Völker-Nationalität

Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, so der Fortschritt der Völker zur Kultur.

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Einer Nation auf den ganz ungeänderten Stamm ihrer Empfindungen eine neue Lehre und Denkart aufzwingen wollen, ohne dass sich jene mit dieser im mindesten mische, ist meistens unnütz, oft auch schädlich. Die Denkart eines Volks ist die Blüte seiner Empfindungsweise; in diese muss man einfließen oder jene ist welkend. Einem wilden Volke plötzlich das Resultat der feinsten Abstraktionen aufbürden, wozu es weder Kopf noch Herz, weder Analogie von Lebensart noch Sprache hat, wird allemal ein wunderbarer Mischmasch. Was ward Aristoteles in den Händen der Araber? Was ist das Papsttum in Sina worden? Jener ein Muselmann, dieses ein lebendiger Konfuzianismus.

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Lustbarkeiten zeigen am meisten die Sitten des Volks ; zu Bildung und Missbildung derselben tragen sie viel bei; weder unsittliche also noch unverständige sollte eine vernünftige Menschengesellschaft dulden. Das einzige Theater erforderte hier eine lange Rede, der ungeheuren Macht wegen, mit der es wirkt. Die Griechen, wenigstens anfangs, wussten, wozu sie ihre Stücke schrieben und gaben; wie wenige es seitdem gewusst haben mögen, seitdem man sich an allem, am Übertriebenen und Schlüpfrigen sonderlich, nur amüsieret, ist eine andere Frage, Vollends die Gesellschaftstheater, und dass man in der Gesellschaft fast von nichts anderem, als vom Theater zu sprechen weiß, oder zu sprechen waget letzteres zeigt entweder einen so gebundenen, oder so hohlen und leeren Sinn, dass man oft fragen möchte: ,,Ist denn die Welt, ist unser Leben diese Bretterbude?“ — Und wie spricht man darüber?

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Wenn Leibnitz den menschlichen Witz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt, als in Spielen, wahrlich, so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer, als in den Naturgesängen wilder Völker. Sie öffnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unserer künstlichen Welt schließen und mauern es zu.

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Jede vermehrte sittliche Aufklärung erleichtert den bürgerlichen Regierungen die Sorge für die öffentliche Glückseligkeit.

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Das menschliche Geschlecht ist zu einem Fortgange von Szenen, von Bildung, von Sitten bestimmt: wehe dem Menschen, dem die Szene missfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll! Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem seine Szene die einzige ist, und der die erste immer auch als die schlechteste verkennt I Wenn alle mit zum ganzen fortgehenden Schauspiele gehören, so zeigt sich in jeder eine neue sehr merkwürdige Seite der Menschheit.

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Heute und hierin hat dieser, gestern und darin hat jenes Volk, jene Sprache triumphiert. Wer sich an eine Zeit, gehöre sie Frankreich oder Griechenland zu, sklavisch schließt, das Zeitmäßige ihrer Formen für ewig hält und sich aus seiner lebendigen Natur in jene Scherbengestalt hineinwähnet, dem bleibt jene unerreichbare lebendige Idee fern und fremde, das Ideal, das über alle Völker und Zeiten reichet.

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Die Vorsehung selbst ist die beste Bekehrerinder Völker, sie ändert Zeiten, Denkarten, Sitten, wie sie Himmel und Erde, Kreise von Empfindungen und Umständen ändert. Man vergleiche Deutschland mit dem, was es zu Karls des Großen oder Hermanns Zeiten war. Würden diese es erkennen, wenn sie wieder erschienen? Die größte Veränderung in der Welt ist ,,dieser Fort- und Umlauf im Reiche der Geister nach veränderten Empfindungen, Bedürfnissen und Situationen“. Die Geschichte der Völker forschet ihm nach, wer weiß aber bei den verwickelten Gängen des Schicksals Zweck und Ziel?

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Es gibt Zeiten des Schlafes, Zeiten des Aufwachens der Nationen; beide wechseln miteinander, wie Tag und Nacht; beide sind aufhaltbar, doch am Ende kaum hintertreiblich.

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Wie weit schreitet der Geist der Europäer vorwärts! wie fern zurück bleibt ihre Handlungsweise! Ein böser Genius hat sie erfasst, indem sie andern Völkern Verderben bringen, sich selbst Verderben zu bereiten; stehet ein guter Genius hinter ihm, der unsichtbar dies Gift in Arznei umwandelt? Kein Zweifel; nur Generationen gehen darüber zu Grunde.

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Was diese Nation ihrem Gedankenkreise unentbehrlich hält, daran hat jene nie gedacht.

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Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen, so wie den Geburtsund Adelstolzen für den größten Narren.

Was ist Nation? Ein großer ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern, so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen? und wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andere Nationen den Speer brechen? Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut; sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung.