommen Wasserfälle zwar zahlreicher vor, jedoch sind sie weit weniger imposant als in Norwegen.