1. Abschnitt. - Es hat nicht an Geschichtsschreibern gefehlt, welche den Wiener Kongress vom politischen Standpunkte aus betrachtet; ...

Es hat nicht an Geschichtsschreibern gefehlt, welche den Wiener Kongress vom politischen Standpunkte aus betrachtet; gewiegte Publizisten haben auf geistvolle Weise die Verhandlungen desselben, die dabei begangenen Fehler und Versäumnisse durchsprochen. Aber keiner von ihnen hat neben dem staatlichen Interesse auch auf die unterhaltende Seite, auf die, ich möchte sagen, häuslichen, innersten Beziehungen dieser denkwürdigen Versammlung Rücksicht nehmen zu müssen geglaubt.

Ohne Zweifel befürchtete man, daß die Kleinlichkeit der Einzelheiten dem Gesamteindrucke des großartigen Gemäldes schaden würde, deshalb begnügte man sich, die Resultate darzulegen und einer Beurteilung zu unterwerfen, ohne die verschiedenen so lebendigen Szenen zu schildern, bei welchen diese Resultate herbeigeführt wurden. Dennoch hat es ein eigenes Interesse, auch in das Privatleben der einzelnen Persönlichkeiten einzudringen, welche berufen waren, über die Zukunft Europas zu entscheiden.


Zum ersten Male sah man damals die Beherrscher der Welt, selbst staunend, mit ihresgleichen vertraulich umgehen und willig die Bürde der Etikette abwerfen: zum ersten Male empfanden die Ordner der Weltreiche die Freuden ungezwungenen Genusses untereinander, während erfahrene Staatsmänner für sie die Dornen der Geschäfte beseitigten. Verschlossene, bisher unergründliche Charaktere zeigten sich häufig offen und in dieser Vermischung aller Stände, jeden Ranges mit dem andern, verrieten sich die flüchtigsten Schattierungen der Gemüter und ließen sich, von dem Wirbel der Vergnügungen wie betäubt, fixieren.

Niemals sind ohne Zweifel wichtigere und verwickeltere Fragen inmitten so vieler Festlichkeiten verhandelt worden. Auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, auf einem Diner eine Schadloshaltung bewilligt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen, und bisweilen brachte ein Bonmot, ein glücklicher Einfall einen Traktat zustande, den zahlreiche Konferenzen und geschäftiger Briefwechsel nur mit Mühe zum Abschluss hätte bringen können. Auf die Trockenheit, die Zäheit der Diskussionen folgte wie durch Zauber bei allen Verhandlungen die höflichste Form und jene Pünktlichkeit, welche noch eine wichtigere Höflichkeit ist, aber leider so häufig vernachlässigt wird. Die außerordentlichen Kuriere durcheilten in einigen Minuten den Raum, welcher ein Kabinett von dem andern trennte, und brachten, der langsamen deutschen Geschäftsgewohnheit zum Trotze, auf entscheidende Fragen die abschließenden Antworten zurück.

Der Kongress hatte den Charakter einer großen Festlichkeit zu Ehren des allgemeinen Friedens angenommen. Das zu Wien in der Person seiner Souveräne versammelte Europa, sich durch das Organ ihrer berühmtesten Ratgeber aussprechend, diese Versammlung von Königen, Ministern, Generalen, die ein Vierteljahrhundert hindurch die Schauspieler des großen Dramas gewesen waren, das die Welt dargeboten hatte, dies ganze in seiner Art einzige Schauspiel wies darauf hin, daß man da sei, um sich mit dem Geschicke der Nationen zu beschäftigen. Von der Gewichtigkeit der Umstände überwältigt, konnte sich der Geist von Zeit zu Zeit der ernstesten Gedanken nicht erwehren; aber sogleich wurde dieser Eindruck durch die allgemeine Freude der Lustbarkeiten auf verführerische Weise zerstreut. Da sah man nicht mehr jene Nichtigkeiten, die man sonst als Pflichten bezeichnet hatte, keine leeren Formen, die sonst zur Wohlanständigkeit gerechnet wurden; nicht mehr jene umständliche Feierlichkeit, welche alle Zeit wegnimmt und dem Vergnügen nur einige Minuten übrig lässt: das Vergnügen allein riß alles mit sich fort. Auch die Liebe fand ihren Platz in diesem Rate der Könige: sie verlieh den Gastereien mehr Ergötzlichkeit, den Festen mehr Wonnetaumel und verlängerte den Zustand von Hingebung, die fast unbegreifliche Sorglosigkeit in dem Augenblicke, wo die ungeheueren Umwälzungen noch ihre frischen Spuren zeigten, am Vorabend des Donnerschlages, der bald ein seltsames Erwachen herbeiführen sollte. Die Völker selbst vergaßen, daß, wenn ihre Herrscher sich vergnügten, sie die Kosten dieser königlichen Lustbarkeiten tragen müßten, und wussten ihnen sogar Dank für diese Schwächen, weil durch dieselben sie ihnen näher zu stehen schienen. Alle Welt, mit einem Worte, schien in dem Zustande eines Mannes zu sein, der von einem angenehmen Traume umgaukelt, das Ende desselben ahnt und die Leere, die armselige Wirklichkeit des Erwachens hinausschieben will.

Aber der Mann der großen Katastrophen war nicht fern; ohne Zweifel erstaunt genug darüber, daß man es wagte, in Waffenruhe der Vernunft das Wort zu gönnen und andere Traktate abzuschließen, als er seit zwanzig Jahren mit dem Schwerte ratifiziert, erhob sich Napoleon, um alles noch einmal zu entzünden, alle diese Träume jählings zu unterbrechen und diesen Szenen des Wonnetaumels, dem die Abwechslung doch am Ende nicht den Überdruss der Übersättigung ersparen konnte, einen ganz anderen Anblick zu geben 1).

Ich habe mich stets gewundert, daß kein Zeuge dieser so große Kontraste darbietenden Szenen den Versuch gemacht hat, einige Episoden daraus zu schildern. Aber der größere Teil war zum Kongresse gekommen, um wichtige Sachen durchzuarbeiten, und wurde dann in dem doppelten Strudel von Arbeit und Vergnügen fortgerissen; anderen wieder raubte der ununterbrochene Wechsel von Festlichkeiten die Kraft, ihre Erinnerungen festzuhalten. Später, als alles wieder in das Geleise zurückgekehrt war, als der Vulkan ruhte, hätte mancher vielleicht gern getan, was ich jetzt versuche, aber ohne Zweifel mußte die nur flüchtige Erinnerung seiner Eindrücke ihn entmutigen, so wie der Gedanke, daß ein solches Gemälde nur anziehend sein könne, wenn jeder Zug darin treu sei. In glücklicherer Lage, von allen Beschäftigungen frei, war ich imstande, auf dem Schauplatze der Begebenheiten nach der Heimkehr von den Festen einige Einzelheiten zu notieren, einige Erinnerungen festzuhalten mit leichten flüchtigen Strichen, wie ein Reisender in der Eile die Skizze einer Gegend hinwirft, die seinem Auge wohltut. Jetzt nun biete ich diese Erinnerungen meinen Freunden dar, in deren Mitte ich damals so herrliche Augenblicke verlebte; denn es war gleichsam auch noch ein Vorrecht jenes Kongresses, daß in diesem Leben der Lust und des Glückes die Freundschaft neue Kräfte zu gewinnen schien; eine einfache Verbindung wurde sehr bald zu einer vertraulichen, dauerhaften Neigung, denn man nähert sich einander leicht, wenn man glücklich ist. Für diese Freunde insbesonders und unter dem Schutze ihrer Freundschaft veröffentliche ich diese Skizzen, ein Tagebuch, das keine Ansprüche macht, und auf jene so voll, so fröhlich dahin geflossenen Tage, die wir zusammen verlebt, einen letzten Widerschein zu werfen sucht.

Der Kongress war schon seit mehreren Monaten angesagt, aber noch nicht eröffnet 2); doch hatten bereits die Festlichkeiten begonnen, als ich in Wien in den letzten Tagen des Septembers 1814 ankam. Man hatte gesagt, daß die Konferenzen im Grunde nur von kurzer Dauer sein würden. Aber die Geschäfte, wie die einen behaupteten, die Vergnügungen, nach der anderen Meinung, und wahrscheinlicherweise beides vereint gebot es anders. Mehrere Wochen, mehrere Monate verflossen, ohne daß man daran dachte, die Konferenzen aufzuheben. Wie Bruder mit dem Bruder verhandelnd, ganz so wie es einst Katharina die Große gewünscht hatte, ordneten die Souveräne freundschaftlich und ohne sich zu übereilen die Interessen ihres Hauswesens; man hätte sagen mögen, sie wollten den philosophischen Traum des Abbé Bernardin de St. Pierre verwirklichen.




1) Man weiß, daß die ersten Worte, welche Napoleon 1815 beim Betreten des französischen Bodens sprach, waren: „Der Kongress ist aufgelöst.“ (Note d. Verf.)

2) Die eigentliche Eröffnung erfolgte am 3. November.